Читать книгу Das Mädchen mit den Augen aus Gold - Tina Videkiss - Страница 4
Dann stimmt es also
ОглавлениеDicke, schwarze Wolken bedeckten den Horizont und verschlangen das letzte bisschen Himmelsblau. Wind kam auf und die Luft begann nach Regen zu riechen.
Doch in der kühlen Brise lag noch etwas Anderes – eine Art Überschwänglichkeit, die nur der kommende Frühling verbreiten konnte. Überall schien das Leben neu zu erwachen und unaufhaltsam durch die Adern der Welt zu pulsieren.
Unglücklicherweise fühlte ich mich heute Morgen alles andere als lebendig.
Gestern hatte ich den Rest des Proviants, den ich mir für meine Reise nach Soudale eingepackt hatte, gegessen und mein Magen knurrte laut. Und ich war müde, so müde, doch der Weg schien einfach nicht enden zu wollen.
Wenigstens war ich allein. In den letzten Tagen hatte ich auf meiner Wanderung durch Hyras ausgedehnte Steppe lediglich zwei Männer getroffen. Einen graubärtigen Händler, dem kaum ein Wort über die mürrischen Lippen gekommen war und einen arroganten Kurier, der mich keines Blickes gewürdigt hatte.
Versteht mich nicht falsch, ich bin gewiss nicht menschenscheu, gegen ein wenig Gesellschaft ist generell nichts einzuwenden, aber aus Erfahrung wusste ich, was mich in so einer großen Stadt wie Soudale erwarten würde. Lärm, Hektik, stinkende Tiere und unzählige Menschen auf viel zu engem Raum. Mit dem schönen Frieden war es dann erst einmal vorbei, so dass ich die Einsamkeit genoss, so lange ich noch konnte … Nun ja, ganz alleine war ich nicht. Mephisto begleitete mich, aber er war ein sehr schweigsamer Weggefährte und seine Anwesenheit zählte nicht wirklich.
Ich suchte den Horizont nach Hausdächern, Turmspitzen, irgendetwas, das auf eine Stadt hindeute, ab. Nichts. Soudale schien vor mir davonzukriechen, je näher ich der Lavendelstadt kam.
Plötzlich endete der Weg, dem ich bisher gefolgt war, vor einem riesengroßen Sonnenblumenfeld. Obwohl sich Hyras Sonnenblumen rein äußerlich nicht von denen, die außerhalb der Landesgrenze wuchsen, unterschieden, besaßen sie dennoch eine ganz besondere Eigenschaft. Diese Art streckte ihre Blattspitzen schon in den blassen Frühlingshimmel, da schlummerten die meisten Pflanzen noch fest in ihren Samenkörnern unter der harten und kalten Erde.
Ich blieb stehen und betrachtete das eindrucksvolle Heer gelber Köpfe. Die schlanken Pflanzen überragten mich um Längen und sahen mit ihren dunklen Gesichtern neugierig zu mir herunter. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und starrte unverhohlen zurück.
»Glaubst du, das ist eine Abkürzung?«, fragte ich Mephisto.
Mein Begleiter legte den Kopf schräg und sah mich nachdenklich an.
»Ich interpretiere das als ein Ja«, beschloss ich und ging ein paar Schritte zwischen den Sonnenblumen hindurch bis ich schließlich im Feld verschwand.
Mephisto blieb mit unverändertem Gesichtsausdruck am Rand zurück.
»Komm schon! Es wird gleich anfangen zu regnen, wir müssen uns beeilen!«
Mein stummer Freund gähnte, streckte sich und folgte mir gemächlich in das goldfarbene Pflanzenmeer hinein.
Seit einer gefühlten Ewigkeit liefen Mephisto und ich jetzt schon durch das Sonnenblumenfeld und es schien kein Ende in Sicht. Es war wie verhext, auf meinen Reisen kam mir das letzte Wegstück immer am längsten vor.
Die Luft war spürbar abgekühlt und bei jedem Windstoß tanzten die unzähligen dünnen Stängel, die uns von allen Seiten umgaben, im Kreis. Die ersten Insekten, die aus ihrem Winterschlaf erwacht waren, schwirrten laut brummend durch die Luft und Mephisto schnappte hin und wieder gereizt nach ihnen.
Ich hatte meine langen, schwarzen Haare zu einem unordentlichen Knoten auf meinem Kopf zusammengebunden, doch der Wind befreite die kürzeren Strähnen und blies sie in mein Gesicht, so dass ich sie immer wieder genervt hinter die Ohren strich. Meine Mutter predigte immer, dass ich meine Haare abschneiden solle, sie seien so schrecklich unpraktisch. Vielleicht hatte sie Recht.
Kopfschüttelnd lenkte ich meine Aufmerksamkeit zurück auf meine Schritte, denn es war nicht leicht einen direkten Weg durch das Feld zu finden ohne mit einer Sonnenblume zusammenzustoßen. Konzentriert starrte ich auf meine Füße und betrachtete die ausgetrocknete Erde, die sehnsüchtig auf den kommenden Regen wartete, als Mephisto plötzlich stehenblieb und leise knurrte.
»Was ist?!«, fragte ich.
Dann hörte ich es auch. Ein leises Rascheln. Es kam von rechts, nicht weit entfernt von uns.
Reflexartig griff ich nach dem Schwert an meiner Hüfte. Es dauerte einen weiteren Sekundenbruchteil bis mir klar wurde, wie wenig die lange Klinge zwischen den dicht stehenden Pflanzen nützen würde.
Hastig schob ich sie wieder in die Halterung zurück und ging in die Hocke um den kleinen Dolch, den ich immer bei mir trug, aus meinem Stiefel zu ziehen. Geduckt verharrte ich in der Position und wartete, während ich die Tasche, die um meine Schulter hing, vorsorglich unter meiner Jacke versteckte. Schließlich wollte ich niemanden in Versuchung führen.
Mephisto starrte angespannt zwischen den Pflanzen hindurch und seine Schwanzspitze zuckte aufgeregt. Ich folgte seinem Blick und erkannte eine dunkle Gestalt.
Sie war von Kopf bis Fuß in schwarze Kleidung gehüllt. Selbst die kurzen Haare schimmerten in einem fast schon bläulichem Schwarz. Es war ein junger Mann, zwei, höchstens drei Jahre älter als ich. Und er kam immer näher.
Seine Haut war sonnengebräunt und seine dunklen Augen wanderten neugierig durch die Pflanzenreihen. So als suchte er irgendetwas. Oder irgendjemand.
Sein markantes Gesicht war interessant … na schön, wenn ich ehrlich sein soll, sah er unverschämt gut aus und hatte eine durchaus anziehende Wirkung auf mich.
Doch ich war vorsichtig. Schließlich wusste ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte. Er war einen ganzen Kopf größer als ich und obwohl das Adrenalin nur so durch meinen Körper schoss, nagten Hunger und Müdigkeit an mir. Wenn es zu einem Kampf kam, konnte ich nur hoffen, flinker zu sein als er.
Obwohl uns nur noch wenige Schritte trennten, hörte ich ihn kaum. Er bewegte sich fast geräuschlos durch das Feld, jede seiner Bewegungen zeugte von unglaublicher Präzision und absoluter Körperbeherrschung.
Nicht mehr lange und er würde direkt vor mir stehen. Ich richtete mich auf und hielt den Dolch als Warnung in seine Richtung. Angriff war immer schon meine beste Verteidigung gewesen.
Der schwarzhaarige junge Mann blieb abrupt stehen und schaute erst mich, dann Mephisto überrascht an.
»Wer bist du und was machst du hier?«, fragte ich barsch.
»Mein Name ist Salem und ich bin auf dem Weg nach Soudale«, erklärte er mit ruhiger Stimme und hielt seine Hände dabei so hoch, dass ich sehen konnte, dass er unbewaffnet war. »Ich hatte gehofft, das hier wäre eine Abkürzung.« Ich musterte ihn misstrauisch. »Und wer bist du, wenn ich fragen darf? Und was, um Himmels willen, ist das neben dir? So eine große Katze habe ich ja noch nie gesehen!«
Mephisto sah ihn beleidigt an. Er mochte es gar nicht, wenn man mit diesem Unterton über ihn sprach.
»Mein Name ist Felis, das ist Mephisto. Wir sind ebenfalls auf dem Weg nach Soudale.«
»Ich will euch nichts Böses, glaube mir. Ich bin nur ein Reisender.«
Ich schaute zweifelnd zu Mephisto – hatte der Kater eben etwa genickt?! Himmel, war ich übermüdet!
Angespannt begann ich die Stelle zwischen meinen Augen zu massieren. Ein dumpfer Schmerz begann sich allmählich dahinter auszubreiten.
Zögerlich steckte ich den Dolch in meine Jackentasche und fröstelte, als ein eisiger Windstoß durch das Feld fegte und sich die Sonnenblumen zu einem neuen wilden Tanz erhoben.
»Wir sollten uns beeilen, es fängt bald an zu regnen«, meinte ich und setzte mich ohne eine Antwort abzuwarten in Bewegung.
Nach wenigen Schritten liefen Mephisto links und Salem rechts von mir. Über uns flog ein Rabe durch die Luft; eine Feder an seinem Kopf war ganz weiß.
»Ist es für ein Mädchen nicht gefährlich ganz alleine zu reisen?«
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mich Salem eingehend musterte.
»Nicht gefährlicher als für dich«, antwortete ich kurz angebunden, worauf der junge Mann amüsiert in sich hineingrinste.
»Ich habe noch nie so einen großen Kater gesehen. Mephisto, richtig? Wo kommt er her?«
Mit meiner Ruhe schien es aus und vorbei. Unbeeindruckt von meiner abweisenden Art stellte Salem seitdem wir gemeinsam durch das Feld liefen eine Frage nach der anderen.
»Die Katzen kamen mit einem Schiff. Angeblich stammen sie von einer Insel, weit weg von Hyra. Sie sind klüger als normale Katzen und mögen die Gesellschaft von uns Menschen. Sie sind nicht gerne allein.«
»Er ist sehr schön.«
Ich nickte und betrachtete lächelnd meinen treuen Begleiter. Es stimmte, Mephisto war ein sehr schönes Tier. Sein langes Fell war schwarz und weiß und das Muster um Augen und Ohren erinnerte an eine dunkle Räubermaske.
Der Kater liebte es, einen mit diesen großen bernsteinfarbenen Augen so lange tadelnd anzustarren, bis man schuldbewusst den Blick senkte. Ich hatte oft das Gefühl, dass Mephisto klüger war, als ich mir einzugestehen wagte.
»Woher kommst du, Felis?«
»Ich komme aus Abnoba«, antwortete ich und Salem betrachtete mich aufmerksam.
»Oh, ein Waldmädchen also? Dann stimmt es tatsächlich, was man sich so sagt.«
»Was sagt man sich denn?«
»Dass eure Augen aus Gold sind.«
»Woher kommst du?«, wollte ich wissen.
»Aus Inli.«
»Aus dem Kloster?«
»Ja.«
»Deiner dunklen Kleidung nach zu urteilen, gehörst du zur königlichen Leibgarde«, vermutete ich. »Bist du ein Schwarzer Soldat?«
Er nickte.
»Gehört der Rabe dir?«, erkundigte ich mich, doch Salem schwieg, während ich den Himmel nach dem Vogel mit der weißen Feder am Kopf absuchte. Mephisto sah ebenfalls hoch. Allerdings lag in seinem Blick nicht nur Neugierde, sondern auch Appetit. »Dann stimmt es also, was man sich so sagt«, schmunzelte ich und der Soldat grinste, als ich seine Worte wiederholte.
»Ist dir auf deiner Reise ein Angstfresser begegnet?«, wechselte er unauffällig das Thema und bei dem Namen lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.
Obwohl ich mich immer bemüht hatte, bis Sonnenuntergang eine Siedlung zu erreichen, hatte ich einmal die Wegstrecke unterschätzt und eine Nacht im Freien verbringen müssen. Bei Einbruch der Dunkelheit war ich vorsichtshalber auf einen hohen Baum geklettert und hatte auf einem seiner breiten Äste geschlafen.
In dieser Nacht hätte ich schwören können, dass ich unter mir etwas gehört hatte, dass ich nicht alleine gewesen war …
»Nein, mir ist kein Angstfresser begegnet«, antwortete ich. Zumindest nicht direkt. »Und dir?«
»Ja, einige. Ich habe sogar das Gefühl, dass es von Nacht zu Nacht mehr werden.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
Ein Abend in Micks Schänke, die etwa zwei Tagesmärsche westlich von Abnoba lag und man kannte jedes Gerücht und alle Neuigkeiten, die man sich in letzter Zeit so auf Hyras Straßen erzählte.
Endlich hatten wir das Sonnenblumenfeld durchquert und am Horizont erschienen Soudales Umrisse. Ein Hauch von Lavendel lag in der Luft.
Gedankenverloren blickte ich zu Salem hinüber und musterte seine schwarze Jacke. Sie war wesentlich dicker als meine und aus gefärbter, hochwertiger Baumwolle. Meine Augen wanderten höher, als sich Salem eine Strähne aus der Stirn strich. Obwohl seine Haare nicht sonderlich lang waren, fielen sie ihm immer wieder ins Gesicht.
Salem bemerkte, dass ich ihn beobachtete und sah mich fragend an.
»Was machst du in Soudale?«, stammelte ich und betrachtete angestrengt meine Fingernägel.
»Ich muss eine Seifenlieferung für das Kloster in Auftrag geben und mit dem Kaufmann einen anständigen Preis verhandeln«, meinte der Soldat und während er sprach, fielen die ersten Regentropfen vom Himmel.
»Lebst du schon lange in Inli?«
»Nein, noch nicht lange. Seit zwei Jahren erst.«
Am liebsten hätte ich ihn gefragt, wie ernst er es als Schwarzer Soldat mit der Enthaltsamkeit wirklich nahm. Er sah nämlich alles andere als unschuldig aus.
Widerwillig schluckte ich meine Neugierde hinunter und schlang stattdessen die Arme eng um meinen Oberkörper. Der Regen wurde immer stärker und trotz meiner Jacke spürte ich allmählich das kalte Wasser auf meiner Haut.
Der Soldat neben mir schien unter der Kapuze, die er sich über den Kopf gezogen hatte, dagegen trocken und gut gelaunt.
Während ich leise meine Jacke verfluchte, fiel mein Blick auf Mephisto und ich lachte laut.
»Was ist?«, fragte Salem.
»Schau dir Mephisto mal an!«, prustete ich.
Mephistos langes, sonst so fülliges Fell klebte eng an seinem schmalen Katzenkörper, die langen Ohrpinsel hingen in feinen Bögen nach unten und seine Schwanzspitze tropfte ununterbrochen. Der Kater schüttelte sich und kniff beleidigt die Augen zusammen.
Salem grinste breit, doch als er aufsah, verschwand sein Lächeln schlagartig.
»Deine Lippen sind ja ganz blau! Wieso sagst du nichts? Hier, nimm meine Jacke.«
»Nein danke«, wehrte ich mich und schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind doch gleich da. Behalte sie.«
Der Soldat ignorierte mich, zog seine Jacke aus und legte sie einfach um meine Schultern. Es ging so schnell, dass ich gar nicht protestieren konnte und dann hüllte mich auch schon diese wundervolle, warme, kuschelige und trockene Jacke ein. Sie roch so gut.
»Möchtest du dann wenigstens meine Jacke haben?«, bot ich an.
»Danke, aber ich möchte nicht noch nasser werden«, neckte er mich und zwinkerte freundlich.
Wie jede größere Stadt umgaben Soudales Grenzen dicke Schutzmauern, die man lediglich durch vier Haupttore passieren konnte. Durch diese Tore verliefen auch die breiten Hauptstraßen, die sich im Kern der Lavendelstadt in einem eindrucksvollen Marktplatz bündelten.
Als Salem und ich das Osttor durchquerten, regnete es noch immer in Strömen und wir eilten durch die engen Gassen bis wir einen Dachvorsprung fanden, der uns ein wenig Schutz bot.
Fasziniert beobachtete ich die kleinen Wassertropfen, die sich in Salems Augenbrauen verfangen hatten und jeden Moment auf seine Wangen fallen würden.
»Da fällt mir ein, ich habe noch gar nicht gefragt, was du hier eigentlich machst, Felis«, erkundigte er sich, während er sich die nassen Haare aus dem Gesicht strich. »Was führt dich nach Soudale?«
»Ich bin hier um ein Buch zu kaufen«, erklärte ich, zog widerwillig seine warme Jacke aus und hielt sie ihm mit einem dankbaren Lächeln entgegen.
»Ein Buch?«, wiederholte er ungläubig und griff nach der Jacke. »Du gehst so einen weiten Weg für ein Buch?«
»In Soudale gibt es den besten Buchladen im ganzen Westen!«, schwärmte ich. »Und ich muss es schließlich wissen, ich bin die Buchhändlerin der Königin von Abnoba.«
»Wenn du Bücher so magst, solltest du unbedingt nach Inli kommen. Wir haben die größte Bibliothek des Landes.«
»Ich weiß, aber als Frau ist es schwierig das Kloster ohne Grund zu betreten.«
»Nicht, wenn du meine Cousine bist«, widersprach Salem und sein vielsagendes Lächeln erinnerte wenig an einen frommen Mönch. Hatte ich schon erwähnt, dass der Schwarze Soldat alles andere als unschuldig zu sein schien?
»Vielleicht statte ich Inli tatsächlich einmal einen Besuch ab und unsere Wege kreuzen sich wieder.« Mit diesen Worten hielt ich ihm meine Hand hin.
»Das werden sie sicherlich«, versicherte er mir und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.
Damals hatte ich ja nicht ahnen können, wie Recht er mit seinen Worten haben sollte.
Ich eilte durch Soudales Gassen, Mephisto dicht auf den Fersen. Es war aufregend wieder hier zu sein. Was hatte sich alles verändert? Was war noch vertraut? Zeit hinterließ immer Spuren.
Ich beschleunigte meine Schritte, denn der herabfallende Regen schien nicht enden zu wollen und meine durchweichte Jacke schütze mich weder vor Nässe noch Kälte.
Salems Geruch hing in meiner Kleidung und folgte mir wie ein unsichtbarer Schatten.
Endlich erreichte ich den großen Brunnen, der die Mitte des Marktplatzes markierte; den Dreh- und Angelpunkt der Stadt. Hier wurde verhandelt, gefeilscht und manchmal auch geprügelt – was der guten Stimmung allerdings keinen Abbruch tat. Nach der Schlägerei klopfte man sich einfach den Straßenstaub aus der Kleidung, schlug dem anderen versöhnlich auf den Rücken und lud sich gegenseitig zu einem Bier in der nächstbesten Schänke ein.
Als ich endlich das Gasthaus erspähte, das ich gesucht hatte, rannte ich quer über den Marktplatz darauf zu. Ich war schon einmal dort gewesen. Das Essen war nicht ganz billig, schmeckte aber fabelhaft.
»Bleib dicht bei mir«, befahl ich Mephisto, als wir den Eingang erreichten und öffnete hastig die Tür, um dem Regen zu entkommen.
Das Erste, was mir auffiel, war die behagliche Wärme, das Zweite, der vielversprechende Duft, der aus der Küche zu mir herüberwehte. Ich fühlte mich sofort heimisch.
Der Raum war groß und voll gestopft mit Tischen, Stühlen und Holzbänken. An den Wänden hingen Bilder, die die Ernte in all ihrer Vielfältigkeit zeigten. Die Weizenernte, die Roggenernte, die Haferernte, ein Mann erntete allein, viele Männer ernteten zusammen, eine Frau half zwei Männern bei der Ernte – und so ging es endlos weiter.
Der Tresen, überladen mit bunten Flaschen und heruntergebrannten Kerzen, befand sich am anderen Ende des Raums. Dahinter war die Tür zur Küche.
Sah man an dem Tresen vorbei, konnte man eine schmale Treppe erkennen, die in die oberen Stockwerke des Hauses führte. Dort gab es Gästezimmer, die man für die Nacht mieten konnte.
Ich entschied mich für den freien Tisch an der Feuerstelle und bis auf zwei Jungs, die in einer Ecke Karten spielten, waren Mephisto und ich die einzigen Gäste.
Halb erfroren streckte ich mein Gesicht und meine kalten Hände dem kleinen Feuer, das in der Wandnische prasselte, entgegen. Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen und genoss den hellen Schein der Flammen, der hinter meinen Lidern tanzte.
Gedankenverloren lauschte ich den Stimmen der jungen Männer, die nicht weit von uns saßen. Völlig in ihr Spiel vertieft, hatten sie wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, dass jemand den Raum betreten hatte.
Während ich meine tauben Finger massierte, sah ich mir die Burschen genauer an. Der jüngere der beiden war sehr dünn und hatte auffallend lange Arme und Beine. Dem anderen hingen die zotteligen Haare tief ins Gesicht und ich bezweifelte, dass er die Karten auf dem Tisch durch seinen dichten Haarvorhang überhaupt erkennen konnte.
»Ich spiele einen Blitzschlag auf deinen Elfen!«, triumphierte der Dünne.
»Dann spiele ich auf den Elfen einen Riesenwuchs«, konterte sein Gegenüber mit den Zottelhaaren. »Ha, war wohl nix!«
Obwohl ich kein einziges Wort verstand, ließ mich ihre kindliche Begeisterung schmunzeln.
Gut gelaunt kraulte ich Mephisto am Kopf, doch der Kater hatte keine Zeit für Streicheleinheiten. Er war mit seinem nassen Fell beschäftigt. Irgendwo gab es sicher noch ein Haar, das noch nicht so lag, wie er es wollte. Er war da sehr penibel.
Die Küchentür schwang auf und eine dicke Frau rauschte heraus. Von meinen früheren Besuchen wusste ich, dass sie die Besitzerin der Gaststätte war. Ihre unbändigen Locken standen wild von ihrem Kopf ab und ihre kleinen Augen lagen tief in einem runden Mondgesicht. Die schmalen Lippen umspielte ein warmes mütterliches Lächeln und das beachtliche Doppelkinn tanzte im Takt ihrer kurzen Schritte auf und ab.
Als die Wirtin zu mir herüberkam, folgte ihr ein köstlicher Essensgeruch aus der Küche und mir lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen.
»Hallo Liebes«, begrüßte sie mich und ihr Doppelkinn überschlug sich geradezu. »Was darf ich dir bringen?«
»Hallo, ich nehme einmal das Tagesgericht, bitte«, meinte ich, ohne zu wissen, was ich da gerade bestellte. Es war mir auch herzlich egal, hauptsache ich konnte es essen. »Und eine Suppe. Ihr habt auch Suppen, oder?«
»Natürlich haben wir Suppen. Heute gibt es eine herzhafte Lauchsuppe. Sie schmeckt ganz ausgezeichnet!«
»Genau so eine nehme ich!«
»Sehr gute Wahl!«, beteuerte sie. »Kann ich deinem Freund auch etwas Gutes tun?«
Die Besitzerin hatte ein großes Herz für Tiere, was ich bei meinen letzten Aufenthalten schon sehr zu schätzen gewusst hatte. Nicht jedes Gasthaus duldete Katzen, schon gar nicht, wenn sie doppelt so groß wie gewöhnlich waren.
Ich sah zu Mephisto, der sich unbeirrt weiterputzte und uns gar nicht beachtete.
»Vielleicht etwas Käse? Das liebt er. Und ein Schälchen Wasser. Das wäre sehr nett, danke.«
»Natürlich, Liebes«, zwitscherte die füllige Frau und verschwand wieder in der Küche.
Der Teller mit dem heißen Essen hatte die Tischoberfläche kaum berührt, stürzte ich mich auch schon gierig darauf. Ich verbrannte mir zwar die Zunge, aber das war es wert. Es schmeckte köstlich! Mephisto verschlang seinen Käse mindestens genauso schnell.
Als ich bezahlte, fragte ich die Wirtin nach einem Zimmer und ich hatte Glück! Eins war noch frei.
Dankbar folgte ich ihr zur Treppe und während sie mit ihrem beachtlichen Körperumfang vor Mephisto und mir die Stufen emporstieg, fürchtete ich, dass sie in dem schmalen Gang stecken bleiben würde. An manchen Stellen wurde es auch gefährlich eng, doch zu meiner Erleichterung schafften wir es ohne unangenehme Zwischenfälle in den ersten Stock und sie gab mir den Schlüssel zu meinem Zimmer, an dessen Tür eine geschwungene schwarze Acht glänzte. Meine Lieblingszahl.
»Wenn du etwas brauchst, lass es mich wissen, Liebes«, keuchte die Wirtin. Ihr Kopf war rot angelaufen und die Locken klebten an ihrer verschwitzten Stirn.
Schwerfällig beugte sie sich zu Mephisto hinunter, der sie neugierig beobachtete und sagte: »Du bist eine brave Katze und zerkratzt mir nicht meine schönen Möbel, ja?«
»Keine Sorge, Mephisto macht so etwas nicht«, beruhigte ich sie.
»Braves Kätzchen«, tätschelte sie zufrieden Mephistos Kopf, der die Geste widerwillig über sich ergehen ließ. »Wenn du abreist, lege den Schlüssel einfach auf den Türrahmen.«
Ich bezahlte für zwei Nächte im Voraus und nachdem sie uns einen schönen Abend gewünscht hatte, verschwand die Wirtin fröhlich winkend wieder nach unten.
Ich öffnete die Tür, während Mephisto ungeduldig um meine Füße trippelte und sobald der Spalt nur ansatzweise groß genug war, zwängte sich der Kater hindurch. Ich folgte ihm und schloss hinter mir ab.
Als ich das leise Klicken hörte, spürte ich wie die Anstrengung des Tages von mir abfiel und mich augenblicklich bleierne Müdigkeit überkam.
An die Tür gelehnt ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen.
Ich entdeckte zwei kleine Fenster, durch die ich die Umrisse des Marktplatzbrunnens erkennen konnte und einen kleinen Sessel, der direkt davor stand und von Mephisto bereits in Beschlag genommen wurde. Zu meiner Linken wartete ein einladendes Bett und ein kleiner Ofen.
Schwerfällig stieß ich mich ab und entzündete ein Feuer.
Während ich meine Finger über den Flammen wärmte, bemerkte ich eine unscheinbare Tür am anderen Ende des Raums. Ich schlenderte hinüber und als ich sie öffnete, traute ich meinen Augen kaum. Dahinter stand die wohl größte Badewanne, die ich je gesehen hatte! Sie beschlagnahmte fast die Hälfte des gesamten Badezimmers!
Zukünftig würde ich während meiner Aufenthalte in Soudale nur noch Zimmer Nummer Acht beziehen, so viel stand fest.
Ich ließ sofort heißes Wasser ein und schälte mich aus meiner noch immer klammen Kleidung, die ich unachtsam auf den Boden fallen ließ.
Auf einem Schränkchen neben der Wanne fand ich eine kleine Auswahl verschiedener Seifenstücke. Wahllos warf ich zwei von ihnen in das Wasser und sie waren kaum auf den Grund gesunken, verbreiteten sie auch schon ihren himmlischen Duft. Natürlich rochen sie nach Lavendel.
Während sich die Wanne langsam mit Wasser füllte, musterte ich mich in dem großen Wandspiegel, den ich auf der anderen Seite des Zimmers entdeckt hatte.
Ich war weder dick, noch dünn, weder groß, noch klein. Ich war weder mit außergewöhnlicher Schönheit gesegnet, noch war ich hässlich. Das Bemerkenswerteste an meiner Erscheinung waren sicherlich die goldenen Augen.
Müde wandte ich mich von meinem Spiegelbild ab und öffnete mit einem geübten Griff den Knoten auf meinem Kopf, so dass meine Haare in langen, schwarzen Wellen über meinen Rücken fielen.
Danach drehte ich den Hahn zu, stieg vorsichtig in die Wanne und ließ mich mit einem zufriedenen Seufzer in das heiße Wasser sinken. Ich spürte, wie sich meine verkrampften Muskeln augenblicklich entspannten und schloss lächelnd die Augen, während ich meine Wange behutsam auf den kühlen Wannenrand legte.
Meine Gedanken wanderten zu dem Schwarzen Soldaten aus dem Sonnenblumenfeld, als mich plötzlich ein lautes, schmatzendes Geräusch aufschreckte.
Ich blinzelte verwundert und erkannte Mephisto, der seine nasse Pfote genüsslich ableckte.
»Mephisto!«, schimpfte ich und verzog angewidert das Gesicht, worauf mich der Kater einen kurzen Moment verständnislos anstarrte, um sich anschließend wieder meinem Badewasser zu widmen.
Frisch gebadet und todmüde zog ich mir ein paar kurze Hosen und ein Hemd an, das ich in einem der Badeschränke gefunden hatte. Meine Sachen hängte ich zum Trocknen auf den Sessel, den ich mit letzter Kraft näher zur Feuerstelle rückte.
Schließlich ließ ich mich mit einem herzhaften Gähnen ins Bett fallen und während ich dem gleichmäßigen Prasseln des Regens lauschte, schlief ich ein.