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FARBEN

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Lassen Sie uns ein paar Erlebnisse auf dem Weg zum Frühstück überspringen. Ich bin in Heidelberg, um verschiedene Professoren zu treffen und mich mit ihnen darüber zu unterhalten, was Bewusstsein ist. Ich bin in Heidelberg, um ein paar schöne Tage mit meiner Partnerin zu verbringen. Beim Betreten des Frühstücksraums unseres Hotels fällt es schwer, eventuelle taxierende Blicke nicht wahrzunehmen. Meine Partnerin ist halb so alt wie ich. Knapp halb so alt, um ehrlich zu sein; der Kipppunkt wird in etwa einem Jahr kommen, wenn sie einunddreißig wird. Rechnen Sie selbst. Mit derart asymmetrischen Beziehungen stimmt angeblich etwas nicht. Diverse Instanzen, sowohl religiöse als auch weltliche, behaupten, es sei weitaus gesünder, wenn Paare mehr oder weniger gleichaltrig sind. Diese Sichtweise entspricht nicht unserer Erfahrung, ich meine meiner und der meiner Partnerin; für uns ist unsere Beziehung absolut in Ordnung. Wir finden es geradezu erschreckend, wie massiv sich diese mutmaßlich kompetenten Instanzen in dieser Hinsicht irren können. Da fragt man sich, in wie vielen anderen Dingen sie sich noch irren? Mein Freund Riccardo Manzotti zum Beispiel hat vor Kurzem gezeigt, dass das aktuelle Modell, das verwendet wird, um zu erklären, was passiert, wenn wir Farbnachbilder sehen, gänzlich falsch ist. Aber das ist ein anderes Thema. Jetzt, während wir uns hier im Frühstücksraum an einen Tisch setzen, sind wir uns der Blicke von zwei, drei Personen bewusst, die abschätzen, ob wir wohl Vater und Tochter sind, oder eher ein älterer Mann und seine Geliebte, die einen kleinen Seitensprung genießen. Aber wie könnten wir Vater und Tochter sein, so unterschiedlich, wie wir aussehen? Die Leute spüren so etwas sofort; riesige Mengen von Lebenserfahrung kommen hier zum Tragen, ganz ohne Nachdenken, ich meine, ohne bewusste Reflexion. Der scharfe Beobachter weiß ganz einfach Bescheid. Das Zimmermädchen beispielsweise, ein stattliches junges Mädchen unter zwanzig mit einer gestärkten weißen Schürze und einer kleinen schwarzen Haube auf dem Kopf, setzt sofort einen verschwörerischen Gesichtsausdruck auf; sie wird unserem vermeintlichen Fehltritt wohlwollend gegenüberstehen.

Das ist natürlich ein Thema, über das sich leicht schreiben ließe: wie sich die Lebenswege zweier Menschen plötzlich auf ganz unerwartete, geradezu abwegige Weise ineinander verwickeln, und wie die Leute darauf reagieren. Das ist der Stoff, aus dem Bücher gemacht werden. Meistens. Ich meine Romane. Weil wir dazu neigen, auf diese Weise über unser Leben nachzudenken, die Dinge rückwärts und vorwärts projizieren, um daraus Geschichten zu machen. Und auch weil Wörter und Sätze, die zeitlich linear verlaufen und unterwegs Energie einsammeln, genau darin gut sind, gut im Erzählen von Geschichten, die sich ebenfalls durch die Zeit bewegen: Menschen begegnen sich, verlieben und entlieben sich, finden und verlieren Jobs, streben nach etwas und haben Erfolg, streben nach etwas und scheitern. Letztendlich scheinen weite Teile unseres Lebens aus Wörtern zu bestehen, die dem heiklen, kaum beschreibbaren Zustand unseres tatsächlichen, alltäglichen Daseins, den einzelnen Momenten unseres Aufder-Welt-Seins, eine Gestalt und Dynamik aufzwingen: dem Aufwachen und Erblicken des Schranks und der Tapete, dem wiederholten Eintauchen in die Welt der Träume, während die zehnminütige Schlummerphase des Weckers zuerst brutal kurz und dann beunruhigend lang erscheint. Geschichten sind uns vertrauter als das Leben selbst. Es fällt uns leichter, darin zu sein. Vermutlich mögen wir deshalb so gern Romane. Auch Biografien, historische Erzählungen und Memoiren. Ich jedenfalls mag sie sehr. In ihnen entfaltet sich mensch liches Erleben auf eine sinnvolle Art und Weise, indem die vielen redundanten Erfahrungen zwischen Aufwachen und Frühstück einfach ausgeblendet werden: der obligatorische Gang zur Toilette, das nervige Her umprobieren, um zu ermitteln, wie die Hoteldusche funktioniert, das Gefühl, von den glänzenden, spiegelnden Oberflächen überall geblendet zu werden, die Notwendigkeit, die Brille wieder aufzusetzen, um die klein gedruckten Aufschriften der kleinen bunten Fläschchen zu lesen: Shampoo oder Duschgel? Wie könnte man je eine Geschichte am Laufen halten, oder auch eine Betrachtung des menschlichen Bewusstseins, wenn man sich genau anschauen wollte, wie das Leben, oder das Bewusstsein, tatsächlich ist?

Nein, wenn wir anfingen, über den gegenwärtigen Moment und den mit ihm einhergehenden Taumel der Wahrnehmungen und Gedankengänge zu schreiben, dann wären wir überwältigt. Wir könnten niemals alles erfassen. Und wir würden die Leser zu Tode langweilen. Der Genius der Sprache liegt im Auslassen. Sie lässt das meiste aus, genau genommen fast alles; sie lädt die Leser ein, sich im Schnellzug durch die unnötig überladene Landschaft der Alltagserfahrungen tragen zu lassen.

Oder wenn wir uns doch vornehmen, alles zu erzählen, ich meine zu beschreiben, wie das Leben wirklich ist, in jedem einzelnen Moment, dann wird unsere Angst, die Leser zu langweilen, so groß, dass wir versuchen, etwas Besonderes daraus zu machen, die Lawine aus Einzelwahrnehmungen durch Rhythmus, Reime und poetische Mittel abzuschwächen. Wir werden versuchen, unseren Bericht attraktiv zu machen. Ulysses-ähnlich. Aber das Attraktive daran wird der Text sein, nicht der Augenblick selbst. Wir werden uns für die Art der Übermittlung interessieren statt für das Übermittelte, so wie jeder weit mehr an Ulysses dem Buch interessiert ist, seiner Form des Stream of Conscious ness und seinem kontroversen Autor James Joyce, als an den Themen, von denen dieses Buch tatsächlich handelt: Dublin, Masturbation, Zeitungswerbung, Beerdigungen, Prostituierte.

Das möchte ich vermeiden. Das Problem, mit dem ich auf dieser Reise nach Heidelberg konfrontiert bin, besteht in der Frage, wie ich mich auf das Thema des Bewusstseins konzentriere, wie ich Sie dazu bringen kann, sich darauf zu konzentrieren, ohne eine literarische Absicht zu verfolgen. Es geht hier nicht um Schönheit. Auch nicht ums Melodram. Nicht mal um Polemik. Sondern schlicht und einfach um die Frage: Können wir als gewöhnliche Menschen etwas Nützliches über das Bewusstsein aussagen, indem wir in den kommenden zwei Tagen in jedem Moment unsere persönlichen Erfahrungen betrachten? Und dann um die Frage: Sind die Modelle, Erklärungen oder was auch immer, die über das Bewusstsein existieren, die Versionen der Vorgänge, die zahlreiche Experten vertreten, stimmig? Passen sie zu dem, was wir Sekunde für Sekunde erleben? Und wenn nicht, warum nicht? Zum Glück haben wir uns mit ein paar klugen Leuten verabredet, mit denen wir über diese Fragen sprechen können.

Trotz allem kann ich nicht umhin, hier innezuhalten und die Pracht des Frühstücksbuffets in diesem Heidelberger Hotel zu beschreiben. Es befindet sich in einer Ecke des Raums, auf einer Theke aus schwarzem Stein, die entlang zweier Wände aufgebaut ist. Zumindest sieht die Oberfläche aus wie Stein. Darauf stehen silberne Platten mit Obst – hellgrüne Melonenschnitze, in gleichmäßige Dreiecke zerteilte Ananasfrüchte, große pralle Erdbeeren, einzeln nebeneinander direkt auf der Platte platziert, Feigen, die ihr fleischiges Inneres offenbaren (das nur wenig bräunlicher ist als die glänzend roten Erdbeeren), und in der Mitte der Platte, ich meine jeder Platte, der stachelige runde Blattschopf einer Ananas mit den dunkelgrünen, ineinandergeschachtelten Blättern, die sich zu einer glorreichen Krone öffnen.

Zwischen den Platten – pardon, noch sind wir nicht fertig – stehen dreifüßige Schalen, in denen Äpfel, Trauben, Orangen und Kiwis hoch über den anderen Speisen thronen, Kerzen in silbernen Haltern mit elektrischen Flammen und, denn wir sind hier in Deutschland, Teller mit Gewürzgurken und dekorativ aufgeschnittenen Radieschen, um den Kontrast zwischen weiß und rot zur Geltung zu bringen, dünnen Scheiben von Tomaten sowie roten, grünen und gelben Paprikaschoten, das alles neben Käsescheiben und Schinkenröllchen gleichmäßig auf Salatblättern arrangiert, daneben Schüsseln mit gekochten Eiern, Körbe voller knuspriger Brötchen mit Sesamkörnern und Bretter mit dunkelbraunen Brotlaiben, die fest in weiße Stoffservietten gewickelt sind, damit man sie aufschneiden kann, ohne seine Bakterien auf das Brot zu übertragen.

Hinter all diesem Überfluss verläuft entlang der beiden Wände, die diese Buffetecke bilden, ein Spiegel, gerade hoch genug, um die Farbexplosion, die durch helle, in die Decke eingelassene Punktstrahler noch intensiviert wird, zu verdoppeln. Mehr als zu verdoppeln eigentlich, denn von dem Winkel aus, in dem ich jetzt vor dem Buffet stehe und mir mit der Gabel Obst in meine Schale fülle, reflektiert der Spiegel vor mir nicht nur die Früchte, sondern auch den Spiegel an der anderen Wand und erzeugt so eine berauschende Vervielfältigung dieser wunderbaren, wunderbar angerichteten Speisen, die das aufmerksame Hotelpersonal unablässig nachfüllt.

Und dabei habe ich die glänzenden weißen Teller und das polierte Besteck noch gar nicht erwähnt, auch nicht den großen silbernen Samowar mit dem Regal voller Teekannen, und natürlich die unvermeidliche Teebox von Twinings mit den bunt verpackten Einzelbeuteln. Das Buch, das ich gerade gelesen habe, Bewusstsein – ein neurobiologisches Rätsel von Christof Koch, beschreibt Farben und genau genommen unsere Wahrnehmung im Allgemeinen als »con job«, also als Schwindel: Es gibt auf der Welt weder Blau noch Grün noch Rot, schreibt Koch, alle Farbtöne werden in unserem Gehirn erzeugt, sie entstehen aus der Kooperation zwischen dem visuellen Kortex und drei Gruppen von cleveren, kegelförmigen Zellen in der Netzhaut, welche die Lichtstrahlen, die von unterschiedlichen Oberflächen reflektiert werden, in die Illusion einer Farbe umwandeln. In Wirklichkeit also, und an dem Punkt stimmt Koch weitgehend mit der gängigen Meinung überein – wobei »gängige Meinung« und »zahlreiche Experten« mehr oder weniger äquivalente Begriffe sind –, findet dieses ganze Frühstücksbuffet in meinem Kopf statt, und die Erdbeere, die ich soeben in meine Schüssel gelöffelt habe und schon bald in den Mund stecken werde, ist nirgendwo rot außer in meinem Kopf. Und das, obwohl mein Gehirn bekanntlich aus einer grauen, gallertartigen Masse besteht.

Ich schüttele den Kopf (ein Kaleidoskop aus Farben), während ich versuche, den Samowar zu durchschauen. Er ist sehr schön, ziemlich groß, hat unten einen Ablasshahn und obendrauf eine Art Wasserkessel. Neben dem Hahn ist ein roter Schalter, aber man sieht nicht, ob er an oder aus ist. Ist das Wasser heiß oder nicht? Kann ich das herausfinden, indem ich den Samowar anfasse, oder ist er so gut isoliert, dass er außen immer kühl bleibt? Soll ich ihn selbst einschalten? Angenommen, er ist zurzeit ausgeschaltet. Ist das erlaubt? Oder soll ich die Kellnerin fragen? Sie ist nicht zu sehen. Ich hasse es, wenn der Tee nicht heiß ist. Und nimmt man den Kessel von oben herunter, um sich einzuschenken, oder stellt man seine Tasse, oder eine der kleineren Teekannen, unter den Zapfhahn? Ich weiß es nicht. Das Hotelpersonal hat offenbar strikte Anweisung, alles auf Hochglanz zu halten, denn als ich mich hinunterbeuge, um das Gerät genauer in Augenschein zu nehmen, spiegelt sich mein Gesicht in der silbernen Oberfläche, allerdings verzerrt, durch die Rundung des Behälters stark in die Breite gezogen. Zum Schwindel der Wahrnehmung kommt hier die Verzerrung des gekrümmten Spiegels. Doch mein ratloser Gesichtsausdruck ist deutlich erkennbar, als ich mich jetzt für die Betätigung des Zapfhahns entscheide und sich das als Fehler erweist – mein Tee ist gerade mal lauwarm, verdammt!

Am Tisch diskutieren wir darüber, ob ich einen zweiten Versuch mit dem Samowar wagen sollte. Meine Partnerin meint, ich solle die Kellnerin fragen, aber keiner von uns beiden spricht Deutsch, jedenfalls nicht fließend, und ich möchte nicht dumm wirken. Warum nicht? Wen kümmert es schon, ob die Kellnerin mich dumm findet? Schließlich ist sie für mich keine Autorität. Oder auch nur eine Kollegin. Und sie scheint sowieso schon zu glauben, dass ich hier mit meinem Seitensprung eingecheckt habe. Aber offenbar kümmert es mich doch. Die Kellnerin ist ein Mensch, und ich möchte nicht, dass andere Menschen zu dem Schluss kommen, dass ich von Samowaren keine Ahnung habe.

Oder ist es eher so, dass ich das Vergnügen haben möchte, selbst herauszufinden, wie das Gerät funktioniert? Ich will mir den kleinen Triumph gönnen, mir mein heißes Wasser aus eigener Kraft zu verschaffen. Die Frau, mit der ich mich heute Vormittag treffen werde, Professor Sabina Pauen, führt Experimente durch, bei denen die Lernfähigkeit von Kindern leicht unterschiedlicher Altersstufen geprüft wird. Kann ein Kind mit zweiundzwanzig Monaten zwischen funktionalen und nichtfunktionalen Eigenschaften eines einfachen Werkzeugs unterscheiden? Mit vierundzwanzig Monaten? »Ein typisches Experiment« – erkläre ich meiner Partnerin, während sie die Nährwertangaben auf dem Joghurtbecher durchliest – »ist zum Beispiel eine lange durchsichtige Plastikröhre mit einer Belohnung darin. Um die Belohnung herauszukriegen, braucht man ein stabähnliches Instrument, das lang genug ist, um bis ans Ende der Röhre zu reichen. Es sind verschiedene solche Instrumente mit verschiedenfarbigen Griffen im Angebot. Nur eins von ihnen ist lang genug, um die Aufgabe zu erfüllen. Das Kind sieht, wie ein Erwachsener einen der Stäbe, sagen wir den mit dem blauen Griff, nimmt, damit die Belohnung aus der Röhre schiebt, ein erfreutes Gesicht macht und dann dem Kind die Belohnung gibt. Anschließend bekommt das Kind eine zweite Röhre, mit Belohnung darin, und die drei Instrumente. Weiß das Kind jetzt, was zu tun ist? Wählt es das richtige Instrument aus, das mit dem blauen Griff?«

»Was ist die Belohnung?«, fragt meine Partnerin.

»Keine Ahnung. Bestimmt nicht eine Tasse heißer Tee.«

»Das könnte wichtig sein.«

»Wie auch immer, wenn das Kind es kapiert hat, machen sie eine Pause, dann wiederholen sie das Experiment, ändern aber die Grifffarben der Instrumente, sodass der Stab, mit dem es klappt, jetzt zum Beispiel einen roten Griff hat. Der blaue funktioniert diesmal nicht.«

»Gemein.«

»Die Frage ist also: Kann ein Kleinkind zwischen der funktionell relevanten Länge und der funktionell irrelevanten Farbe unterscheiden?«

»Und wenn die Kinder die Belohnung gar nicht haben wollen?«

»Dann wollen sie vielleicht trotzdem ihre Eltern beeindrucken, oder sich selbst. Sie wollen sich gut fühlen, weil sie die Aufgabe kapiert haben. Unabhängig von der Belohnung.«

»Sind die Eltern dabei?«

»Ein Elternteil.«

»Bezahlt?«

»Anscheinend nicht.«

»Also haben wir es mit Eltern zu tun, die sich für die frühkindliche Entwicklung interessieren.«

»Für Leistung, ja. Sie wollen zweifellos, dass ihre Kinder weiterkommen.«

»Aber was ist, wenn das Kind gegen die Leistungsorientiertheit der Eltern rebelliert und sich weigert, bei dem Röhrenspiel mitzumachen?«

Ich schüttele den Kopf. »Es ist so, dass bei vielen dieser Experimente den Kindern Elektroden angelegt werden, die die Hirnaktivität im frontalen Kortex aufzeichnen.«

»Geh dir mal deinen Tee holen«, sagt meine Partnerin.

»Aber was soll ich mit der Tasse machen, die ich schon habe? Sie ist noch voll.«

»Lass sie stehen und nimm dir eine neue.«

Ich zögere und stelle mir vor, wie die Kellnerin angesichts dieser Verschwendung beim Tischabräumen über mich den Kopf schüttelt.

»Ich möchte aber nicht verschwenderisch wirken«, sage ich.

»Das ist albern«, erklärt mir meine Partnerin. »Geh schon.«

Ich mogele. Ich warte, bis jemand anders zum Samowar geht, um zu beobachten, was die Person macht. Es ist ein Deutscher im mittleren Alter. Er drückt auf den roten Knopf an der Seite des Geräts, der daraufhin aufleuchtet. Er hatte gar nicht so ausgesehen wie ein Knopf mit einem Lämpchen darin. Ich bin ein Stümper. Es war ganz einfach. Der Mann wartet. Ich trete näher und stelle mich hinter ihm an. Ungefähr ein Dutzend Leute befinden sich in dem Frühstücksraum mit den (in meinem Kopf) silbergrauen Stühlen, die hohe, gerade Rückenlehnen haben, und einem (in meinem Kopf) schwarzen Teppichboden mit einem Muster aus kleinen weißen Kronen, das diagonal durch das Rechteck des Raums verläuft. Was ich Christof Koch gerne fragen würde, ist, ob die Farben ein größerer Schwindel sind als die Formen und Größen der Dinge, vor allem, da Koch davon überzeugt ist, dass unsere gesamte Erfahrung der Welt in unserem Kopf angesiedelt ist, als Bild sozusagen, oder als Darbietung im Theater des Geistes. Galileo allerdings glaubte, das Einzige, was tatsächlich draußen auf der Welt existierte, seien Formen, Zahlen und Bewegungen; alles andere – Farben, Töne, Geschmack, Geruch usw. – würde allein durch unsere Augen, Ohren, Zunge und Nase ergänzt. Sei rein subjektiv, würde außerhalb der Menschheit überhaupt nicht existieren. Um also einen Gegenstand tatsächlich zu erfassen, musste man ihn in jeder erdenklichen Weise vermessen, mit wissenschaftlichen Instrumenten, musste seine Form, seine Masse und seine Bewegungen untersuchen, aber nichts von dem, was uns normalerweise daran interessieren würde, etwa welche Farbe er hat, wie er riecht oder wie er sich anfühlt. Vielleicht habe ich mich deshalb nie der Wissenschaft zugewandt.

Mein Tee kommt knallheiß heraus. Jetzt habe ich etwas über Samoware gelernt. Einer bestimmten Art. Nie wieder werde ich mich im Frühstücksraum eines deutschen Hotels durch lauwarmen Tee blamieren. Folglich hat sich in meinem Gehirn vermutlich etwas verschoben. Es ist jetzt anders als noch vor zehn Minuten. Zur Vorgabe von Professor Pauens Forschung gehört, dass das kindliche Gehirn in dieser Phase maximaler Formbarkeit durch die kleinen Lernspiele, die ihr Team mit den Jungen und Mädchen durchführt, tatsächlich verändert wird. In einem Experiment etwa werden kleinen Kindern in schneller Abfolge Fotos gezeigt, zum Beispiel von Gesichtern, bekannt und unbekannt, männlich und weiblich, vielleicht auch von Tieren oder Möbelstücken. Die Reaktion des Kindes wird mithilfe eines Elektroenzephalografen gemessen, der Gehirnströme aufzeichnet – elektrische Aktivitäten im Gehirn –, ihre Intensität misst und in Millisekunden zählt, wie schnell nach dem Sehen des Fotos sie auftreten. Ergebnis: Seit man Scharen von neun Monate alten Babys mit Elektroden am Kopf vor einen Bildschirm gesetzt hat, gilt es als erwiesen, dass sie zwischen verschiedenen Tierarten und zwischen Männern und Frauen beziehungsweise männlichen und weiblichen Gesichtern unterscheiden können. Was noch interessanter ist: Es ist auch klar geworden, dass die Kinder weniger stark reagieren, wenn ein Foto die Wiederholung des vorherigen ist, selbst wenn sie das vorherige Foto nur eine halbe Sekunde lang gesehen haben. Innerhalb dieser sehr kurzen Zeitspanne hat sich also das Gehirn bereits verändert, es hat etwas gelernt, so wie ich jetzt gelernt habe, den Samowar einzuschalten und kurz zu warten, ehe ich heißes Wasser aus dem Zapfhahn entnehme, auch wenn ich immer noch nicht weiß, wozu der hübsche silberne Teekessel oben auf der Maschine da ist. Ist er ein funktionales oder ein nicht-funktionales Element?

Als ich wieder an meinen Platz gehe, mit der zweiten Tasse Twinings English-Breakfast-Tee in der Hand, wird der Raum unvermittelt durch eine Erscheinung verändert. Eine Frau mit einem knallgelben Hut schwebt herein.

Ich sollte erwähnen, dass alle anderen Leute im Frühstücksraum auf den ersten Blick unscheinbar wirken. Sie wissen schon, wie ich das meine, es soll keineswegs geringschätzig klingen. Ich bin selbst genauso unscheinbar. Keine dieser Personen sendet auffällige Signale aus oder fordert auf irgendeine Art und Weise besondere Aufmerksamkeit ein. Da wären der Deutsche im mittleren Alter und seine Frau, die links von uns sitzen, ein junges japanisches Paar an einem der Tische am Fenster, und eine arabische Familie mit Mann, Frau und einem bemerkenswert braven Kleinkind. Alle ganz gewöhnlich angezogen. Das schwarze Kopftuch der arabischen Mutter wirkt vollkommen gewöhnlich. Dazu trägt sie ein Jackett und Jeans.

Alle widmen sich in einer unaufdringlichen Art und Weise ihrem Frühstück. Was vermutlich bedeutet, dass sich alle mehr oder weniger einig darüber sind, wie man sich beim Frühstück in einem Hotel benehmen sollte. Die gedämpften Gespräche kommen dank der leise eingespielten 70er-Jahre-Popmusik an den anderen Tischen nur als unverständliches Gemurmel an; im Augenblick läuft zum Beispiel gerade »Super Trouper«. Was wiederum zu der zwanglosen Kleidung, dem schallschluckenden Teppich und den (in unseren Köpfen) grauen Stuhlpolstern zu passen scheint. Tatsächlich ist mir das alles bisher gar nicht aufgefallen. Wir haben uns alle an die Hotelumgebung angepasst, uns quasi unsichtbar gemacht. Uns konform verhalten, würde man wohl sagen. Liegt es daran, dass wir durch die Millionen und Abermillionen ähnlicher Eindrücke, die unsere Gehirne im Laufe der Jahre empfangen haben, einander irgendwie ähneln, oder zumindest ähnlich disponiert (programmiert, gepolt?) sind, wenn es um das Frühstücken in Hotels geht? Alle Wissenschaftler, deren Studien über das Gehirn ich gelesen habe, verwenden Analogien aus dem Computerbereich. Pauens Babys »verarbeiten« Bilder und »codieren« und »speichern« sie. Das scheint die natürliche Art und Weise zu sein, über das Gehirn zu sprechen, auch wenn an einem Computer natürlich rein gar nichts natürlich ist. Auch nicht am Frühstücken in Hotels.

Jedenfalls lässt jemand nun über die spiegelglatte Oberfläche dieser frühmorgendlichen Konformität einen Kieselstein in Gestalt eines knallgelben Huts springen. Genau genommen ist unser Neuankömmling komplett gelb: gelbe Schuhe, gelbe Bluse, gelbe Strickjacke, gelbe Fingernägel. Aber den Ausschlag gibt der Hut. Wenn ich knallgelb sage, dann meine ich wirklich knallig. Ein ausladender, runder Hut, der zugleich steif wirkt. Oben flach, wie ein umgekehrter Topf, den man auf dauergewelltes Haar gedrückt hat, aber mit äußerst breitem Rand, vielleicht 60 Zentimeter im Durchmesser. Dieser Hut scheint alles Licht im Raum in sich hineinzuziehen, um es dann als einen grellen, zitronigen Nebel wieder zurückzuwerfen. Seine Trägerin bewegt sich mit einem äußerst weiblichen Hüftschwung und hat neben einer Wolke aus ziemlich schwerem Parfum einen weitaus weniger aufregenden Ehemann im Schlepptau. Das Parfum ist blumig-fruchtig. Der Ehemann ist in Weiß gekleidet.

Auch wenn Farben und Gerüche nur ein subjektiver Schwindel sind, ist diese Frau, deren Alter ich auf Anfang sechzig schätze, doch ganz offensichtlich in der Lage, unsere Reaktion auf farbliche Reize vorherzusagen und zu manipulieren. Alle drehen sich nach ihrem Hut um. Sie setzt sich an einen Tisch am Fenster, schickt ein betörend selbstzufriedenes Lächeln in den Raum, so als wolle sie uns alle in ihrem Dunstkreis aus sonniger Wohlgefälligkeit willkommen heißen – sogar ihr Lippenstift ist gelb –, und ruft dann mit fröhlicher Stimme die junge Kellnerin, deren Namen sie kennt. Ihr Mann nimmt ihren Exhibitionismus mit bewundernswerter Gelassenheit hin. Womöglich ist er sogar stolz auf sie. Auch er begrüßt die Kellnerin und schlägt dann die Frankfurter Allgemeine auf.

»Das Gelb existiert natürlich nur in unseren Köpfen«, erinnere ich meine Partnerin. »Auch der Duft.«

»Trotzdem können wir ihm nicht entkommen«, gibt sie zu bedenken. »Selbst wenn wir wollten, könnten wir nicht aufhören, es uns einzubilden. Und wir nennen es beide Gelb.«

Eigentlich wollte ich unser Frühstücksgespräch nutzen, um über Professor Pauens Experimente zu reden und mich so auf das Interview vorzubereiten. Aber es ist unmöglich, nicht über dieses Gelb zu sprechen. Es nimmt uns in Beschlag. Die Frau ist aufwendig geschminkt, strahlt aber dennoch eine Art gespielte Natürlichkeit aus. Und ihr Auftritt ist berückend. Wieso ist sie so anders als der Rest von uns? Wie kommt es, dass sie und ihr Mann sich Essen an den Tisch bestellen können, während wir aufstehen und das Buffet plündern mussten und uns eine ordentliche Tasse Tee erst nach einigem Herumprobieren vergönnt war? Ist es so, dass unsere Gehirne auf Konformität gepolt sind oder sich damit abgefunden haben, während diese Frau, nachdem sie im Laufe der Jahre anderen Eindrücken ausgesetzt war als wir oder, wahrscheinlicher, die gleichen Eindrücke völlig anders verarbeitet (was immer das bedeutet) hat, ein freier Geist ist? Oder gehorcht sie nur anderen Normen? Ihr Benehmen ist, wie meine Partnerin mithilfe einer italienischen Redewendung feststellt, »tutt’un programma«. Sie hat ihren Look nicht selbst erfunden. Er scheint den Kodachrome-Fotografien in einer Modezeitschrift aus den 1960er-Jahren zu entstammen. Ich äußere die Vermutung, dass sie so etwas irgendwann einmal gesehen hat und es seitdem so tief in ihrer Psyche verankert ist, dass sie es immer wieder reproduziert.

Nein. Meine Partnerin sieht diese Frau nicht als eine Person, die sich einer Prägung unterworfen hat, sondern eher als eine Strategin, die sich ausrechnet, wie sie am effektivsten alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Frauen sind immer die schärfsten Kritikerinnen anderer Frauen. Jedenfalls wird mir, während ich meine Serviette zusammenlege, klar, dass der gelbe Hut bei mir einen so starken Eindruck hinterlassen hat, dass ich mich allein seinetwegen für immer und ewig an dieses Frühstück und an dieses Hotel erinnern werde. Ich werde mit dem Hut anfangen und dann den Rest der Szene daraus ableiten können: meine Position im Raum im Verhältnis zur Trägerin des Huts, und damit auch zu allen anderen Anwesenden, den Japanern, den Arabern, dem deutschen Paar im mittleren Alter, den Fenstern und dem herrlichen Frühstücksbuffet, das in all seiner glänzenden, fruchtig-bunten Pracht von den Wänden gespiegelt wird, ganz ähnlich wie man sich an einen Traum erinnert, indem man mit einem Fragment anfängt, das man beim Aufwachen noch im Sinn hat, etwa dem Blick durch die hohen Bäume des Waldes auf den schmalen Fluss.

Aber jetzt wird es Zeit, nach oben zu gehen und mich auf mein Interview vorzubereiten.

Bin ich mein Gehirn?

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