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KEINE BILDER

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»Es gibt keine Bilder!«

Damals fiel mir Riccardo Manzotti zum ersten Mal auf. Er war im Publikum, stand auf und sagte diesen Satz, auf Englisch, mit viel Nachdruck und einem starken italienischen Akzent.

Das war im September 2009, auf einer Konferenz über Kunst und Neurowissenschaft an meiner Uni in Mailand, einem von diesen Foren, zu denen Leute aus unterschiedlichen Forschungsbereichen eingeladen werden, um die Detailstudien ihrer jeweiligen Disziplin vorübergehend außer Acht zu lassen und ihre Arbeit in den allgemeineren Kontext menschlicher Erfahrung zu stellen. Der offizielle Titel, »Neuro-Ästhetik: Wenn Kunst und Gehirn kollidieren«, klang nicht direkt vielversprechend. Vielleicht lag es daran, dass die Stimmung ungewöhnlich an gespannt war; die Kunsthistoriker und Kritiker waren besorgt, dass sie den Wissenschaftsjargon nicht verstehen würden, die Wissenschaftler fürchteten, ihre Arbeit könne allzu nüchtern und starrsinnig wirken.

Von meinem Institutsleiter zwangsverpflichtet, brachte ich einen Beitrag zum Thema »Die Substanz der Wörter« ein, in dem ich mich damit beschäftigte, wie schwierig es ist, sich überhaupt vorzustellen, auf welche Weise die Sprache dem Gehirn und dem Körper sozusagen anhaften und dadurch zu einem realen Teil unserer physischen Erfahrung werden könnte. Im Allgemeinen, argumentierte ich, schien die Sprache dazu berufen, eine separate Welt aufzubauen, indem sie uns aufforderte, uns von der Welt zugleich zu abstrahieren und mit ihr zu verknüpfen, uns in einem Umfeld aus Wörtern, Rhythmen und Syntax zu bewegen, und unsere Erfahrung in zwei Kategorien aufzuteilen, einerseits die geistige, andererseits die körperliche.

Insbesondere hatten wir, nachdem wir alles, was wir sehen und anfassen konnten – Vögel und Säugetiere, Steine und Bäume, Alltagsgegenstände –, und dann auch alles, was wir als Emotionen erlebten – Angst, Hoffnung, Glück, Trauer –, mit Wörtern belegt hatten, uns auch noch angewöhnt, Wörter für Dinge zu erfinden, die wir weder je gesehen noch je gefühlt hatten, von denen wir aber gerne glauben wollten, dass sie trotzdem existierten: Engel, Teufel, Feen, Gott. Das Ich war auch eines dieser erfundenen Wörter, erklärte ich, eine Entität, die niemand je wirklich bezeugt oder erfasst hatte, und »Identität«, »Persönlichkeit«, »Charakter«, »Seele« gehörten ebenfalls in diese Reihe – je mehr Wörter man dafür hat, desto glaubwürdiger wird die Schimäre –, und so war die Illusion entstanden, dass wir als moderne Individuen irgendwie von der physischen Welt getrennt existierten, dass wir nicht dem beständigen Wandel unterworfen waren, dem alle Phänomene um uns herum unterliegen, sondern uns auf einem Strahl von Wörtern durch die Zeit projizieren konnten. Identität war also, kurz gesagt, eine Geschichte, die wir uns selbst erzählten; Sprache und Wörter bildeten dabei eine enge Allianz mit der internalistischen, kartesianischen Sicht auf die Wirklichkeit: Erfahrung gab es nur in unserem Kopf, wo wir mit uns selbst sprachen, uns im Grunde erst ins Dasein hineinredeten.

Der Vortrag brachte mir zaghaften Applaus ein, aber dann stellte sich heraus, dass sich keiner der anwesenden Neurowissenschaftler mit Sprache, mit Gedichten oder Romanen, beschäftigt hatte und daher niemand etwas zu dem Thema sagen konnte. Die Anwesenden waren mit dem Visuellen befasst, vor allem mit den Reaktionen des Gehirns auf Gemälde und Skulpturen. Star der Show war Semir Zeki, Professor für Neuroästhetik (ein von ihm selbst geprägter Begriff) am University College London. In seinem Vortrag, voller PowerPoint-Bilder, welche komplexe grafische Darstellungen neurologischer Vorgänge und undeutliche Abbildungen unseres Gehirns zeigten, konzentrierte er sich auf die Frage, wie wir auf Ambiguität reagieren, eine Qualität, die für ihn den Kern der ästhetischen Erfahrung darstellt. Einer Gruppe von Freiwilligen war die rubinsche Vase gezeigt worden – das Schwarz-Weiß-Bild, das sowohl aussieht wie eine Vase als auch wie zwei Gesichter im Profil, deren Nasen sich beinahe berühren.


Während die Freiwilligen es sich ansahen, zeichneten die üblichen ausgefeilten technischen Geräte die Aktivität in den verschiedenen Zonen ihrer Gehirne auf. Und tatsächlich sprang die Hirnaktivität der Betrachter, während sie versuchten festzustellen, was sie da sahen, eine Vase oder zwei Gesichter, hin und her zwischen zwei verschiedenen Bereichen im Gyrus fusiformis (der sich im unteren Teil des Gehirns befindet), nämlich den Bereichen, die man seit Langem mit Objektwahrnehmung und Gesichtserkennung in Zusammenhang bringt. Das zeige, sagte Zeki, dass ästhetischen Reaktionen neurologische Vorgänge zugrunde lagen und Künstler in gewisser Hinsicht auch Neurologen waren, die die Möglichkeiten des Gehirns zur Produktion visueller Erfahrungen ausloteten und uns herausforderten, immer subtiler auf unsere komplexe Umgebung zu reagieren. Kunst trug also zu unserem Evolutionsprozess bei, ja sie war sogar Teil davon.

»Professor Zeki«, warf ein gewisser Ron Chrisley, Experte für künstliche Intelligenz, ein, als der Redner zurück an seinen Platz ging, »wenn Sie mir erklären, welche Schaltkreise eines Computers aktiv sind, wenn dessen Schachprogramm den Springer auf c3 zieht, dann haben Sie mir nicht sehr viel über Schach erzählt, oder?«

Noch Jahre später erinnere ich mich daran, wie sehr mich dieser Einwand begeisterte. Allein schon die Furchtlosigkeit des Mannes, die Tatsache, dass er absolut unbeeindruckt war von den Befunden all dieser klugen Geräte. Aber mehr noch die offensichtliche Feststellung, dass zwischen dem subjektiven Erleben des visuellen Rätsels, das man den freiwilligen Testpersonen gezeigt hatte – die beiden Gesichter, die Vase –, und der Aufzeichnung elektrischer Impulse in diesem oder jenem Bereich ihrer Gehirne ein Abgrund klaffte. Wie konnte man sagen, das Erleben sei von dieser Aktivität verursacht worden, oder irgendwie aus ihr entstanden, oder sei gar selbst diese Aktivität, nur weil diese Aktivität stattfand? Schließlich war noch alles mögliche andere im Spiel, nicht zuletzt die zweideutigen Bilder selbst und die unruhigen Blicke ihrer Betrachter.

Aber diese Begeisterung war nichts verglichen mit Riccardo Manzottis plötzlichem Ausbruch während der offenen Diskussion, die am folgenden Nachmittag die Konferenz abschloss. In dem für hundert Menschen ausgelegten Raum saßen etwa dreißig Leute locker über die Sitzreihen verteilt, alle erschöpft nach acht Stunden heterogenem Informationsinput aus Studiengebieten, mit denen sie nicht vertraut waren. Zeki stand erneut im Mittelpunkt, sprach über den Beitrag, den die Neurowissenschaft zur Ästhetik liefern könne, ihre Fähigkeit, den Prozess zu analysieren, und zwar objektiv, beharrte er, mit wissenschaftlichen Geräten, durch die wir die Bilder erzeugten, die wir sahen. In diesem Moment sprang Manzotti von seinem Stuhl auf und erklärte: »Aber Professor Zeki, es gibt keine Bilder!«

Er redete etwa fünf Minuten lang. Alle, sagte er, konzentrierten sich auf das, was im Gehirn passierte. Alle redeten von Input und Output und Informationsverarbeitung. Alle stellten sich ein von einem Objekt völlig getrenntes Subjekt vor und mussten deshalb annehmen, dass es im Gehirn des Subjekts kleine Bilder gab, welche die Welt au-ßerhalb des Gehirns repräsentierten, kleine Geräusche und Gerüche im Gehirn, Farben im Gehirn, Formen im Gehirn und so weiter. Aber nichts davon ließ sich zeigen. Wissenschaftler hatten nach Bildern im Gehirn gesucht und keine gefunden. Sie hatten nach Erinnerungen gesucht und keine gefunden. Das Gehirn war eine graue Masse, die aus Milliarden von Nervenzellen und allen möglichen chemischen Substanzen bestand. Die Welt war darin nicht enthalten. Wenn man die Augen schloss, verschwand die Welt. Man konnte den Raum, in dem man sich befand, mit geschlossenen Augen nicht durchqueren. Um eine visuelle Erfahrung zu machen, brauchte man die Welt. Ästhetische Erfahrung war, ebenso wie jede andere Erfahrung, nicht im Kopf eingeschlossen; die Erfahrung der Mona Lisa war die Mona Lisa, wie unser Wahrnehmungssystem sie existieren ließ, wenn wir davorstanden. Deshalb fuhren die Leute hin, um sich die Mona Lisa anzuschauen, anstatt sich an den Bildern von ihr zu weiden, die in ihrem Gedächtnis gespeichert waren, oder auch auf ihrem Computer.

Das war ganz schön aggressiv. Manzotti hatte einen ziemlich wilden Gesichtsausdruck, eine wirre Mähne und tiefblaue Augen. Er war leidenschaftlich, ironisch, verächtlich. Er konnte wirklich kaum glauben, wie dumm wir alle waren, sagte er, dass wir diese absurde Geschichte über Bilder in unseren Köpfen glaubten. Als er sich wieder setzte, fragte ich die junge Frau neben mir, wer er war. »Er baut Roboter«, flüsterte sie. »Er ist ein Genie.«

Einige Tage nach der Konferenz versuchte ich, den Wahrheitsge-halt von Manzottis Rede zu überprüfen. Ich setzte mich ein paar Minuten hin, schloss die Augen und versuchte festzustellen, ob in meinem Kopf Bilder waren oder nicht. Ich hatte immer angenommen, dass es so sein müsste. Schließlich ist es doch total gängig, jemandem zu sagen, ich sehe immer noch das Bild vor mir, wie du ausgesehen hast, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Oder, ich habe noch genau vor Augen, wie Soundso damals in den letzten Spielminuten dieses Tor gemacht hat. Oder, ihr Gesicht geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Aber ist es wirklich so? Oder kann es sein, dass Manzotti recht hat?

Hinter geschlossenen Augenlidern versuchte ich, die Gesichter meiner Mutter, meines Bruders, meiner Kinder heraufzubeschwören, Menschen, von denen ich mit Sicherheit ein Bild habe. Und wohlbekannte Orte: Ich versuchte, mir mein Büro vor Augen zu führen, die Bank in unserem Garten, das Café, in dem ich gern einen Cappuccino trinke. In jedem Fall hatte ich ganz stark das Gefühl, dass ich wusste, wie der Ort aussieht, aber tatsächlich gesehen habe ich ihn nicht. Was die Objekte und Orte betrifft, so konnte ich sie mir selbst beschreiben, in Worten. Der Schreibtisch rechts von der Tür. Das Bücherregal gegenüber. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich eventuell eine grobe Zeichnung davon zu Papier bringen können. Ich wusste, welche Farbe die Wände und die Stühle hatten.

Aber ich sah sie nicht.

Bei Gesichtern hingegen war es eher wie der Moment im Ankunftsbereich des Flughafens, wenn man auf jemanden wartet, der einem nahesteht. Ich erinnere mich besonders gut an ein Mal in Heathrow, als meine jüngere Tochter Lucia aus Japan zurückkam. Sie war damals erst fünfzehn, und ich konnte es kaum erwarten, sie nach einem Monat Abwesenheit wiederzusehen. Man steht an der Absperrung, während die Leute durch die Drehtüren strömen, und sucht in der Menge von Gesichtern, die einem nichts bedeuten, nach dem einen geliebten Gesicht, will unbedingt, dass es erscheint. Man denkt intensiv an die Person. Man weiß ganz genau, auf welches Gesicht man wartet. Das Gesicht. Es ist ausgeschlossen, dass man sie nicht erkennt. Das wäre undenkbar. Etwas im eigenen Kopf wartet angespannt darauf, aktiviert zu werden. Man spürt es körperlich. Wenn das Gesicht erscheint, wird es so sein, als würde ein Schlüssel im Schloss umgedreht und eine Tür aufgestoßen, die den vollen Blick freigibt. Und dennoch, bis zu dem Sekundenbruchteil, in dem das Gesicht endlich auftaucht, sieht man es nicht wirklich. Das Gesicht ist eine Anspannung, ein Potenzial. Aber man besitzt es nicht. Man kann es nicht willentlich hervorbringen. Das ist vermutlich der Unterschied zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Ganz einfach: Wenn jemand abwesend ist, dann sieht man die Person nicht. Darin besteht der Schrecken der Abwesenheit. Oder in manchen Fällen das Glück. Es gibt kein Foto in den Aktenschränken des Kopfes. Wäre dort eines, dann bräuchte man die gewöhnliche Fotografie nicht. Höchstwahrscheinlich gibt es dort auch keine Aktenschränke. Manzotti hatte recht. Zumindest im Wesentlichen.

Aber was ist mit Träumen?

Ich träume oft das Gesicht meiner Tochter. Dann sind meine Augen natürlich geschlossen, und sie ist nicht körperlich anwesend. Dennoch kann ihr Gesicht ganz intensiv da sein. Je weiter jemand in Zeit und Ort entfernt ist, so ist jedenfalls meine Erfahrung, desto wahrscheinlicher ist es, dass man von der Person träumt. Ich träume oft von meinem Bruder in Amerika. Und wenn jemand, der einem nahesteht, stirbt, dann träumt man fast zwangsläufig von dieser Person. Ich habe jahrelang von meinem Vater geträumt. Mein Vater war im Leben ein ernster Mann, oder vielleicht auch nur distanziert, aber im Traum zwinkert er mir zu; er ist mein Komplize, obwohl er komischerweise fast immer seine Robe trägt, die Soutane mit Chorhemd und das Kollar des Geistlichen. Wenn du deine Frau verlassen musst, sagt das Gesicht meines Vaters in meinen Träumen, dann bin ich bei dir und vergebe dir.

Das hätte er im Leben niemals gesagt.

Ich ermittelte Manzottis E-Mail-Adresse und lud ihn auf ein Bier ein, das erste von vielen. In den folgenden Monaten und Jahren machten wir gemeinsam unsere Ehekrisen durch, und er präsentierte mir eine vollkommen veränderte Vision von dem, was Bewusstsein und Erfahrung sind oder sein könnten. Plus eine ellenlange Leseliste, von den Vorsokratikern über Hume, Kant und William James, Ryle und Searle und Dewey und Nagel und Dennett und Ned Bloch und Varela bis hin zu anderen, weniger bekannten Leuten wie Teed Rockwell, Alva Noë, Andy Clark und Mark Rowlands.

Doch wo soll ich anfangen?

Vielleicht bei den Robotern. Manzotti hatte mit dem Bauen von Robotern angefangen. Oder genauer gesagt, er hatte eine Roboter-Version des menschlichen Sehsystems zur Anwendung bei anthropomorphen Robotern mit Stereovision gebaut. Er war an mehreren italienischen Universitäten, unter anderem in Genua, Mailand, Palermo und später am Korean Institute of Science tätig. Sein Hauptziel zur damaligen Zeit war es, zu verstehen, ob und wenn ja wie intelligente Automaten so etwas Ähnliches wie ein menschliches Bewusstsein entwickeln könnten. Dabei wurde ihm zum ersten Mal klar, sagt er, dass das Standardmodell der bewussten Wahrnehmungserfahrung – der Gedanke eines Inputs von außen in einen Kopf, in dem dann Verarbeitungsprozesse und Berechnungen ablaufen – einfach nicht funktionierte. Man konnte auf dieser Basis keinen intelligenten Roboter bauen. »Man sagt, der Roboter speichert mithilfe seiner Videokamera Bilder von der Welt und vergleicht sie mit seiner unmittelbaren Umgebung«, bemerkte er. »Aber das stimmt nicht, er speichert vielmehr digitale Daten. Er hat keine Bilder in seinen Schaltkreisen. Keine Fotos. Wenn dort Fotos wären, bräuchte man jemanden, der sie anschaut.«

Welche logischen Konsequenzen hatte das?

Endlos viele.

Das ist jedes Mal das Problem, wenn ich versuche, Manzottis Ansichten wiederzugeben. Genauso würde es auch sein, wenn ich sie Sabina Pauen beim Mittagessen in Heidelberg darlegte, und dann den beiden anderen Professoren, mit denen ich in der deutschen Stadt verabredet war, dem Philosophen und Psychologen Thomas Fuchs und der Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer. Die Leute haben es eilig, Manzottis Behauptungen sind gigantisch und erfordern ein völliges Umdenken hinsichtlich der Frage, wer und was wir sind und was die Welt sein könnte. Sogar die scheinbar simple Frage, was ein Objekt ist, muss ernsthaft revidiert werden. Ganz zu schweigen vom heiklen Problem der Zeit …

Und wer von ihnen würde schon annehmen, dass eine Theorie, von der sie bisher noch nie gehört haben, noch dazu eine, die ihnen von einem Romanautor nahegebracht wird, einem Mann, der weitaus berühmter für Fiktionen als für Fakten ist, tatsächlich Bestand haben oder zumindest interessant sein könnte? Ist es nicht viel naheliegender, anzunehmen, dass Parks’ Freund Manzotti ein Scharlatan ist, eine Niete, trotz seiner zahlreichen Publikationen in ernsthaften wissenschaftlichen Zeitschriften, seiner Kollaborationen mit angesehenen Universitäten, seinem PhD in Robotik und seiner Professuren in Psychologie und Philosophie?

Oder, alternativ, dass Manzotti durchaus ernst zu nehmen ist, Parks aber nicht richtig verstanden hat, wovon er spricht. Nicht mal annähernd. Oft fürchte ich selbst, dass Letzteres tatsächlich zutrifft. Manzottis Ideen faszinieren mich, in vielen Bereichen überzeugen sie mich – im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern appelliert er immer direkt an die Erfahrung, lebt seine Ideen –, aber in Diskussionen darüber fühle ich mich dennoch angreifbar. Sie wirken wie vom Himmel gefallen, obwohl sie zugleich völlig dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen scheinen. Vielleicht wünsche ich mir ja insgeheim, wenn ich mit jemandem über Manzottis Ansichten rede, mein Gesprächspartner möge dessen Vorstellungen in Grund und Boden stampfen, mich ein für alle Mal von dieser charismatischen Figur befreien. Ich bin hin- und hergerissen. Zweifellos würde ein Neurowissenschaftler, der die Vorgänge in meinem Kopf aufzeichnet, sofort erkennen, dass Manzottis Ideen ähnlich wie die rubinsche Vase mal den einen, mal den anderen Bereich meines Gehirns aktivieren, den Teil, der sagt, dass etwas wahr ist und man sich sofort darum kümmern muss, und den, der sagt, dass etwas nur ein Hirngespinst ist, absurd, und mir nichts als Ärger und Blamage einbringen wird. Immer, wenn ich mich auf Manzottis Denkweise einlasse, gerät meine Welt aus den Fugen.

Was uns zurück zur Frage der Autorität bringt. Die meisten Menschen glauben mehr oder weniger das Gleiche über den Geist, den Körper und unsere Wahrnehmung, und in den meisten Fällen entspricht das dem, was unterschiedliche Autoritäten uns nahelegen. Es gibt kaum einen Ismus oder eine Religion oder eine intellektuelle Elite, vom Platonismus über das Christentum bis hin zum Empirismus und Szientismus, die uns nicht davor warnen, dass besondere geistige Kräfte, besondere Beziehungen mit übernatürlichen Wesen oder ganz einfach besondere und ausgefeilte Maschinen nötig sind, um zu erkennen, was sich tatsächlich zwischen uns und der Welt abspielt. Immer wieder wird uns eingehämmert, dass nur die Hellsichtigen, die Genies, die Priester, die Wissenschaftler, die Supercomputer wirklich Bescheid wissen. Wir hingegen können es nicht verstehen. Wir sind unendlich fehlbar. Das führt dazu, dass wir uns regelmäßig dabei wiederfinden, wie wir Erklärungen der Wirklichkeit akzeptieren, die mit unserer Erfahrung nicht im Geringsten übereinstimmen.

Wenn ich zum Beispiel ein Pfefferminzbonbon lutsche, dann kommt es mir definitiv so vor, als sei diese Erfahrung in meinem Mund zu verorten, am Treffpunkt von Zunge, Gaumen und Bonbon. Aber die zeitgenössische Wissenschaft sagt mir, dass das nicht so ist, dass meine Erfahrung vielmehr in meinem Gehirn stattfindet. »Die einzige Realität, die wir erfahren, ist die Realität des Gehirns«, schreibt Semir Zeki, »die einzigen Wahrheiten, die wir kennen, sind Wahrheiten des Gehirns.« Es gibt keine Geschmäcker, außer in meinem Gehirn, sagt der große Neurowissenschaftler und wiederholt damit ziemlich genau das, was Galileo vor 400 Jahren gesagt hat, obwohl die Neurowissenschaftler bis heute in meinem Gehirn nichts weiter gefunden haben als eine verstörend große Anzahl komplexer chemischer Reaktionen und elektrischer Impulse. Inzwischen bleibt das Pfefferminzbonbon, das nach Pfefferminz riecht und nach Pfefferminz schmeckt, in meinem Mund beziehungsweise löst sich dort langsam auf, und das scheint, solange es da ist, ein durchaus plausibler Ort für mein Minz-Erlebnis zu sein. Aber wie komme ich, oder ein schlichtes Pfefferminzbonbon, dazu, so vielen Experten zu widersprechen? Noch dazu wissenschaftlichen Autoritäten. Hatten sie nicht auch recht mit ihrer Aussage, dass sich die Erde um sich selbst und um die Sonne dreht, obwohl es allen normalen Menschen so vorkam, als stehe sie definitiv still? Ehrlich gesagt kommt sie mir auch heute noch still vor. Im Verhältnis zu meinem Körper steht die Erde bekanntermaßen tatsächlich still, und unsere Sinne liegen völlig richtig, wenn sie sie als still empfinden. Nur im Verhältnis zur Sonne und anderen Himmelskörpern bewegt sich die Erde. Wer hätte das im Trubel des Alltags schon gedacht?

Ist also ein Perspektivwechsel nach dem Motto »Wer hätte das gedacht?« möglich – wie zum Beispiel, wenn ich aufhöre, über mich und die Erde nachzudenken, und stattdessen über die Sonne und die Erde nachdenke –, durch den das Erleben des Minzbonbons von meiner Zunge in den so genannten Nucleus tractus solitarii (NTS) oder Nucleus solitarius verlagert wird, eine Hirnregion, die am Übergang zwischen Gehirn und Rückenmark liegt und in der sich alle möglichen elektrischen Reaktionen abspielen, wenn ich das Minzbonbon schmecke, und dann weiter in den Nucleus ventralis posteromedialis (VPM) im Thalamus, von wo die elektrischen Impulse dann schließlich in zwei Regionen des Neokortex vordringen: die Inselrinde und das Operculum frontale? Denn das ist der Bereich, wo die Neurowissenschaftler das Geschmackserlebnis verortet haben. Gibt es also einen schnellen Perspektivwechsel, der mich dazu veranlassen würde zuzustimmen, zu sagen, ja, wenn man es so betrachtet, dann ist der Minzgeschmack natürlich im Gehirn zu verorten?

Manzotti sagt, nein, gibt es nicht. Er meint, die Tatsache, dass eine Schädigung dieser spezifischen Hirnregionen auch den Geschmackssinn beeinträchtigt, bedeute nicht, dass das Geschmackserlebnis im Gehirn liegt. Es bedeutet, dass diese Hirnregionen ein Teil der Ausstattung sind, die das Erlebnis ermöglichen. Wenn man sich die Zunge abschneidet, wird der Geschmackssinn ebenfalls beeinträchtigt, und das Essen in deinem Mund auszutauschen ist die sicherste Methode, etwas anderes zu schmecken. Der einzige Ort, an dem tatsächlich Pfefferminzgeschmack ist, beharrt Manzotti, ist im Pfefferminzbonbon in unserem Mund.

Aber es kommt mir schrecklich primitiv vor, fast wie eine Narrenweisheit, solche Dinge zu renommierten Psychologinnen wie Sabina Pauen zu sagen, oder zu gefeierten Philosophen wie Thomas Fuchs, den ich am Nachmittag, nach dem Essen mit Sabina Pauen, treffen werde, oder zu der preisgekrönten Neurowissenschaftlerin Hannah Monyer, mit der ich morgen verabredet bin.*

Wie also im Gespräch mit diesen Autoritäten nach der Diskussion über ihr eigenes Werk das Thema auf das lenken, was mich am meisten interessiert? Man hat so viel Angst, auf diese Leute dumm zu wirken, viel mehr noch als auf die Kellnerin beim Frühstück, wenn es um den Samowar geht. Und während ich das hier niederschreibe, fürchte ich auch schon wieder, dumm zu erscheinen. Parks hat sich weit aus dem Fenster gelehnt, und er kann sich noch nicht mal hinter dem Vorwand verstecken, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt.

Zu allem Überfluss hat Manzotti seine Ansicht seit unserem ersten Treffen 2009 geändert. Und zwar radikal. Damals sprach er davon, dass die Erfahrung ein Prozess sei, den Subjekt und Objekt miteinander teilen, eine Art pas de deux, bei dem die Umarmung durch die ununterbrochene und ständige Bewegung von Photonen, Klangwellen oder Duftmolekülen garantiert wird, die zwischen Objekt und Subjekt hin- und herwandern. Oder im Fall von Berührung und Geschmack durch unmittelbare Nähe.

Sein Lieblingsbeispiel in jenen Tagen war der Regenbogen. Wenn die Sonne tief steht und ihre Strahlen eine Wolke durchdringen, in der eine große Anzahl von Regentropfen hängt, dann nimmt eine Person, die sich im richtigen Moment an der richtigen Stelle befindet und hinschaut, das gebrochene Licht als Regenbogen wahr. Steht keine beobachtende Person an der richtigen Stelle, gibt es auch keinen Regenbogen, nur Wassertropfen und Licht. Zum Beispiel kann ein Wissenschaftler einen Regenbogen nicht beschreiben, und schon gar nicht messen, ohne die Position des Beobachters zu kennen, da nur der Beobachter allein entscheidet, welcher Regenbogen aus der riesigen Menge von Regentropfen, durch die das Sonnenlicht hindurchfällt, ausgewählt wird. Eine Person, die an einer anderen Stelle steht, sieht einen anderen oder gar keinen Regenbogen. Dabei handelt es sich nicht um Subjektivität. Es ist eine Frage der Position im Verhältnis zu den Regentropfen und der Sonne.

Manzotti argumentierte, dass jede visuelle Erfahrung auf diese Weise zustande kommt, durch die physischen Prozesse, die in Gang gesetzt werden, wenn das Nervensystem auf die Welt trifft, als eine Kollaboration von Tausenden von Elementen und Hirnaktivitäten, die sich über die gesamte Distanz zwischen dem erstrecken, was wir fälschlicherweise als Subjekt und Objekt bezeichnen. Die ganze Chose ist an unserem Erleben beteiligt. Der Geist spannt sich auf zwischen dem Körper des Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen externen Objekt. Tatsächlich war es etwa um diese Zeit, als er anfing, seine Theorie »The Spread Mind« (der ausgedehnte Geist) zu nennen. Sobald man einen Teil des Prozesses ausschaltet, erlischt auch die Erfahrung. Die Sonne geht unter, und der Regenbogen ist weg, selbst wenn die Regentropfen immer noch dort oben unter ihrer Wolke schweben. Du schließt die Augen, und wieder ist der Regenbogen weg. Du veränderst deine Position, und er verschwindet. Du verlierst dein Augenlicht, schon gibt es keine Regenbogen mehr. Für dich.

»Mit Träumen befassen wir uns später«, sagte Riccardo immer, wenn ich diesen Einwand anbrachte. »Mit Halluzinationen beschäftigen wir uns später, keine Sorge. Erst mal gucken wir uns die alltäglichen Sachen an.«

Aber gerade, als ich langsam anfing, mich mit diesem Denkansatz – Erfahrung als Prozess – anzufreunden, und Riccardo inzwischen von seiner Frau verlassen worden war, wegen seiner zahlreichen Beziehungen zu anderen Frauen, könnte man wohl sagen, obwohl er entgegnen würde, dass er und seine Frau schon lange eine offene Beziehung geführt hatten, etwas, das sie selbst so gewollt hatte, vermutlich weil sie schon länger vorhatte, ihn zu verlassen, sodass sich nun, ähnlich wie bei dem Regenbogenbetrachter und dem Sonnenschein in den Regentropfen, schwer sagen ließ, was Ursache und was Wirkung war, wer das Opfer und wer der Täter – gerade als ich, wie gesagt, langsam anfing, mich mit dieser Denkweise anzufreunden – Manzotti war zum Glück nicht ihr einziger Verfechter, auch berühmte Menschen wie Gibson und Bateson, O’Regan und Noë hatten diese Richtung eingeschlagen –, gerade als ich mich daran gewöhnt hatte, unterwegs in der Stadt das Gefühl zu haben, dass mein Erleben des Himmels, der Gebäude, des Frühlingsdufts und des Verkehrslärms, des harten Pflasters und der weichen Straßenränder nicht nur in meinem Kopf, sondern auch außerhalb stattfand, dass sie in Raum und Zeit ausgedehnt war, als wunderbar aktive Kollaboration von Prozessen, die sich zugleich um mich herum und in mir abspielten, da änderte er seine Meinung. Diese Version war falsch, erklärte er mir, und ich dürfe auf keinen Fall mehr Texte von ihm lesen, die vor 2015 veröffentlicht worden waren. Erfahrung sei kein Prozess. Er hatte über zehn Jahre lang seine Zeit verschwendet.

»Wieso das?«

»Weil der Prozess, der natürlich, keine Sorge, auf jeden Fall wie beschrieben stattfindet, eben nicht den Eigenschaften der Erfahrung entspricht. Die Erfahrung kann folglich nicht der Prozess sein.«

So ist Riccardo: Wir haben Pizza gegessen, wir haben über unsere Eheprobleme gesprochen, oder vielleicht über eine vielversprechende Frau, die wir kennengelernt haben, eine, mit der sich ein Neustart lohnen könnte, und auf einmal dreht er ganz unvermittelt das Blatt Papier um, das als Tischset gedient hat, und fängt an, mit schnellen Strichen ein paar Diagramme auf die Rückseite zu zeichnen. Er kann das gut, er zeichnet prächtige Diagramme, Regenbogen und Regenbogenbetrachter, Äpfel und, wie wir später sehen werden, auch Seen und Dämme, Gehirne und Neuronen und das Innere unserer Augen und Ohren und das ganze Drum und Dran (er stellt gern Comicstrips online, die seine Theorie erklären), das er sich im Laufe der Jahre ausgedacht hat, um die Leute von seinen Ideen zu überzeugen, inklusive, das muss gesagt werden, ein paar Leute in hochrangigen Positionen, am MIT, in Harvard und Cambridge, die dennoch alle davor zurückschrecken, sich zu outen und laut zu sagen, dass Manzotti recht haben könnte, dass an seinen Theorien womöglich etwas dran ist. Denn letztendlich ist es so, dass nicht die Person, die recht hat, wirklich recht hat, wenn Sie verstehen, was ich meine, sondern die Person, die alle davon überzeugt, dass sie recht hat. Jedenfalls faktisch. Also was Reputation und Forschungsgelder angeht. Für sich alleine recht zu haben bringt gar nichts. Niemand gibt einem Geld, solange man die anderen nicht ins Boot geholt hat.

»Vergiss die Regenbogen«, verkündet Riccardo, »und nimm mal einen Apfel, einen ganz einfachen Apfel.«

Er zeichnete einen. Mit einem üppigen Blattbüschel am Stiel.

In Klammern sollte ich hier anfügen, dass dies der einzige Pub in Mailand ist, der London Pride serviert, das regelmäßig per Lkw durch den Tunnel, über die Alpen und bis in die norditalienische Tiefebene gebracht wird. Deshalb fühle ich mich hier besonders zu Hause – der Laden heißt La Belle Alliance –, ein Gefühl, das ich im Mund und im Bauch spüre, so als wäre ein Teil meiner Jugend in London über vierzig Jahre später in Italien wieder aufgetaucht. Das Gefühl ist sehr körperlich, und während ich an die Bar gehe und ein Pint Pride bestelle (denn hier benutzt man Pint-Krüge, keine metrischen Einheiten), würde ich zwar nicht sagen, dass ich den Geschmack schon auf der Zunge habe, aber ich spüre doch diese wunderbare Vorfreude auf das Wiedererkennen, ähnlich wie bei Lucia am Flughafen; das Geschmackserlebnis steht unmittelbar bevor, und gleich werde ich ins London der 1970er-Jahre zurückversetzt. Das einzige Problem ist nur, dass sie die Musik oft zu laut aufdrehen, sodass wir im Augenblick mit den Klangwellen von Creedence Clearwater Revival bombardiert werden – noch mehr Erinnerungen: »Rolling on the river«, »Proud Mary« –, während Riccardo mir seine neue und, da ist er sich ganz sicher, endgültige Position erklärt.

»Also, du siehst hier einen Apfel. Okay? Nennen wir deine Erfahrung mal E.«

Wie alle, die Philosophie studiert haben, hat Riccardo immer das Bedürfnis, alles mit Buchstaben zu versehen – P, Q, X, Y –, und wie alle, die über keine formale Bildung in Logik oder Philosophie verfügen, empfinde ich das als verwirrend, unnötig und als absichtlichen Versuch, eine Lehrer-Schüler-Beziehung aufzubauen, in der ich natürlich der Schüler bin. Meine Gespräche mit Riccardo sind zugleich auch Kämpfe mit Riccardo. Ich werde nicht den blinden Glauben an die eine Autorität abschütteln, nur um mich mit Leib und Seele einer anderen zu verschreiben.

»Also, was sind die Eigenschaften von E?«, will er wissen. Und ohne auf eine Antwort zu warten, verkündet er: »Rot, rund und apfelig. Okay?«

Ich würde gerne widersprechen, aber mir fällt kein Einwand ein. Es ist unbestreitbar. Das ist unsere Erfahrung des Apfels.

»Ein bisschen Grün«, werfe ich ein. »Ein bisschen Glanz.«

»Das meinte ich mit apfelig!« Er runzelt die Stirn. »Wir sind uns doch darüber einig, dass Erfahrung physisch sein muss und daher zwangsläufig irgendwo existiert, oder? Stimmt’s? Wir akzeptieren die Idee eines mysteriösen Geistes oder einer mysteriösen Substanz jenseits unseres Horizonts à la David Chalmers nicht. Auch keinen kartesianischen Geist in der Maschine. Keine unsichtbaren Sachen, die keiner sieht. Und keine magische Supervenienz mit freundlicher Genehmigung von Dennett, Bloch, Clark und Konsorten, Bewusstsein als etwas, das einfach so erscheint, wie ein Dschinn aus der Flasche, weil jede Menge neuronale Vorgänge am Werk sind. Stimmt’s?«

»Stimmt« (zögerlich). Tatsächlich finde ich es wirklich niederschmetternd, den Prozessgedanken verwerfen zu müssen. Er kam mir äußerst sinnträchtig vor. Ich hatte mich daran gewöhnt. Man war damit allein auf weiter Flur, aber diese Flur hatte auf mich wissenschaftlich fundiert und leicht erklärbar gewirkt. Prozess ist kein Wort, für das man sich schämen muss. Sehr viel von dem, was wir glauben, hat mit Gewohnheit und Bequemlichkeit zu tun.

»Gut!«

Riccardo, das sollte ich erwähnen, ist ein großer Mann, der regelmäßig joggt und Sport treibt. Er besitzt eine starke körperliche Präsenz, sodass neben dem rhetorischen auch ein beinahe physischer Druck entsteht, wenn er in Fahrt kommt. Aber das ist ermutigend. Er vergisst nie, dass wir körperlich anwesend sind und dass es bei dem, worüber er spricht, eben auch darum geht, dass wir anwesend sind, den Fluss hinunterfahren, wie Creedence Clearwater immer noch eindringlich singen.

»Nimmt man also diese apfeligen Eigenschaften meiner Apfel-Erfahrung, welche Kandidaten kommen da zur Verortung dieser Erfahrung infrage? Mir fallen drei ein.«

Und er schreibt die Liste auf die Rückseite des Pizza-Tischsets.

N = neuronale Aktivität.

O = der Apfel, das Objekt.

P = der Prozess, der eine ununterbrochene Kette von Aktivitäten ist, die N und O verbinden und einschließen.

»Und was ist die beste Wahl?«

Er blickt auf und grinst.

»Ich hätte kein Problem damit, beim Prozess zu bleiben, Riccardo. Mir ging es damit bestens.«

Er schüttelt den Kopf.

»Schauen wir sie uns einen nach dem anderen an. Kandidat N. Neuronale Aktivität ist grau, blutig und schleimig, stimmt’s? Sie ist nicht rund und apfelig und rot. Du kannst so lange in unsere Köpfe schauen, wie du willst, du wirst dort weder Äpfel noch irgendetwas Ähnliches, noch Bilder von Äpfeln noch Apfelgeruch noch supervenierende Äpfel finden, und auch keine magischen Äpfel.«

»Schlechte Wahl also.«

Aber darüber sind wir uns schon seit Langem einig.

»Also weiter zu Kandidat O, dem Objekt, in diesem Fall dem Apfel. Äpfel ähneln Äpfeln sehr stark, nicht wahr, und auch unserer Erfahrung von Äpfeln, oder? Sie sind extrem apfelig.«

Dem lässt sich schwer widersprechen, aber ich habe immer noch nicht kapiert, worauf er hinauswill. Ich muss kurz an die Szene in Indiana Jones und der letzte Kreuzzug denken, in der Indiana entscheiden muss, welcher von einer Reihe von Kelchen der Heilige Gral ist. Wir dürfen hier keinen Fehler machen.

»Und schließlich Kandidat P, der Prozess. Was meinst du? Ein immens komplizierter Kandidat, sogar noch komplizierter als die neuronale Aktivität, denn er schließt die neuronale Aktivität ebenso mit ein wie jede Menge andere Sachen. Wir haben die Oberfläche des Apfels, die Lichtstrahlen reflektiert, wir haben die physikalischen Quanten, die unsere Retina bombardieren, hyperpolarisiert an den Rezeptoren, dahinter depolarisiert, wir haben Nervenimpulse, die dank einer Million Synapsen in die verschiedenen Hirnregionen ausschwirren, und dann noch die äußerst geschäftigen Neuronen. Ähnelt das deiner Erfahrung des Apfels?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

Riccardo seufzt. »Wenn wir aufzeichnen, was in deinem Gehirn vor sich geht, wenn du den Apfel betrachtest, dann sehen wir alle möglichen Fluktuationen und Schwingungen. Entsprechen die deiner Erfahrung des Apfels? Fluktuiert und oszilliert er?«

»Nein.« Hier fühle ich mich auf sicherem Boden.

»Wenn du den Apfel anschaust, bleibt er, wo er ist.«

»Ja.«

»Still.«

»Still.«

»Er rollt nicht herum, es sei denn, wir stoßen ihn an.«

»Nein.«

»Deine Pupillen, die Teil des Wahrnehmungsprozesses sind, bewegen sich ununterbrochen hin und her. Aber du erlebst diese Bewegung nicht.«

»Nein.«

»Wenn du schaust, erlebst du nicht, wie deine Augen sehen.«

»Ich glaube nicht.«

»Du siehst den Apfel.«

»Genau.« Ich betrachte seine Zeichnung auf dem Tischset.

»Du erlebst dein Gehirn nicht.«

»Scheint nicht so, nein.«

»Tatsächlich gehört das Gehirn, in dem diese ganze Erfahrung angeblich stattfindet, zu den Körperteilen, die wir am wenigsten erleben. Habe ich recht? Du spürst dein Gehirn nicht so, wie du deinen Arm spürst.«

»Nur wenn ich Kopfschmerzen habe.«

»Das Thema verschieben wir auf ein andermal. Im Augenblick erlebst du den Apfel, nicht dein Gehirn.«

»Ja.«

»Also, welcher der drei Kandidaten – N, O oder P – entspricht am ehesten der Art deiner Erfahrung des Apfels?«

Schweigen. Oder vielmehr Creedence Clearwater. Sie spielten gerade »I Heard it Through the Grapevine«. Ist es nicht faszinierend, dass Erfahrung nie nur auf eine Sache beschränkt ist, nie völlig auf etwas Bestimmtes konzentriert, zum Beispiel das Lesen von Kant, sondern immer aus mehrerem besteht, also Kant lesen und hören, wie Eleonora sich die Haare föhnt, Kant lesen und den Duft eines Apfelkuchens wahrnehmen, der gerade aus dem Ofen kommt, Kant lesen mit Rückenschmerzen, die von einer verkrampften Haltung herrühren. Oder alles gleichzeitig. Und jetzt Creedence Clearwater, die darüber jammern, dass jemand nicht mehr lange jemand anderem gehören wird.

»Die Sache ist die«, Riccardo wendet sich wieder seinem Blatt Papier zu und fängt mit schnellen Strichen an zu zeichnen, »wenn wir N oder P wählen« – er fügt ein Wirrwarr von Neuronen neben dem Buchstaben N ein, und neben P zeichnet er ein Gesicht, eine Fontäne aus Photonen, einen Apfel –, dann brauchen wir eine ganze Reihe guter Gründe, warum etwas, das alles andere als rot, rund und apfelig ist, von uns als rund, rot und ausgesprochen apfelig erlebt wird. Stimmt’s? Wir sind schon wieder mit dem alten Rätsel konfrontiert: Das Gehirn sieht so aus, der Prozess scheint so abzulaufen, aber die Erfahrung ist der Apfel.«

»Also?«

Riccardo lacht. Die Musik wechselt zu einem Song, den ich nicht erkenne. »Hat Sherlock Holmes nicht gesagt, wenn du alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hast, dann muss die unwahrscheinlichste zutreffen?«

»Ja, so in etwa.«

»Also ist deine Erfahrung des Apfels mit dem Apfel identisch. Sie muss es sein! Nur das externe Objekt ist identisch mit deiner Erfahrung des externen Objekts.«

Das ist so, als würde man dazu aufgefordert, von einer konzeptuellen Klippe zu springen, im Vertrauen darauf, dass sich dicht genug unter einem etwas befinden wird, wenn man es tut. Wieder muss ich an Indiana Jones denken. Seinen Sprung des Glaubens.

»Willst du damit sagen, ich bin der Apfel?«

»Ich sage, deine Erfahrung ist der Apfel.«

»Aber der Apfel ist da und ich bin hier.«

»Dein Körper ist hier. Deine Erfahrung ist da. Dein Körper ist an einem Ort, und deine Erfahrung ist dort, wo der Apfel ist, weil Erfahrung und Apfel eins sind. Die Erfahrung ist mit dem Apfel identisch, dank des kausalen Prozesses, der das Objekt mit deinem Körper verbindet. Du bist Apfel. Identität.«

»Aber der Apfel wiegt etwas und ich spüre kein Gewicht. Der Apfel ist saftig, und ich schmecke keinen Saft. Die Schale hat eine bestimmte Struktur und ich spüre sie nicht.«

Riccardo spricht im Tonfall eines Erwachsenen, der mit einem Vierjährigen redet. »Ich sage nicht, dass deine Erfahrung mit einem idealen Apfel identisch ist, oder einem Galileo-Apfel, oder einem Apfel, wie Gott ihn sieht, oder einem Noumenon, dem kantischen Apfel an sich, oder einem Apfel in einem Röntgengerät, oder einer Apfelscheibe unter einem Rasterelektronenmikroskop oder einem Apfelstück in deinem Mund. Ich sage auch nicht, dass deine Erfahrung des Apfels die Musik von Creedence Clearwater und deine Hämorrhoiden und deine Sorge, ob sich Frauen für dich interessieren, und alle anderen Erfahrungen und Identitäten eliminiert. Ich sage nur, deine Erfahrung des Apfels ist mit dem Apfel identisch, den deine Wahrnehmungsorgane ausgestalten, wenn sie den Apfel anschauen, mit deinen Augen, nicht mit meinen, mit deinem Gehirn und deinen früheren Erfahrungen mit unterschiedlichen Äpfeln, bei diesen Lichtverhältnissen, im Fall dieses ganz bestimmten Apfels. Nur der Apfel, dieser Apfel, jetzt, passt genau zu den Eigenschaften deiner Erfahrung, hier und jetzt, des Apfels. Die Erfahrung ist der Apfel, den du erlebst. Nehmen wir den Apfel weg, gibt es keine Erfahrung.«

Er nimmt das Tischset, knüllt es zusammen, lacht und trinkt sein Bier aus.

Der Apfel ist weg. Aber ein heftiger innerer Aufruhr ist geblieben.

»Ich werde ihn träumen«, erkläre ich. »Frisch vom Baum der Erkenntnis. Was ist mit Träumen?«

»Träume kommen später dran! Halluzinationen auch! Keine Sorge!«

* Mittlerweile habe ich zu meiner Beruhigung von der Erkenntnis des Philosophen Thomas Nagel erfahren, der feststellt, dass, angenommen man hätte Zugang zum Gehirn von jemandem, der gerade Schokolade isst, und wäre in der Lage, an der entsprechenden Hirnregion der Person zu lecken, diese nicht nach Schokolade schmecken würde.

Bin ich mein Gehirn?

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