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Lilli

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Erschrocken fuhr ich aus dem Schlaf. Mein Herz hämmerte wild gegen meinen Brustkorb und für einen kurzen Augenblick sah ich mich orientierungslos um. Wo war ich? Was hatte mich geweckt?

Plötzlich hörte ich einen Schrei.

Schlaftrunken stolperte ich aus dem Bett und torkelte benommen zu den Fenstern. Angestrengt starrte ich in die Dunkelheit und obwohl es nicht mehr regnete, konnte ich durch die schmutzigen Scheiben kaum etwas erkennen. Mephisto sprang auf das Fensterbrett und gesellte sich neben mich.

Gerade als ich mich wieder hinlegen wollte, knurrte der Kater so laut, dass ich überrascht zusammenzuckte.

»Was ist?«, flüsterte ich verwirrt und bemerkte, dass sich etwas auf dem Marktplatz bewegte. Ich kniff die Augen zusammen und erkannte ein Mädchen, das panisch auf den Brunnen zurannte.

Hinter ihr erschienen zwei dürre Gestalten, eingehüllt in lange, zerschlissene Mäntel und die Bewegungen ihrer Verfolger wirkten merkwürdig stockend. Fast schon steif – Angstfresser!

»Verdammt!«, zischte ich und schlüpfte schnell in meine Stiefel hinein.

Ich schnappte mein Schwert und eilte zur Tür, während mir Mephisto mit aufgerissenen Augen hinterhersah.

»Du bleibst hier!«, befahl ich und sprang nach draußen.

Ich stürmte die Treppe hinunter und hastete durch den mittlerweile verlassenen Raum der Gaststätte. Dabei schlug ich mir das Schienbein so kräftig an einer Sitzbank an, dass ich laut fluchte.

Als ich endlich die Eingangstür erreichte, tastete ich in der Dunkelheit eilig nach einem Schloss oder Riegel. Als meine zittrigen Finger endlich den kleinen metallenen Schieber fanden, riss ich die Tür auf und hetzte auf den Marktplatz.

Die Angstfresser bemerkten mich gar nicht, sie hatten nur Augen für das Mädchen, das schluchzend hinter dem Brunnen kauerte.

Beim Anblick der beiden dunklen Gestalten durchfuhr mich eine nie gekannte Angst, kalte Panik schnürte meine Kehle zu und ich zögerte. Was zum Teufel tat ich hier?!

Das laute Krächzen eines Raben, der auf einem der Dächer saß, riss mich aus meiner Starre und ich rannte weiter, schneller als ich jemals zuvor in meinem Leben gerannt war. Ich jagte an den Angstfressern vorbei, steuerte auf das Mädchen zu und packte ihre Hand. Ich zog sie einfach hinter mir her und sie folgte mir widerstandslos.

Die Angstfresser stießen einen zornigen Schrei aus, der das Blut in meinen Adern gefrieren ließ und meine Schritte nur noch mehr befeuerte.

»Ihre Glieder sind steif! Sie können nicht klettern!«, rief ich dem Mädchen zu, während wir durch Soudales Gassen flohen. »Wir brauchen etwas, auf das wir klettern können!«

»Ich weiß etwas«, antwortete sie und während ich ihrer zierlichen Gestalt folgte, bemerkte ich zum ersten Mal ihre langen Haare, die im Schein der Straßenlaternen in einem kräftigen Rot leuchteten.

Aus den Augenwinkeln sah ich wie unsere Schatten über die Hauswände rannten, dicht gefolgt von den Silhouetten der Angstfresser. An meinen Schläfen lief kalter Schweiß herunter und ich rechnete jeden Moment damit, eine Hand in meinem Rücken zu spüren. Eine knochige Hand, die mich nie wieder loslassen würde …

Plötzlich bog das Mädchen abrupt ab und ich wäre fast geradeaus weitergerannt. Ich schnitt eine scharfe Kurve, stürzte hinter ihr her und kam stolpernd in einer Sackgasse, die in einer zerklüfteten Steinmauer endete, zum Stehen.

»Kletter die Mauer hoch!«, befahl ich und stütze sie bis ihre Füße zwischen den Fugen ein wenig Halt gefunden hatten. Danach begann ich mich ebenfalls in die Höhe zu ziehen. Aus der unregelmäßigen Wand ragten zahlreiche Ecken und Kanten heraus, die vom Regen allerdings noch ganz nass und rutschig waren.

Nach Luft ringend biss ich fest auf die Klinge meines Schwertes, das ich zwischen meine Zähne geklemmt hatte und gerade als ich nach einem weiteren Vorsprung über mir greifen wollte, spürte ich einen unbarmherzigen Griff um meinen Knöchel.

Ich erschauderte bei der Berührung und trat nach dem abscheulichen Wesen, doch es zog mich unbeeindruckt weiter in die Tiefe. Da ich immer noch die kurze Hose, die ich im Badezimmerschrank gefunden hatte, trug, rutschte mein nackter Oberschenkel über die schroffe Steinoberfläche und ich stöhnte vor Schmerzen.

Wütend griff ich nach meinem Schwert und schlug mit voller Wucht auf das Handgelenk, das mich hinunterzog. Der Angstfresser löste eilig seinen Griff und wich zurück. Ich ließ den Felsvorsprung, an dem ich mich festgehalten hatte, los und landete direkt vor dem scheußlichen Dämon auf dem Boden.

Es war ausweglos, ich würde es niemals schaffen hinaufzuklettern.

»Kommt und holt mich, wenn ihr könnt!«, knurrte ich und hielt entschlossen mein Schwert in die Höhe.

»Nein!«, wimmerte eine verzweifelte Stimme über meinem Kopf und ich sah überrascht hoch. Der Rotschopf hatte es geschafft bis zum Ende der Mauer hinaufzuklettern und spähte über den Rand zu mir hinunter.

Die Angstfresser folgten meinem Blick, doch das Mädchen befand sich nun endgültig außerhalb ihrer Reichweite, so dass sie ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf mich richteten. Ich hörte wie sich ihr Atem beschleunigte und die Luft laut in ihren Lungen rasselte. Glücklicherweise konnte ich ihre entstellten Gesichter unter den Kapuzen der langen Umhänge, die sie trugen, nicht erkennen.

Beide Angstfresser waren mit kurzen, rostigen Klingen bewaffnet und begannen nun Schritt für Schritt auf mich zuzukommen. Mein Puls beschleunigte sich und es grenzte an ein Wunder, dass mein lauter Herzschlag noch niemanden in der Lavendelstadt aufgeweckt hatte.

Die alptraumhaften Gestalten und mich trennten nur noch wenige Meter, als ich plötzlich ein schmatzendes Geräusch hörte.

Der Kopf des Angstfressers, der mir am nächsten stand, löste sich, rollte von seinen Schultern und blieb nur wenige Zentimeter vor meinen Füßen liegen. Perplex beobachtete ich den enthaupteten Körper, der langsam auf die Knie sank und nach vorne kippte.

Der zweite Angstfresser reagierte sofort und sprang zur Seite. Er war so schnell, dass ich seinen Bewegungen kaum folgen konnte, doch auch sein Kopf wurde mit einem sauberen Hieb abgetrennt. Sein Schädel flog ein paar Meter durch die Luft und prallte gegen eine Hausmauer, wo er einen hässlichen Fleck hinterließ. Anschließend sackte sein Körper in sich zusammen und knallte mit einem dumpfen Poltern auf die Pflastersteine.

Wie verwurzelt verharrte ich in meiner Angriffshaltung und starrte ungläubig auf die leblosen Dämonen, die vor wenigen Sekunden noch mein sicheres Todesurteil gewesen waren.

»Alles in Ordnung?«, hörte ich eine vertraute Stimme und sah verwundert auf.

»Salem?«, stammelte ich verdattert. »Was ist …? Wie …?«

»Ich habe Lillis Schreie gehört. Dann bist du über den Marktplatz gerannt und mir ist das Herz stehen geblieben, als ich die Angstfresser gesehen habe. Ich bin euch gefolgt und hätte euch in den vielen Gassen fast nicht mehr wieder gefunden.«

Lilli? Wer war Lilli?

»Was machst du mitten in der Nacht ganz alleine hier draußen?«, blaffte Salem. »Bist du lebensmüde?!«

Überrascht öffnete ich den Mund und wollte mich gerade schon rechtfertigen, als mir dämmerte, dass er gar nicht mich meinte, sondern das rothaarige Mädchen, das gerade flink die Mauer herunterkletterte.

»Bitte sei nicht böse auf mich, Salem!«, schluchzte sie und sobald ihre Füße den Boden berührt hatten, fiel sie dem Soldaten auch schon um den Hals. »Ich habe die Zeit vergessen und dachte, ich könnte schnell noch nach Hause laufen.«

Verwirrt wanderte mein Blick zwischen dem Rotschopf und dem Schwarzen Soldaten hin und her, als Salem schließlich erklärte: »Das ist Lilli, meine Schwester.«

Plötzlich berührte mich etwas am Bein. Ich schrie erschrocken auf und sprang alarmiert zur Seite. Als ich nach unten sah, erkannte ich zu meiner großen Erleichterung jedoch nur Mephisto, der schnurrend um meine Beine strich.

»Du solltest doch im Zimmer bleiben!«, schimpfte ich mit ihm. Missmutig ging ich in die Hocke und nahm in hoch, woraufhin der Kater seinen großen Kopf gegen meine Stirn drückte und sich freute als hätten wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

Mein Blick fiel auf die enthaupteten Körper der Angstfresser und plötzlich stieg Übelkeit in mir auf, so dass ich Mephisto schnell wieder absetzen musste.

»Ich gehe zurück«, verkündete ich und betrachtete niedergeschlagen Lillis bebende Schultern. Obwohl Salem die ganze Zeit beruhigend auf seine Schwester einredete, wollte Lilli einfach nicht aufhören zu weinen.

»Wo übernachtest du?«, erkundigte sich der Schwarze Soldat.

»Im Gasthaus am Marktplatz.«

»Wenn du möchtest, kannst du heute Nacht bei uns schlafen«, bot er an.

»Danke, aber ich denke, ich gehe lieber wieder zurück.«

»Verstehe. Ich danke dir, Felis. Vielen Dank.«

Ich nickte, machte auf dem Absatz kehrt und ging zügig zurück zum Gasthaus. Alle fünf Sekunden drehte ich mich um und vergewisserte mich, dass ich auch wirklich alleine durch die Straßen lief, denn ich hatte immerzu das Gefühl leise Schritte hinter mir zu hören.

Irgendwann konnte ich meine Panik nicht länger unterdrücken und rannte die letzten Meter bis zum Gasthaus.

Im Zimmer angekommen, schloss ich es nicht nur ab, sondern schob vorsichtshalber auch noch den Sessel davor.

Mephisto sprang auf das Bett und sah mir verwundert hinterher, als ich eilig ins Bad stolperte, um mich zu übergeben.

Als ich am nächsten Tag die Augen aufschlug, war es schon Mittag und ich fühlte mich scheußlich. Ich hatte die restliche Nacht kaum geschlafen. Lebhafte Albträume von dürren Gestalten und rostigen Schwertern hatten dafür gesorgt, dass ich immer wieder schreiend und schweißgebadet hochgeschreckt war.

Ich quälte mich schwerfällig aus dem Bett und stolperte schlaftrunken in das Badezimmer. Mephisto blieb als fest eingerollte Fellkugel am Fußende liegen.

Niedergeschlagen betrachtete ich mein mitgenommenes Spiegelbild, das mir aus dem großen Wandspiegel entgegenblickte. Unter meinen Augen hingen dunkle Schatten und meinen Oberschenkel schmückten zahlreiche blutige Kratzer und blaue Flecken.

Obwohl es nicht regnete, war der Himmel bewölkt und unfreundlich. Er passte ganz hervorragend zu meiner schlechten Laune.

Ich beschloss den Tag mit einer Tasse Kaffee zu beginnen, danach ohne Umwege zur Buchhandlungen zu gehen und das Buch für die Königin zu kaufen. Deswegen war ich ja schließlich nach Soudale gekommen. Danach würde ich mich so schnell wie möglich auf den Heimweg machen und mit etwas Glück übermorgen schon wieder in meinem eigenen Bett aufwachen.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, kniete ich vor Mephisto, der immer noch tief und fest schlief und tippte mit meinem Zeigefinger sachte gegen seinen weißen Bauch, so dass sich der Kater gähnend streckte.

»Komm, Mephisto«, sagte ich. »Wir müssen los.«

Auf dem Weg nach unten dachte ich über vergangene Nacht nach. Wieso waren die Angstfresser bis in die Stadt gekommen? Normalerweise waren wir doch hinter unseren Mauern sicher oder nicht? Stimmte es etwa, was sich die Leute erzählten, wurden es immer mehr?

Was hatte mich eigentlich geritten da herauszugehen?!

Zu meiner Überraschung war in der Gaststätte an diesem Morgen einiges los. Den Raum füllte das laute Murmeln unzähliger Stimmen und fast jeder Stuhl war besetzt.

Glücklicherweise war mein Platz an der Feuerstelle noch frei und bevor mir jemand zuvorkommen konnte, eilte ich zielstrebig darauf zu und machte es mir auf meinem neuen Stammplatz bequem.

Als mich die Wirtin sah, winkte sie lächelnd in meine Richtung und kam herüber. Zwischen ihren dicken Fingern hielt sie etwas Weißes, mit dem sie aufgeregt durch die Luft fuchtelte. »Liebes, den hat heute Morgen die Frau Novi für dich abgegeben«, flötete sie gut gelaunt und drückte mir einen Zettel in die Hand.

»Frau Novi?«, wiederholte ich und betrachtete fragend das zusammengefaltete Papier.

»Die Goldschmiedin der Stadt«, erklärte sie. »Ein ganz junges Ding.«

Ich schüttelte den Kopf und zuckte ratlos mit den Schultern, da ich immer noch nicht wusste, von wem sie sprach.

»Sie hat feuerrote Haare, gar nicht zu übersehen«, behauptete die Wirtin und zückte eifrig ihren Notizblock, während mir allmählich dämmerte, wer mir diesen Brief geschrieben hatte. »Kann ich dir etwas zum Essen bringen, Liebes?«

»Nein, aber ein Kaffee wäre toll.«

»Natürlich, kommt sofort!«, trällerte sie und als sie ihren fülligen Körper Richtung Küchentür steuerte, sah ich ihr lächelnd hinterher. Man spürte, dass diese Frau ihre Gaststätte und das, was sie tat, liebte. Die Wärme und Herzlichkeit, die sie versprühte, hatten eine aufmunternde Wirkung auf meine missmutige Stimmung.

Ich faltete das kleine Blatt Papier, das sie mir gegeben hatte, auseinander und überflog die wenigen Zeilen, die in ordentlicher Handschrift darauf standen.

Liebe Felis,

ich weiß nicht, was gestern Nacht geschehen wäre, wenn du nicht gewesen wärst … Als Zeichen meiner Dankbarkeit würde ich dich heute gerne zu einem Essen einladen. Komm einfach vorbei, wenn du hungrig bist.

Lilli

Ich grinste und fragte mich insgeheim, ob Salem seine Schwester überredet hatte, mir diesen Brief zu schreiben.

Kurz darauf erschien die Wirtin mit einer dampfenden Tasse Kaffee an meinem Tisch und nachdem ich ausgetrunken hatte, ließ ich mir von ihr den Weg zu Frau Novi erklären.

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich getan hätte, Felis!«, plapperte Lilli aufgeregt. »Dabei habe ich gestern Abend nur eine alte Freundin besucht. Ich wollte eigentlich gar nicht lange bleiben und plötzlich war es dunkel draußen. Ich dachte, ich laufe schnell nach Hause, ist ja nicht weit. Wer konnte schon mit Angstfressern rechnen? Auch noch innerhalb der Stadtmauern?!« Ich nickte zustimmend, während ich mir die zweite Portion Gemüse auf meinen Teller schaufelte.

»Dann war ich so aufgelöst, dass ich mich gar nicht richtig bei dir bedankt habe. Bitte entschuldige, Felis.« Ich wollte etwas erwidern, doch mein Mund war voll und Lilli redete einfach weiter. »Zum Glück hat uns Salem gefunden. Er hat mir erzählt, dass ihr euch auf dem Weg nach Soudale schon begegnet seid. Ist das nicht ein Zufall?«

»Das stimmt«, pflichtete ich ihr bei, als ich endlich hinuntergeschluckt hatte.

Lilli war unglaublich nett. Vom ersten Moment an hatte ich das Gefühl, sie schon seit Ewigkeiten zu kennen. Von dem verstörten Mädchen von letzter Nacht fehlte jede Spur. Sie versprühte so viel Lebensfreude, meine schlechte Laune war wie weggeblasen.

Wie versprochen hatte sie für mich gekocht und ich konnte einfach nicht aufhören zu essen, so gut schmeckte es.

Während sie eifrig erzählte, betrachtete ich aufmerksam ihr freundliches Gesicht, das von langen, leuchtend roten Haaren umrahmt wurde. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Bruder war unschwer zu erkennen. Beide besaßen diese dunklen braunen Augen, die nichts verbergen konnten. Jede noch so kleine Gefühlsregung fand ihren Weg hinein und es war als würde man in einem offenen Buch lesen.

Lilli lebte direkt über dem Laden, wo sie ihren Schmuck verkaufte. Leider hatte ich keine Gelegenheit gehabt mir ihre kostbare Ware genauer anzusehen, denn sobald ich ihr Geschäft betreten und mich Lilli entdeckt hatte, hatte sie die Tür verriegelt, das kleine Schild auf ›geschlossen‹ gedreht und mich in das obere Stockwerk bugsiert. Dort hatte mich ein bereits reichlich gedeckter Tisch erwartet.

»Lebst du alleine?«, fragte ich.

Die Wohnung war verspielt und sehr mädchenhaft eingerichtet, Weiß- und Rosatöne beherrschten den Raum. Nicht ganz mein Geschmack, aber zu ihr passte es.

»Ja, ich wohne alleine. Vor drei Jahren bin ich hierher gezogen und habe meinen Laden eröffnet. Glücklicherweise gehört die Wohnung zur Pacht dazu.«

»Kommt deine Familie aus Soudale?«

»Nein, nein, wir kommen aus einem sehr kleinen Dorf am Rande des Palsgebirges.«

»Das ist ja sehr weit weg. Was hat euch hierher verschlagen?«

»Salem und ich haben vor drei Jahren unsere Eltern verloren. Das Dorf, in dem wir lebten, wurde niedergebrannt.« Bei diesen Worten verschwand ihr unbeschwertes Lächeln.

»Oh, das tut mir sehr Leid, Lilli«, flüsterte ich. »Was ist passiert?«

»Es waren Wilde. Banditen. Monster. Sie haben alles mitgenommen, was sie zwischen ihre schmutzigen Finger bekommen konnten. Das Dorf haben sie bis auf den Grund niedergebrannt. Sie haben uns nachts überfallen, viele sind im Schlaf überrascht worden und nur wenige haben überlebt. Mein Bruder und ich haben uns bis nach Soudale durchgeschlagen. Ein Onkel von uns lebt hier und wir wussten nicht, wohin wir sonst gehen sollten. Salem hat mir zwar geholfen diese Wohnung zu finden und meinen Laden zu eröffnen, aber dann ist er gegangen. Er wollte nicht in der Lavendelstadt bleiben.«

Die Traurigkeit in ihrer Stimme brach mir fast das Herz.

»Wie schrecklich«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihr. »Wie kann man nur so etwas tun?«

Lilli seufzte. Diese Frage hatte sie sich sicher schon unzählige Male selbst gestellt.

In diesem Moment trottete Mephisto, der auf einem Teppich vor sich hingedöst hatte, zu uns herüber. Der Kater musste Lillis Traurigkeit gespürt haben und kam, um sie aufzumuntern. Wie die meisten Tiere besaß auch Mephisto die wunderbare Gabe ohne große Worte Trost zu spenden.

Laut miauend strich er um ihre Beine bis sie schließlich zögerlich über seinen schwarzen Rücken streichelte. Mephisto schnurrte dankbar und auf Lillis Lippen kehrte ein zaghaftes Lächeln zurück.

»Ich habe noch nie so eine große Katze gesehen«, staunte sie, während sie mit ihren Fingern durch sein langes Fell fuhr.

»Das hat Salem auch gesagt, als er Mephisto das erste Mal gesehen hat«, schmunzelte ich.

»Ich bin so froh, dass uns dein Bruder gestern Nacht gefunden hat«, fügte ich ernst hinzu. »Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft, den Angstfressern zu entkommen.«

Als ich aufsah, betrachtete mich Lilli mit nachdenklicher Miene.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte ich verunsichert. »Versteht ihr euch etwa nicht so gut, Salem und du?«

»Nein, nein, wir verstehen uns sehr gut – mittlerweile«, antwortete Lilli. »Früher war das anders. Früher war er anders. Mein Bruder hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Vor dem Tod unserer Eltern war er, ehrlich gesagt, ein ziemlicher Mistkerl.«

»Wie meinst du das?«, hakte ich nach und rückte neugierig näher.

»Nun ja, er war jeden Abend draußen, feierte und trank. Manchmal kam er sturzbetrunken nach Hause, manchmal blieb er einfach tagelang weg. Unsere Eltern haben sich immer solche Sorgen um ihn gemacht. In der Nacht, in der das Dorf niederbrannte, war er nicht daheim. Ich weiß, dass er sich bis heute deshalb schwere Vorwürfe macht. Er half mir zwar eine Wohnung zu finden und den Laden zu eröffnen, doch gleich danach ist er gegangen. Er hat mit mir nie über seinen Schmerz reden können. Erst jetzt, nach drei Jahren, schneidet er manchmal den Tod unserer Eltern an. Ich glaube, in Inli hat er endlich gelernt, mit seiner Vergangenheit ein wenig Frieden zu schließen.«

Mephisto nahm Anlauf und sprang auf Lillis Schoß, die überrascht nach Luft schnappte. Nachdem sich das rothaarige Mädchen aber an das Gewicht des schweren Katers gewöhnt hatte, kraulte sie ihn zärtlich hinter den Ohren, was er sichtlich genoss.

»Mittlerweile gehört Salem sogar zur Leibgarde des Königs«, meinte Lilli und der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Manchmal kann ein Moment das ganze Leben verändern«, philosophierte ich und der Rotschopf nickte zustimmend. »Es ist gut, dass Salem einen Ort gefunden hat, der ihm neue Hoffnung gibt. Ist er denn schon wieder zurückgegangen?«

»Er besucht noch unseren Onkel und morgen bricht er dann in aller Frühe auf. Ich soll dich übrigens von ihm grüßen.«

»Danke.«

»Er hat mir erzählt, dass du aus dem dunklen Wald im Osten kommst.«

»Ja, das stimmt, ich komme aus Abnoba.«

»Ich habe noch nie so schöne Augen gesehen«, behauptete Lilli und während sie mich eindringlich musterte, lächelte ich verlegen. »Oh, da fällt mir gerade ein, ich habe auch einen Nachtisch gemacht«, rief sie plötzlich und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Wo habe ich nur meinen Kopf? Magst du etwas davon?«

»Aber natürlich, nur her damit!«, antwortete ich begeistert und beobachtete mit einem Schmunzeln, wie Lilli in der Küche verschwand, während ihr Mephisto wie ein zweiter Schatten folgte.

Salems Schwester und ich unterhielten uns noch eine ganze Weile über dies und das bis mein Blick zufällig auf die Kirchturmuhr, die durch Lillis Küchenfenster zu erkennen war, fiel. Ich erschrak, als ich das große Ziffernblatt sah und bemerkte, wie spät es schon war. Wenn ich mich nicht beeilte, würde der Buchladen bald schließen.

»Lilli, ich danke dir vielmals für das köstliche Essen und deine Gastfreundschaft«, begann ich und strecke meine vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder, »aber ich muss weiter, ich habe noch etwas zu erledigen.«

»Natürlich«, nickte sie und zog beiläufig etwas aus ihrer Hosentasche. »Zum Abschied habe ich aber noch eine Kleinigkeit für dich.« Ohne eine Antwort abzuwarten griff sie nach meiner Hand, legte etwas Kleines hinein und schloss behutsam meine Finger darum. »Es soll dir Glück bringen.«

Ich öffnete neugierig meine Faust und ein silberner Ring kam zum Vorschein. Er war mit einer kleinen Spirale, die in einer weißen Perle endete, verziert.

»Das kann ich nicht annehmen!«, protestierte ich und starrte Lilli mit großen Augen an.

»Selbstverständlich kannst du das, es ist ein Geschenk«, erklärte sie. »Probiere ihn an!«

Zögerlich ließ ich meinen linken Ringfinger hineingleiten und er passte wie angegossen.

»Vielen Dank«, stammelte ich überwältigt und das rothaarige Mädchen winkte ab, während sie mich zur Tür begleitete.

»Du hast mir gestern das Leben gerettet, Felis. Wenn sich jemand bedanken muss, dann bin ich das.«

Wir umarmten uns und ich winkte der Goldschmiedin zum Abschied, als ich ihren Laden verließ und hinaus auf die Straße trat. Eilig schlug ich den Weg zum Buchladen ein und während ich durch die Stadt hastete, bewunderte ich immer wieder den Ring an meiner Hand. Er war wunderschön.

Das Mädchen mit den Augen aus Gold

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