Читать книгу Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien - Tino Hemmann - Страница 11
Internationaler Luftraum 18. August
ОглавлениеStokan Vujasinović, ein knapp fünfzigjähriger Serbe, saß am Bullauge des Fliegers und schaute hinaus auf den leeren, langweiligen Flughafen, dessen Areal zwischen Leipzig und Halle in Mitteldeutschland lag. Hier starteten und landeten nicht nur unzählige DHL-Flieger. Auch die NATO, speziell die Amerikaner, nutzte diesen östlichen deutschen Flugplatz, um Versorgungsgüter, Waffen und frische, junge Kämpfer in ihre Besatzungsgebiete zu bringen.
Unbewusst verzog der stoppelbärtige Mann das Gesicht, an dessen Kinn eine trotzdem gut zu erkennende Narbe prangte.
»Hallo«, sagte eine junge Stimme.
Vujasinović schaute nach oben. Na prima! Ein deutscher Jugendlicher auf dem Weg in den Urlaub. »Hey, pozdrav!«, antwortete der Serbe in einer englisch-serbischen Wortkreation, die er sehr häufig benutzte.
»Ich habe 12 B. Ist das der Sitz in der Mitte?«, fragte der Junge, der einen Rucksack in den Händen hielt, den er zunächst auf dem Sitz neben dem Gang abstellte und schließlich öffnete.
»Ja, B ist in der Mitte. Was ist, willst du gern ans Fenster? Mir ist das egal.«
Der Junge lächelte. »Mir auch. Ich sehe eh nichts. Außerdem, bei Final Destination, also, ich meine beim ersten Teil, da sind zuerst alle die rausgeflogen, die direkt an den Fenstern saßen. Ich meine, als das Flugzeug gleich am Anfang vom Film explodiert ist.«
Stokan Vujasinović betrachtete das Gesicht des Jungen und erblickte nun auch den Blindenstock. »Was denn, du bist blind?«, fragte er leise und mit deutlich erkennbarem Akzent.
Fedor schnitt eine für ihn typische, fast einstudiert wirkende Grimasse. »Man kann eben nicht alles haben. Ich komm aber ganz gut damit zurecht.«
»Du bist blind und hast trotzdem Final Destination gesehen? Wie heißt du? Fliegst du ganz allein nach Kroatien?«
Wenigstens Vujasinovićs letzte Frage wurde augenblicklich beantwortet. Ein verdammt kräftiger Kerl schob sich durch den schmalen Mittelgang und fragte den Jungen: »Ich leg den Rucksack ins Gepäckfach. Brauchst du noch was, Fedor?«
Der Junge nahm aus dem geöffneten Rucksack das iPad, die Bluetooth-Braillezeile und das Headset heraus und verschloss den Rucksack wieder. Der Vater verstaute das Handgepäck und den Langstock, fuhr dem Jungen über den Kopf und meinte: »Wenn was ist, dann komm vor zu uns. Beim Start und bei der Landung musst du dein iPad ausmachen.«
»Papa! Ich fliege doch nicht das erste Mal.« Fedor setzte sich auf den mittleren Platz und nahm das iPad und die Braillezeile auf den Schoß. Noch einmal spürte er ein sanftes Klopfen auf seiner Schulter, worauf er flüsterte: »Ich komm schon klar, Papa.«
Sorokin nickte dem Mann neben Fedor zu und fing Anton auf, der gerade durch den Gang flitzte und sehr laut nach ihm rief. Der Hüne hob den kleinen Kerl hoch und trug ihn zurück zu seinem Platz.
»Die meisten wissen das nicht. Es gibt auch Fernsehen für Blinde. Da wird einem erklärt, was gerade zu sehen ist. Das sind manchmal verdammt viele Informationen auf einmal, vor allem dann, wenn die Schauspieler gerade reden. Ist aber besser als nichts«, erklärte der Junge.
»Du heißt also Fedor? Und wie noch?«
»Sorokin.«
»Und wo geht’s hin?«, fragte der Mann neben ihm, während er aus dem Bullauge schaute und einen Gepäcktransporter beobachtete, der mit drei leeren Hängern über den Beton raste.
»Ins DVR-Hotel in der Ferienanlage Borik«, antwortete Fedor und erklärte sofort: »Wir sind fünf. Sie hatten aber keine zusammenhängenden Plätze mehr. Ist aber nicht so schlimm. Anton und Natascha können nämlich mächtig nerven.«
»Ihr macht Urlaub in Kroatien?«
»Ja.« Fedors Finger fuhren über das iPad, das noch ausgeschaltet war, seine Wangen färbten sich ein wenig rot. »Urlaub.«
»Euren Namen nach seid ihr aber auch nicht aus Deutschland?«, fragte Vujasinović.
»Ja und nein. Wir sind offiziell Deutsche. Aber ich wurde in Russland geboren, weit im Osten, am Ural. Und Mama und die beiden Kleinen kommen aus Moskau.«
»Du sprichst gut Deutsch. Bei dir hört man kein bisschen, dass du aus Russland stammst. Fedor heißt du?«
»Ja. Ich war noch ziemlich winzig, als ich Deutscher wurde. Und Sie?« Der Junge drehte seinen Kopf ein wenig zu diesem Mann hin, nicht, um ihn zu sehen, sondern um ihn zu riechen. Er kannte den Duft von dessen Parfüm. Jekaterina hatte ihrem Mann zu Weihnachten ein Duftwasser geschenkt. Das war nicht so gut. Allerdings brachte sie einige Gratisproben mit. Und die hatte Fedor getestet. Eine gefiel der neuen Mutter besonders gut. Und auch Fedor genoss den Geruch, der tagelang an ihm haften blieb. Das Parfüm trug den lustigen Namen »Bang Bang« und roch nach verschiedenen Dingen, die Fedors feiner Geruchssinn speicherte. Er atmete in diesem Moment durch die Nase ein und verdrängte die meist unangenehmen Gerüche im Inneren des Fliegers: die des Kaffees, die der Toiletten und vor allem die der angstschwitzenden Passagiere.
»Ich heiße Stokan Vujasinović. Aber sag einfach Stokan zu mir.«
Die Nasenflügel des blinden Jungen bebten kaum merklich. Er roch frische Zitrone. »Stokan?«, flüsterte Fedor. »Ist das ein kroatischer Name?«
»Nicht nur.«
Nun erkannte Fedor eine Fenchelnote. »Sind Sie denn überhaupt aus Kroatien?«
»Nein. Ich fliege geschäftlich hin. Ich bin aus Novi Sad. Kennst du die Stadt?«
Eine herbe, erdige Note: Fedor hatte einst lange suchen müssen, bis er herausfand, zu welcher Pflanze dieser Duft gehörte. Es handelte sich um schwarzes Kardamom, einem in Nepal und Indien angebauten Ingwergewächs, dessen Samen zu einem Gewürz verarbeitet wurde, das deutlich nach Nadelholz roch und schmeckte. Die Parfümindustrie fand den Geruch männlich und setzte ihn dezent ein. Fedor erkannte den Geruch aber auch bei bestimmtem Gebäck wieder, zum Beispiel bei Pfefferkuchen und Spekulatius. – »Novi Sad. Ich glaube ja. Das liegt doch in Serbien? An …, an der Donau?«
»Korrekt. Woher weißt du das von meiner Geburtsstadt?«
Zuletzt war da ein Hauch von Muscon, dem künstlich hergestellten Duftstoff des Moschus’. »Aus der Schule«, antwortete Fedor und schien nun wieder die Rückenlehne des Sitzes vor sich anzustarren.
»Und was haben sie euch erzählt in der Schule? Was sagen sie über Novi Sad?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Es spielte – glaube ich wenigstens – eine strategisch wichtige Rolle im Jugoslawienkrieg.«
Jemand aus dem Cockpit meldete sich, erzählte die standardmäßigen Dinge, wie vor jedem Flug üblich, und kündigte den Vortrag der Stewardessen und Stewards zu den Sicherheitseinrichtungen im Flugzeug an.
Stokan Vujasinović beugte sich jetzt herüber. Seine Lippen kamen näher an Fedors linkes Ohr. »Novi Sad ist eine Stadt im Herzen von Serbien. Sie liegt in einer wunderschönen Gegend an der Donau. Strategisch wichtig? Vielleicht dachten das die Leute von der NATO. Sie wurde von den NATO-Kampfmaschinen völlig zerbombt. Sinnlos zerbombt. Ob sie nun eine strategische Rolle spielte oder nicht, die Stadt wird sich nie wieder davon erholen. Hörst du? Sag das deinem Lehrer.« Er lehnte sich wieder zurück. »Es ist trotzdem eine schöne Stadt. Fast alles wurde wieder aufgebaut. Vor allem die Autobahnbrücken.« Dann schwieg er.
Der letzte Passagier betrat den Flieger. Fedor konnte es nicht sehen, doch schon bald fühlen, denn es handelte sich dabei um eine etwa siebzigjährige, ausgesprochen gut beleibte Dame, deren Ausdünstungen den Geruch des Bang Bang schon bald überdeckten. Sie bat Fedor sofort darum, dass die Armlehne zwischen dem zweiten und dritten Sitz nicht heruntergeklappt würde, worauf sich der Junge einließ. Alsdann verdrängte sie ihn schon bald in Richtung des Platzes von Stokan Vujasinović, der Fedors Problem erkannte und seinerseits die Armlehne nach oben klappte. Gemeinsam belegten Fedor und Vujasinović nun anderthalb Plätze.
»Soll ich dir was verraten? Ich habe schreckliche Angst vor dem Fliegen«, hauchte Vujasinović in Fedors Ohr. »Weil ich jedes Mal befürchte, dass so was Fettes neben mir sitzen könnte. Debela kučka!«
Der Flieger rollte eine lange Strecke zur Startbahn, überquerte dabei sogar eine Autobahn. Das konnte der Junge jedoch nicht sehen. Stattdessen fragte er: »Was ist debela kučka?«
Vujasinović betrachtete grinsend die Dame neben Fedor und sagte laut und deutlich: »Debela kučka ist zhira suka.«
Fedor versuchte sich das Lachen zu verkneifen, was ihm nicht gänzlich gelang. Doch die Triebwerke heulten in diesem Moment auf und das Flugzeug erhöhte rasch die Geschwindigkeit. Überall klapperte es, Fedors Lachen war nicht zu hören, der Druck in den Ohren stieg, die Maschine war kurz darauf in der Luft.
»Zhira suka« bedeutete in der russischen Sprache so viel wie »fette Schlampe« im Deutschen oder eben »debela kučka« in Serbien.
»Sprechen die Menschen in Serbien und Kroatien verschiedene Sprachen?«, fragte Fedor, als ein wenig Ruhe eingekehrt war, während das Flugzeug noch aufstieg und die Dame neben ihm merkwürdige Töne von sich gab.
»Sprechen Sachsen und Bayern verschiedene Sprachen?« Vujasinović antwortete mit einer Gegenfrage.
Jetzt grinste Fedor. »Im Grunde genommen sprechen sie schon sehr unterschiedlich.«
»Nein, nein, nein. Sachsen und Bayern sprechen die deutsche Sprache. Dialekte machen den Unterschied. Und alle, die früher in Jugoslawien zusammengepfercht waren, sprechen Serbisch, bis auf ganz wenige Ausnahmen. Es gibt aber auch bei uns verschiedene Dialekte. Nur die Zeichen sind anders, kyrillische bei uns oder eben lateinische.«
»Also verstehen die in Kroatien mich, wenn ich ›debela kučka‹ sage?«
»Aber bestimmt verstehen die das. Du würdest es sofort merken, wenn man dir ein blaues Auge verpasst. Auch in Kroatien lässt sich niemand gern beschimpfen. Schon gar nicht die Frauen. Ich bilde mir ein, sie haben so einen – wie sagt man gleich – so einen Charme, den auch italienische Frauen haben.«
»Und wie sind italienische Frauen?«
Vujasinović grinste. »Na, du kannst Fragen stellen. Definitiv haben sie immer Recht. Und definitiv ist jede Frau die schönste Frau. Wenigstens behauptet das jede Frau von sich.«
»Auch die debela kučkas?«, fragte Fedor.
»Auch die debela kučkas«, antwortete der Serbe. »Ich vermute, gerade die debela kučkas.«
»Dann werde ich debela kučka wahrscheinlich nicht so oft sagen können.« Fast klang es, als wäre Fedor ein wenig enttäuscht.
»Glaube mir, das ist auch besser so.«
»Wie ist es sonst so in Kroatien?«
»Sonst?« Jetzt bedachte Vujasinović die Fragen des Jungen mit einem Lächeln. »Sonst ist es ganz nett, aber nicht so sehr schön wie Serbien. Kroatien hat eben das Meer in der Nähe. Und damit gibt es dort mehr Urlauber, die Geld ins Land bringen. Deshalb ist es für die Europäische Union interessanter als Serbien.«
»Schade nur, dass ich das Meer nicht sehen kann.«
»Ja. Das ist sehr schade. Wir beide können es aber nicht ändern. Ein Sprichwort bei uns sagt: ›Kako je, tako je!‹«
»Kako je, tako je? Das klingt lustig. Und was heißt das?«
»So wie es ist, ist es.«
Ein Weilchen schwieg der Junge. »Trotzdem«, sagte er schließlich, »jetzt kann ich mir alles ganz gut vorstellen.« Zufrieden nickte er vor sich hin. »Somit beherrsche ich also schon zwei Wörter Serbisch oder eben auch Kroatisch und einen Spruch. Kako je, tako je.«
»Zwei weitere Wörter sind wichtig und ganz einfach: Da und Ne. Ja und Nein. Und noch die zwei: Molim und Hvala – Bitte und Danke. Oder du sagst ›Hvala Vam‹.«
Fedor sprach nach. »Hvala Vam.« Das Hvala wurde am Anfang so ausgesprochen, wie Anton jedes »H« am Wortanfang aussprach.
»Genau. Und das heißt ›Vielen Dank‹.«
»Hvala Vam«, wiederholte Fedor, »für den Crashkurs in Serbisch und Kroatisch.«
Ein Tonsignal erklang.
»Molim, molim. Jetzt kannst du jedenfalls dein iPad benutzen«, sagte Vujasinović.
»Ich weiß«, antwortete Fedor. »Die Anschnallzeichen sind aus. Das Bingbong hat es mir verraten.«