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AUFWACHEN

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Ich öffne die Augen und da ist die Wand.

Nein, das stimmt nicht ganz.

Ich öffne die Augen, und da sind die Wand, der Schrank, der Nachttisch, die Lampe, die Taschentücher, das Bettzeug, der Geruch, die Person neben mir, das Geräusch des Weckers. Vielfalt. Ich kann nicht eine Sache ohne die anderen haben.

Aber das stimmt auch nicht ganz.

Ich öffne die Augen, und da sind ein Teil des Schranks – die mir zugewandte Seite, die eine glänzend graue Holzoberfläche hat – und drum herum ein paar Wandflächen mit einer silbergrauen Tapete, die in der Nähe des Nachttisches einige Flecken aufweist, Teespritzer vielleicht. Das Bettzeug ist im Augenwinkel sichtbar, vielmehr Teile des Bettzeugs, aber auch fühlbar; die Decke besitzt ein gewisses Gewicht, oder vielmehr eine Masse, die ich dank der Schwerkraft als Gewicht wahrnehme. Ich erkenne die Person neben mir an ihrer Wärme und dem Atmen, aber ich habe sie noch nicht gesehen. Außerdem ist da ein Fenster, obwohl sich das ganz sicher hinter mir befindet. Dennoch bin ich mir dieses Fensters bewusst, oder glaube es zumindest, ohne es zu sehen oder zu berühren. Ich meine, ich weiß, dass es da ist. Ich glaube es zu wissen. Es muss das Licht vom Fenster sein, das ich auf dem Schrank und an der Wand sehe. Was sonst?

Ich schließe die Augen. Jetzt tritt der Geruch in den Vordergrund. Wonach riecht es? Nach mir, meiner Partnerin, dem Zimmer, dem Bettzeug, dem Teppich. Der Geruch ist warm. Oder der Atem, der den Geruch erzeugt, ist warm. Oder mein Körper. Ich habe ein starkes Empfinden meines Körpers, das ich überhaupt nicht beschreiben kann. Mit geschlossenen Augen warte ich auf das erneute Klingeln des Weckers, und es ist nicht richtig dunkel, aber auch nicht richtig hell. Eher eine Art Erwartung von Dunkelheit oder Helligkeit, wenn ich die Augen öffne. Im Moment gibt es nichts, was ich sehe. Dennoch sehe ich nicht nichts. Vielleicht sehe ich die Innenseiten meiner Augenlider.

Sind die in meinem Kopf oder außerhalb?

Meine Partnerin sagt mit schläfriger Stimme: »Amore.« Und sie fragt: »Ist dir kalt?« Ich sage, nein, mir ist nicht kalt. Eher warm. Ihr sei kalt, sagt sie.

Ich spüre den Zug der Bettdecke auf meinem Körper. Das ergibt Sinn: Partnerin zieht an der Bettdecke. Sie hat ein Problem mit Bettdecken. Bewusstheit der Geschichte von mir und meiner Partnerin. Witze über die Bettdecke. Ich könnte etwas sagen, unterlasse es aber.

Plötzlich laufe ich auf einer Straße am Waldrand entlang. Ich wende mich zur Seite, um zwischen den Bäumen weiterzugehen, und sehe weiter unten in einem seichten Tal einen kleinen Fluss; scheint ein guter Platz zum Baden zu sein …

Der Wecker klingelt noch einmal. Er ist auf Zehn-Minuten-Intervalle eingestellt. Ich muss eingeschlafen sein. Das war also ein Traum, und dies ist die Wirklichkeit. Der Wald, der Fluss. Im Traum wusste ich nicht, dass es ein Traum ist, und ich hätte auch nicht sagen können, was vor dem Wald und dem Fluss kam; ich hatte keine Erinnerung an das Schlafzimmer und den Wecker; im Traum war ich tatsächlich in jenem Moment, aber jetzt, wieder hier im Schlafzimmer mit dem klingelnden Wecker, habe ich eine Erinnerung an den Wald und den Fluss, oder einfach eine Wahrnehmung davon, und es gibt eine Art Kontinuität, eine Art Ich-Instanz, die beides verbindet. In der einen Situation kann ich die beiden Erfahrungen vergleichen, in der anderen aber nicht. Weiß ich deshalb, dass dies die Wirklichkeit und das andere ein Traum ist?

Jedenfalls habe ich das Gefühl, es zu wissen.

Wieder öffne ich die Augen und sehe ein Ganzes, das aus Teilen all der verschiedenen Dinge besteht, die ich sehe, von denen ich aber keins ganz sehe. Ich meine, ich sehe Teile des Schranks, und ich könnte versuchen, mir den ganzen Schrank als etwas vorzustellen, um das man zum Beispiel in einer Ausstellungshalle von IKEA herumgeht, oder ich kann mir ein zweidimensionales Foto oder eine Zeichnung des Schranks vorstellen, so aufgenommen beziehungsweise dargestellt, dass es dreidimensional wirkt – ich könnte so etwas sogar selbst zeichnen, wenn ich es mir recht überlege –, aber gleichzeitig gibt es große Teile des Schranks, die ich nie sehen werde, etwa die Rückseite, die der Wand zugewandt ist, oder die Unterseite, die auf dem Boden steht. Wenn ich also sage, ich sehe den Schrank, dann meine ich damit, ich sehe den Teil von ihm, der sich in meinem Blickfeld befindet und nicht vom Bettzeug verdeckt wird. Und wenn ich all diese Wörter benutze, Bettzeug, Schrank, Wand, Lampe, dann meine ich, ich sehe nur den Teil von ihnen, den ich sehe, obwohl das jeweilige Wort sich auf das ganze Ding zu beziehen scheint, auf die Idee des ganzen Dings. Vielleicht sind Wörter platonisch. Sie erlauben Platonismus. Wort »Schrank« = Idee des Schranks, nicht der Teil des Schranks, den ich tatsächlich sehe.

Sprache ist knifflig.

Ich schließe die Augen, aber es gelingt mir nicht, das Bild eines kompletten platonischen Schranks, oder absoluten Schranks, ohne jeglichen Kontakt zu Wänden oder Fußböden heraufzubeschwören. Das alles kommt mir ziemlich anstrengend vor.

Der Wecker klingelt noch einmal. Diese zehn Minuten sind schneller vergangen als die ersten.

Hat das Sinn?

Beim Klingeln des Weckers gehen meine Augen automatisch auf. Ich scheine gar keine andere Wahl zu haben, als sie zu öffnen. Es muss der berühmte bedingte Reflex sein. Beim Aufwachen öffnet man die Augen und damit hat sich’s. Wieder sehe ich Teile von allen möglichen Dingen – vielmehr die Teile dieser Dinge, die mir zugewandt sind –, und jetzt wird mir klar, dass es zwischen diesen Teilen keine Lücken gibt. Ich meine, es kämen vermutlich jede Menge Dinge zusammen, die ich (teilweise) sehe, wenn ich mir die Mühe machte, sie aufzulisten – Lichtschalter Lampenschirm Bild Socke (eine) Taschentücher (viele) Teppich Fußboden Buch Armbanduhr Schranktürscharnier –, aber obwohl ich diese Dinge als voneinander getrennt wahrnehme, existieren zwischen ihnen keine Lücken, so wie sie zwischen den Wörtern, die diese Dinge bezeichnen, existieren, selbst wenn ich beim Auflisten die Kommas weglasse. Die Teile im Zimmer, die ich sehe, gehen direkt über in die anderen Teile, die ich sehe. Die Welt hat keine (für mich sichtbaren) leeren Stellen. Nicht mal Trennlinien, wie ein Puzzle. Auch nicht an den Rändern. Sie ist nahtlos.

In allen Richtungen, wenn ich den Kopf wende oder die Augen bewege, setzt sich die Welt also fort und wird sich fortsetzen, wo ich auch hingehe, ohne jede Lücke. Und die Grenze an der Peripherie meines Blickfelds ist nicht scharf, wie bei einer Kameraaufnahme, aber als Fade-out kann man sie auch nicht bezeichnen. Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll. Es gibt dafür keine Analogie. Sie ist so, wie wir sie kennen. Im Zentrum ist die Schärfe ausgeprägt, dort sind die Dinge, die ich aktiv anschaue, und dann nehme ich noch eine Peripherie wahr, die scharf gestellt werden könnte, wenn ich es wollte. Aber im Augenblick ist sie nicht scharf gestellt. Es gibt keinen Rand, weder einen harten noch einen verschwommenen, aber doch eine Art Nichts um das Etwas herum, auf dem meine Aufmerksamkeit liegt, aus dem seinerseits ein Etwas werden könnte, während das jetzige Etwas zum Nichts würde, sobald ich mich woanders hinwende. Ich spüre ein andauerndes Potenzial, wie eine Einladung, mich zu bewegen und die Dinge, die ich sehe, zu verändern, eins gegen das andere auszutauschen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit nur selten längere Zeit auf ein und dieselbe Stelle.

»Wann müssen wir aufstehen?«, fragt meine Partnerin.

»Wir können noch auf das nächste Klingeln warten.«

Unsere Hände berühren sich jetzt. Ich spüre ihre Finger. Sie hat gesagt, ihr sei kalt, und mir ist warm, aber in der Berührung fühlt sich ihre Hand wärmer an als meine. Es ist ein Vergnügen, sie zu berühren.

Vergnügen.

Ich schließe die Augen und versuche, mich an weitere Momente des Traums zu erinnern, im Wald, am Fluss. Da ist etwas, an das ich mich erinnern sollte, denke ich; etwas sagt mir, dass dieser Traum länger war und mehr enthielt als nur die Straße, den Wald, den Fluss.

Aber wie kann mir etwas etwas sagen, wenn das alles nur ich bin? Sagen wir mal, ich habe das Gefühl, an diesem Traum ist mehr dran als das, was mir unmittelbar eingefallen ist. Die Straße stieg beim Gehen leicht an – eine dunkle asphaltierte Straße –, und der Wald lag zu meiner Linken, als ich mich ihm zuwandte, hineinlief und zwischen den Baumstämmen den grauen Erdboden sah, der sanft nach unten zum Fluss hin abfiel. Da war noch mehr. Der Fluss war flach. Das Wasser war klar. Deshalb dachte ich, es wäre schön, darin zu baden. Ich versuche, mich darauf zu konzentrieren oder Nachdruck darauf zu legen, was immer man eben macht, um sich zu erinnern, aber das erzeugt ein unangenehmes Gefühl in meinem Kopf. Es erfordert eine Anstrengung, gegen die sich irgendetwas in mir wehrt. Ich spüre eine Spannung. Zwischen Teilen von mir.

Lass gut sein.

Das Zimmer ist jetzt, da meine Augen geschlossen sind, nicht da, aber der Wald und der Fluss auch nicht. Die Gerüche und die Wärme sind natürlich noch da, und auch die Gegenwart meines eigenen Körpers – all das kann ich nicht so leicht ausblenden –, es sind die gleichen Gerüche, die auch bei geöffneten Augen da waren, auch das Spüren des Bettzeugs und das Vergnügen der Berührung ihrer Hand sind gleich – ich habe die Hand nicht gesehen, aber ich könnte sie nicht fälschlicherweise für etwas anderes halten als eine Hand – und das Gewahrsein meiner Partnerin, die da sein muss, denn sonst wäre die Hand nicht da, und ihre Stimme. Außerdem entfernte Verkehrsgeräusche.

Ist die Straße draußen nass? Ich bin mir nicht sicher.

Mit geschlossenen Augen ist das Zimmer nicht da, aber ich weiß, dass ich es gerade gesehen habe, und vor Kurzem auch den Wald und den kleinen Fluss. Zu sagen, ich weiß, dass ich das Zimmer gerade gesehen habe, ist nicht das Gleiche wie zu sagen, ich erinnere mich an das Zimmer. Wo genau ist zum Beispiel diese Socke? Eine blaue oder eine braune Socke? Weiß nicht. Ich erinnere mich an die Socke, aber nicht an ihre Farbe. Genau genommen erinnere ich mich nicht mal an die Farbe des Teppichs, obwohl ich weiß, dass dieses Zimmer Teppichboden hat.

Hat also meine Erfahrung des Zimmers denselben Stellenwert wie meine Erfahrung des Waldes und des Flusses? Ich bin mir nicht sicher. Ich bin mir nicht sicher, was Stellenwert genau bedeutet. War sie genauso real? Meine ich das? Alles ist real, während es geschieht, oder? Sonst würde es nicht geschehen. Das heißt: Etwas muss geschehen, selbst wenn es nicht das ist, für das man es hält. Sonst gäbe es keine Erfahrung.

Als ich die Finger meiner Partnerin spüre, die über mein Handgelenk streichen, wird mir bewusst, wie sehr es mir widerstrebt, aufzustehen; es ist so schön, im Bett zu liegen, und es ist einer dieser Herbstnieseltage. Woher weiß ich, dass es draußen feucht ist, wenn ich noch gar nicht aus dem Fenster geschaut habe und mir nicht sicher war, ob die Verkehrsgeräusche auf eine nasse Straße hinwiesen oder nicht? Ich weiß es nicht, aber ich habe das Gefühl, es zu wissen.

Tatsächlich habe ich heute viel zu tun. Nicht dass ich meinen Terminkalender im Detail präsent hätte, aber mir ist klar, dass ich ihn schon sehr bald auf dem Computer anschauen und dann all die Sachen tun werde, die ich mir vorgenommen habe, dass ich vereinbarte Treffen einhalten und die Leute, die ich anrufen muss, anrufen werde, um weitere Treffen zu vereinbaren. Kurzum, ich werde mir große Mühe geben, die Person zu sein, als die ich mich beim Aufwachen wahrnehme.

Doch wer ist diese Person?

Die Person, die diese Treffen vereinbart hat, natürlich. Wer wäre ich, wenn ich meine Termine einfach absagen und im Bett bleiben würde? Wer würde dann das Hotelzimmer bezahlen?

Mein Körper fühlt sich unter der Bettdecke ausgesprochen wohlig an, in der gedämpften Helligkeit meiner geschlossenen Lider, und dann fällt mir ein, dass Tiere im Wasser waren. Ich ging nach links von der Straße weg in den Wald hinein und erblickte einen breiten Bach mit Tieren, die alle von links nach rechts flussaufwärts liefen. Ein Leopard. Ein Hund. Ein sehr großes weißes Kaninchen. Das größte Tier war eine Art Dinosaurier, quasi eine menschengroße Echse, die auf den Hinterbeinen ging. Aber ohne Kopf, oder jedenfalls war da nichts, das man ohne Weiteres als Kopf hätte bezeichnen können. Ich weiß noch, wie seltsam mir das vorkam. Wie ein Spielzeug, nur in Lebensgröße.

Sehe ich diese Tiere jetzt wieder?

Nicht wirklich. Mir ist klar, dass ich sie gesehen habe. Ich weiß, dass ich diese Erfahrung gemacht habe. Ich denke großes weißes Kaninchen. In Worten. Ich habe ein großes weißes Kaninchen gesehen. Es hoppelte in aufrechter Haltung, es rannte nicht auf allen vieren, so wie Kaninchen es in Wirklichkeit machen. Es war sehr weiß. Wie die weißen Kaninchen, die ich als Kind hatte. Aber ich würde nicht sagen, dass ich ein deutliches Bild von dem Kaninchen im Kopf habe, so wie ein Foto oder ein Video. Andererseits weiß ich, dass ich nicht nur das Wort benutze. Ich habe das Gefühl, da ist etwas Visuelles, eine Art Erwartung des erneuten Erscheinens eines Kaninchens, oder das Nachbild von einem plötzlich aufgetauchten Kaninchen, nachdem es wieder weg ist, aber nicht etwas, das ich tatsächlich sehen kann, so wie ich sofort das Hotelzimmer sehen würde, wenn ich die Augen aufschlüge, was ich nicht tun möchte, so gemütlich in die Kissen gekuschelt, während meine Partnerin meine Hand streichelt und ich mich ausgesprochen wohlfühle und gar nicht an den heutigen Tag und alles, was ich zu tun habe, denken will. Es wird ein voller Tag sein.

Gleich wird bestimmt wieder der Wecker klingeln. Es ist jetzt schon eine ganze Weile her.

Warum habe ich von Tieren geträumt? Ich hatte in dem Traum ein Gefühl der Überraschung, als die Tiere auftauchten, vielleicht weil sie von seltsamer Größe waren und flussaufwärts wanderten. Das Kaninchen war größer, als es hätte sein sollen. Der Leopard und der Hund waren kleiner, und unscheinbar. Der Hund ist jetzt nur noch ein Wort, visuell ist von ihm nichts mehr übrig, obwohl ursprünglich etwas da gewesen sein muss, denn warum hätte ich sonst »Hund« denken sollen? Aber ich habe auch »Leopard« gedacht, und ich bin mir gar nicht so sicher, dass ich einen Leoparden überhaupt erkennen würde, wenn ich einen sähe, ich meine, ob ich ihn von, sagen wir mal, einem Geparden oder einem Jaguar unterscheiden könnte. Jedenfalls war da etwas Katzenähnliches, das ich für einen Leoparden hielt. Oder vielleicht habe ich das Wort geträumt, Leopard, und es mit dem katzenähn lichen Wesen, das ich sah, in Verbindung gebracht. Wenn ich jetzt an die Überraschung zurückdenke, die ich beim Anblick der Tiere empfand, die gemeinsam den flachen kleinen Fluss hinaufmarschierten, dann ist das keineswegs unangenehm; es war ein Gefühl leichter Benommenheit, halluzinatorisch, so als würde mir etwas Bedeutendes offenbart; und die Bedeutung, worin sie auch immer bestand, passte zu diesem Gefühl, diesem Traumzustand, der natürlich abrupt endete, als der Wecker klingelte und ich die Augen aufschlug und das Zimmer sah.

Gibt es eine Lücke zwischen dem Wald mit dem Fluss und dem Zimmer?

Ja und nein. Der Wald ist jetzt nirgends, er ist nicht im Zimmer nebenan, aber ich bin derselbe, die Person, die zuerst den Wald und gleich darauf das Zimmer gesehen hat.

Oder?

Kann es sein, dass ich mich beim Aufwachen verändert habe? Ist so etwas möglich?

Ich habe das Gefühl, derselbe zu sein. Ich habe das Gefühl, den beiden Erlebnissen, Traum und Wirklichkeit, eine Kontinuität zu geben, wenn auch nur nachträglich, genau wie ich das Gefühl habe, noch dieselbe Person zu sein, die ich vor vierzig Jahren war, obwohl es vor vierzig Jahren ganz anders gewesen sein dürfte, mir zu begegnen, als es heute ist.

Ich bewege mich hier auf unsicherem Boden.

Was wir sagen können, ist, dass diese Kontinuität, wie immer sie auch beschaffen sein mag, ganz anders ist als die Kontinuität, die Wörter erzeugen. Die Kontinuität der Wörter kann ich steuern (glaube ich), ich kann bestimmen, wie sie sich zu Sätzen, Abschnitten, Essays und Geschichten zusammenfügen, aber die Kontinuität des Sehens und Fühlens nicht. Beim Sehen und Fühlen passt alles zusammen, es entstehen keine Lücken, wenn mein Erleben von der Hand, die meinen Arm streichelt, zu dem Fluss mit dem kopflosen Dinosaurier und dem weißen Kaninchen übergeht, und dann zu den Verkehrsgeräuschen draußen vor dem Fenster und wieder zurück zu dem Fleck an der Wand neben der Lampe mit dem grünen Schirm.

Erfahrung, Erleben ist kontinuierlicher und gewissermaßen gleichzeitiger als Wörter, mit denen man immer nur eine Sache auf einmal sagen kann. Wörter sind linear. Sie ordnen die Dinge, ziehen sie aus dem Gemisch hervor, beschwören jeden Gegenstand als Ganzes, während ich nichts je vollständig sehe, nie.

Keiner von uns hat jemals im Leben auch nur ein einziges Ding im Ganzen gesehen, von allen Seiten, von oben und unten, so wie ein Wort es benennt.

Andererseits sind Wörter an sich auch wieder nur Teil des Erfahrungsgemischs; zwischen Wörtern und Empfindungen ist keine Lücke; meine Partnerin zum Beispiel, die mir jetzt Zärtlichkeiten in den Nacken flüstert, während ich mich langsam auf das Klingeln des Weckers gefasst mache, das jetzt jeden Moment kommen müsste.

Es ist ein leiser Singsang. Das Klingeln. Drr, d d d drr drr! Tatsächlich ist es das Handy meiner Partnerin. Wörter auf dem Papier können keinen Singsang erzeugen. Nichts, was ich sagen oder schreiben kann, so technisch oder poetisch es auch sein mag, kann Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, den verhassten Klang dieses Weckers übermitteln, der jeden Morgen um 7.30 Uhr etwa zehn Sekunden lang ertönt, Drr, d d d drr drr, und dann immer wieder, in zehnminütigen Intervallen, bis wir schließlich aufstehen und ihn abstellen. Im besten Fall vor acht Uhr. Natürlich ist dieser Klang uns nur verhasst, weil er uns weckt. Abgesehen davon ist er gar nicht so unangenehm. Es ist der gleiche Ton, den das Telefon macht, wenn man es einschaltet. Vielleicht könnte ich, wenn ich inspiriert wäre, etwas Geistreiches, Plastisches über den Klang des Weckers schreiben. Vielleicht würde Ihnen das gefallen. Vielleicht würden Sie dann sagen: Dem Autor ist es wirklich gelungen, den blechernen Klang des Weckers für mich hörbar zu machen und mir zu vermitteln, wie verhasst er ihm ist. Aber da würden Sie sich etwas vormachen. Die geistreiche, plastische Beschreibung würde Ihnen bloß etwas Geistreiches und Plastisches geben. Etwas Geschriebenes. Wörter. Nicht den tatsächlichen Klang des Weckers, der jetzt jeden Augenblick losgehen wird. Eigentlich erstaunlich, dass er noch nicht losgegangen ist. Ob die Batterie leer ist?

Ich lasse die Augen geschlossen in dem Wissen, dass die Welt um mich herum da sein wird, wenn ich sie schließlich als Reaktion auf den Wecker aufschlage, und dass es dann wirklich höchste Zeit sein wird, in die Gänge zu kommen. Abgesehen von allem anderen wird mir bewusst, dass ich pinkeln muss. Eigentlich wird mir jetzt, da ich mir sage, dass ich pinkeln muss, bewusst, dass mir das schon seit einer Weile bewusst gewesen ist, ich es mir aber sozusagen verschwiegen habe. Wie viele Ichs habe ich? Vielleicht meine ich, dass ich mich nicht darauf konzentriert habe. Der Vorgang des Scharfstellens, der zu meinem kontinuierlichen Ich gehört, hat das Pinkelbedürfnis nicht ins Zentrum gerückt. Bis jetzt. Der Drang zum Pinkeln war da und hat darauf gewartet, in den Blickpunkt gerückt zu werden. Mit erstaunlich viel Geduld.

Was, wenn ich jetzt die Augen öffnete und die Welt nicht da wäre?

Ist so etwas möglich?

Es würde vermutlich bedeuten, dass ich erblindet war. Es könnte wohl kaum bedeuten, dass die Welt tatsächlich nicht da war, denn ich wäre ja noch in der Lage, Dinge zu berühren und zu spüren. Zumindest würde ich das Bett unter mir spüren, und natürlich die Gerüche wahrnehmen. Ich wäre nur blind.

Aber was, wenn ich aufwachte und auch keine Gerüche da wären? Und kein Gefühl des Bettes, das mich trägt. Dann würde ich nur noch dahinvegetieren, wie ein Gemüse. Ich wäre hirntot.

Aber wacht Gemüse je auf?

Was, wenn ich überzeugt wäre, noch über all meine Sinne zu verfügen, vollkommen wach und in der Lage zu sein, zu sehen, zu hören, zu riechen, zu berühren usw., nur dass es nichts zu sehen, hören, riechen und berühren gäbe?

Wie seltsam wäre das wohl? Eine Art freies Schweben. Die ultimative Loslösung. Ich bin mir nicht sicher, dass ich mir das überhaupt vorstellen kann.

Die Realität ist, dass die Welt, wenn der Wecker klingelt – es ist jetzt wirklich erstaunlich lange her – und ich die Augen aufschlage, da sein wird, so sicher, wie ich da bin und mein Körper da ist. In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Welt ebenso verlässlich mit mir verbunden ist wie mein Körper. Oder ich mit ihr und ihm. Ich meine, ich kann meine Augen auf unterschiedliche Teile des Zimmers, der Welt, richten, aber ich kann mein Sehen nicht von der Welt trennen. Wir sind ein Ganzes.

Vielleicht ist es so, wie man als Kind einen Saugnapf an eine feuchte Fensterscheibe gedrückt und ihn dann nicht wieder abgekriegt hat. Man konnte den Gumminapf über die Scheibe wandern lassen, vielleicht war es ein Plastikpfeil, den man in Richtung Fenster abgeschossen hatte, aber man konnte ihn nicht abnehmen.

Was für ein verrückter Vergleich. Wo kam der her? War er irgendwo im Gehirn abgespeichert, oder hatte ich ihn spontan ersonnen?

Tatsache ist, ich kann fühlen, oder mich zumindest daran erinnern, erinnernd fühlen, wie meine Hand sanft an dem Spielzeugpfeil zog und der Saugnapf Widerstand leistete, über das Glas rutschte, aber nicht abgehen wollte; eine merkwürdige Kooperation zwischen Kindheitserfahrung, Gehirnchemie und Sprache. Schon sind wir wieder bei den Wörtern. Ich wäre auf diesen Vergleich nicht gekommen ohne die Sprache, die Vergleiche liebt. Tatsächlich besteht die einzige Möglichkeit, mich von der Welt zu lösen, oder zumindest diese Illusion zu hegen, ich meine, mich von der unmittelbaren Welt dieses Zimmers, an diesem Morgen hier in Heidelberg im September 2015, zu lösen, vielleicht darin, mich auf die Wörter zu konzentrieren und auf eine gewisse Dynamik, die sie entwickeln, wenn sie in Bewegung kommen und alle Dinge in der festen Welt um uns herum in den Hintergrund rücken. Weil meine Aufmerksamkeit nicht auf die Dinge scharf gestellt ist, sondern auf die Wörter.

Wenn das so ist, muss ich also, um mich von der Welt zu trennen, ununterbrochen mit mir selbst reden, wie ein Wasserfall. Diesmal haben mich die Selbstgespräche allerdings zu dem Schluss geführt, dass ich mich, mein waches Bewusstsein, nie wirklich von der Welt um mich herum lösen kann. Wenn ich die Augen aufschlage, werde ich schlicht nicht in der Lage sein, die silbergraue Tapete nicht zu sehen. Wir haben uns aneinander festgesaugt.

Kann man also sagen, dass die unmittelbare Welt um mich herum genauso zu mir gehört wie mein Körper? In dem Sinn, dass sie ebenso unumgänglich ist?

Und sind Wörter womöglich auch nur eine weitere Manifestation der Welt? Eine weitere Kategorie von Dingen, die ich nicht abschütteln könnte, selbst wenn ich wollte?

Wenn das so ist, dann klebe ich tatsächlich tagein, tagaus an meiner Erfahrung fest.

»Ele?«

»Ja?«

»Meinst du nicht, dass die zehn Minuten längst um sind?«

»Was?«

»Der Wecker. Meinst du, die Batterie ist leer? Er müsste doch längst geklingelt haben.«

»Entspann dich einfach.«

DRR, D D D DRR DRR. Der Wecker klingelt, während sie noch spricht.

Ich öffne die Augen, und da ist die Wand. Die Tapete. Unumgänglich.

»Du zuerst«, sagt meine Partnerin. Die Socke ist blau.

Bin ich mein Gehirn?

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