Читать книгу Das Mädchen mit den Augen aus Gold - Tina Videkiss - Страница 3
Vier Königreiche
ОглавлениеHyra ist ein Tintenklecks auf der großen Karte unserer Welt. Auf dem Rücken eines Pferdes benötigt man nur wenige Tage um von einem zum anderen Ende zu reiten. Weder Hyras Bodenschätze, noch sein Einfluss sind sonderlich nennenswert und doch ist es ein besonderer Ort. Und das sage ich nicht nur, weil ich dort geboren wurde. Etwas Außergewöhnliches liegt in der Luft, ein ganz bestimmtes Gefühl, das man nicht beschreiben kann. Irgendetwas ist dort anders …
Vielleicht sind es die Menschen, die dort leben. Unter ihnen gibt es so manch edlen Charakter, der die Größe erahnen lässt, zu der ein Herz fähig sein kann.
Ja, ich schätze, es sind diese Herzen, die Hyra zu dem machen, was es ist. Sie scheinen der große Schatz dieses Landes zu sein.
Einmal, ich war gerade auf der Durchreise und wie der Zufall – wenn es ihn denn gibt – so will, fiel mir ein kostbares Buch in die Hände.
Das Buch war schon sehr alt und die Legende, die darin stand, war noch um etliche Zeitalter älter.
Ich weiß nicht, wie viel Wahrheit in dieser Geschichte steckt. Doch entscheidet selbst und lasst sie mich euch erzählen.
Vor langer Zeit zogen vier Brüder aus. Getrieben von unbändiger Abenteuerlust setzten sie es sich in den Kopf das Große Meer zu bezwingen und die Welt zu umsegeln.
Doch auf ihrer Reise gerieten sie in einen fürchterlichen Sturm und kenterten. Dem Tod näher als dem Leben wurden sie an Hyras Strände gespült.
Am nächsten Morgen, als sich die Wellen wieder beruhigt hatten, fanden ein paar Fischer die regungslosen Körper im Sand. Sie trugen die Männer in ihre ärmlichen Strohhütten und versorgten die Wunden der Schiffbrüchigen.
Nach und nach kamen die Brüder wieder zu Kräften und beschlossen, beeindruckt von der Schönheit des Landes und der Gastfreundlichkeit der Menschen, in Hyra zu bleiben.
Auf der Suche nach Glück und einer neuen Heimat brach jeder von ihnen in eine der vier Himmelsrichtungen auf.
Der erste Bruder war stark und schön. Er ging in den Norden und gründete die Handelsstadt Inli, wo er ein Kloster aus schwarzem Stein erbaute.
Seine Türme ragten weit in den Himmel hinauf und hinter seinen schützenden Mauern fand so manch gequälte Seele wieder neuen Frieden.
Die Mönche beschlossen die stärksten und klügsten Männer des Klosterordens zu Kriegern auszubilden. Sie wurden Inlis Schwarze Soldaten und Leibgarde des neuen Königs.
Der legendäre Ruf der dunkel gekleideten Soldaten hallt auch heute noch durch ganz Hyra. Sie sind berühmt, berüchtigt – und unnahbar. Denn innerhalb der Klostermauern ist Enthaltsamkeit die höchste Disziplin und eine der wenigen Regeln, an die sich jeder, der dem Orden beitritt, halten muss.
Irgendwann begannen die ersten Raben Inlis Kloster zu umkreisen und von Tag zu Tag wurden es mehr. Bis heute hört man ihr Krächzen von den Dächern der Stadt und es gibt sogar Gerüchte, dass die Soldaten auf geheimnisvolle Weise gelernt haben die Worte der schwarzen Vögel zu verstehen.
Der zweite Bruder war ein verwegener Abenteurer, der die See mehr liebte als das Land. Er ging nach Osten, wo das Große Meer gegen Hyras Küsten drängt. Es sollte die Geburtsstunde der Hafenstadt Maris werden; ein schillernder Ort voll mystischer Geschichten und Seefahrerlegenden.
Es dauerte nicht lange bis Maris' Schiffe die Meere dieser Welt erkundeten und sich die schweren Holztruhen mit allerlei Gold und Geschmeide füllten. Doch eines Tages war es der Tod selbst, der mit den Seefahrern in den Hafen einlief, denn mit den Matrosen kam eine schreckliche Krankheit in die Stadt. Sie raffte viele, viele Menschen dahin und der rege Handel der Königreiche verbreitete die tödliche Seuche schnell im ganzen Land.
Die Glieder und Gelenke der Kranken wurden steif und ein stechender, unerträglicher Schmerz begann an den Knochen der Gepeinigten zu nagen. Jede Stufe, jede Steigung wurde zur Qual und unüberwindbaren Hürde. Hohes Fieber und Erbrechen trockneten die geschwächten Körper bis zur Unkenntlichkeit aus.
Zur Erinnerung findet noch heute jedes Jahr ein großer Maskenball in Maris statt. An diesem Tag tragen viele Hafenbewohner Masken mit Vogelschnäbeln; wie die Ärzte, die sich so vor Ansteckung und dem Gestank der Toten geschützt hatten.
Obwohl in dieser dunklen Zeit viele starben, hatten nicht alle dieses Glück. Manche der Kranken veränderten sich. Die ungewöhnliche Seuche machte aus ihnen hungrige Dämonen, die kaum noch an die Menschen erinnerten, die sie einmal gewesen waren.
Sie wurden zu Angstfressern. Schauerliche Wesen, die es nur in der Dunkelheit wagten, aus ihren Löchern hervorzukriechen.
Auf der Suche nach Wärme und Leben jagten sie in der Finsternis. Weit weg von den Städten, in verlassenen Gegenden, erwischten sie immer wieder den einen oder anderen unvorsichtigen Reisenden und jede Nacht verschanzte sich Hyra hinter Toren und Mauern bis der Schrecken allmählich verblasste. Man hörte immer seltener von tödlichen Übergriffen und heute sind die Angstfresser nur noch Schauermärchen, die sich die Kinder nachts am Lagerfeuer erzählen.
Der dritte Bruder liebte die Reinheit – und den betörenden Duft einer ganz bestimmten Pflanze. Der Lavendel, der das ganze Jahr in Hyra blüht, verzauberte ihn auf seinem Weg in den Westen.
Er gründete Soudale und wurde König einer Lavendelstadt, deren wohlriechenden Seifen im ganzen Land wie kostbare Schätze gehandelt werden.
Hinter der Stadt ließ er riesige Lavendelfelder anlegen; ein Meer aus Lila, der Geruch so überwältigend, dass einem ganz schwindelig davon werden konnte.
Hier und nur hier, inmitten dieser Felder, wollte der Bruder leben und errichtete ein kleines Schloss, für sich und seine heranwachsende, königliche Familie.
Der letzte der vier Brüder besaß ein aufbrausendes Gemüt und beschloss den Süden für sich zu beanspruchen.
Unbeeindruckt und aller Entbehrungen zum Trotz überquerte er das Palsgebirge, eine Kette aus schroffen Berghängen und Nadelwäldern, die sich an Hyras südlichster Spitze viele Kilometer in die Höhe türmte.
Seine Mühe wurde belohnt, denn hinter dem Wall aus Stein und Holz erwartete den Bruder ein herrlicher Ausblick auf die fruchtbare Ebene von Anastis. Inmitten dieser reichen Vegetation thronte ein einsamer Berg und als der Bruder ihn das erste Mal sah, beschloss er, in seinem Schatten eine Stadt zu errichten.
Sein Königreich wuchs rasch und seine Schönheit übertraf selbst die Städte der Geschwister noch. Unglücklicherweise ahnte der Bruder nichts von dem Verderben, das tief in der Erde unter seinen Füßen schlummerte.
Eines Tages erschütterte ein gewaltiges Beben die Ebene von Anastis und der Berg erwachte zu Leben. Er öffnete seinen blutroten Schlund und spie feurigen Regen bis ein Mantel aus heißer Asche alles Land jenseits des Gebirges bedeckte.
Der König des Südens überlebte, verlor aber all seine Schätze und seinen ganzen Besitz.
Verzweifelt und heimatlos wandte er sich an seine Brüder und bat sie, ihm etwas von ihren Ländereien abzugeben. Doch im Laufe der Jahre waren die Herzen der Geschwister hart und gierig geworden. Einer nach dem anderen schickte den bittenden Bruder wieder fort.
Verbittert zog sich der Hilfesuchende in das Palsgebirge zurück und verschanzte sich in den Bergen. Er suchte Zuflucht in dunklen Zauberkünsten und nach Rache sinnend verirrte sich sein Geist immer tiefer in den Schatten Schwarzer Magie.
Die drei Geschwister begannen sich vor der Dunkelheit des wütenden Bruders zu fürchten. Nicht mehr lange und er würde das Land, um das er sie gebeten hatte, gewaltsam einfordern. Um ihm zuvorzukommen, beschlossen sie ihren Bruder in einem Tal nahe der Berge anzugreifen.
Als die Männer am Fuß des Palsgebirges aufeinandertrafen, überlebte es keiner von ihnen. An diesem Tag verloren alle vier Geschwister ihr Leben und man sagt, die Hinterbliebenen weinten bis ihr großer Schmerz einen ganzen salzigen See füllte. Er gibt dem Tränental, dem Ort an dem Hyras Könige fielen, bis heute seinen traurigen Namen.
Auf die Throne der toten Brüder folgten ihre Kinder; im Norden und Westen zwei Söhne, im Osten eine Tochter.
Auch der Bruder aus Anastis hatte einen Sohn. Sarray. Es heißt, seine Schwarze Magie und sein Zorn soll selbst den grausamen Vater noch übertreffen, doch nach der Schlacht im Tränental verschwand der Junge.
Es wurde still um den unheilvollen Thronfolger des Südens, so dass sich die Könige und die Königin seither in trügerischer Sicherheit wiegen.
Als ich damals das erste Mal die Legende der Vier Königreiche gelesen hatte, waren meine Finger voll Erstaunen und Ehrfurcht über die Seiten gestrichen. Zuhause in Abnoba hatte ich nie zuvor von dieser Geschichte gehört.
Vielleicht lag es daran, dass man in Abnoba, dem geheimnisvollen, düsteren Wald, der sich zwischen Inli und Maris erstreckt, leicht den Rest der Welt vergessen kann.
Die Städte wahren bis heute einen respektvollen Abstand zu den Grenzen des Waldes und die Königreiche betrachten seine Größe und Unzähmbarkeit mit Ehrfurcht aus der Ferne.
Die Wege und Pfade, die in das Herz des Waldes führen, sind verschlungen und nur selten verirrt sich ein Reisender hinein. Doch jeder, der mutig genug ist weiterzugehen, immer weiter, findet eine Stadt, gebaut in die Kronen der Bäume und bewohnt von Menschen mit Augen aus Gold.
Niemand weiß, woher sie kommen oder was sie so tief in den Wald hineingetrieben hat, doch Abnoba duldet die Bewohner, die seit vielen Generationen ihre Häuser in die Kronen seiner Bäume bauen und ihre Behausungen durch schmale Brücken miteinander verbinden.
Jedes Kind, das in Abnoba das Licht der Welt erblickt, hat goldfarbene Augen. Man sagt, es sei ein Geschenk des Waldes dafür, dass die Menschen das empfindliche Gleichgewicht, das sie umgibt, achten und bewahren und bis heute ist Abnoba, mein geliebter Wald, Zuflucht, Heimat und Leben für mein Volk.
Und hier beginnt die Geschichte des Mädchens mit den Augen aus Gold.
Hier beginnt meine Geschichte.