Читать книгу Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien - Tino Hemmann - Страница 6

Udbina, RSK 21. November 1994

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Todor blickte sich nochmals um.

»Bitte, bitte! Pass gut auf dich auf, mein Junge!«, rief der Großvater ihm nach, der wie fast immer ein altes, abgewetztes Fell wegen seiner vom Rheuma geplagten Knochen trug. »Hörst du, Todor? Wenn die verfluchten Soldaten kommen, egal was für welche, dann versteckst du dich gut und gib bloß keinen Ton von dir! Hast du das kapiert, Todor?«

Während er bereits in die Pedale trat und mühevoll das Gleichgewicht auf dem für den Neunjährigen viel zu großen, klapprigen Drahtesel hielt, rief Todor zurück: »Da, da, Djede! Ich bin doch fast erwachsen!«

Es herrschte Krieg im Land. Lange Zeit konnte Todor nicht begreifen, warum das so war. Ihm wurde eingeredet, dass es in der Gegend viele Serben gäbe, das Land aber von Kroaten beherrscht würde, die von NATO-Soldaten im Auftrag der Vereinten Nationen unterstützt werden.

Als Todor nach dem Unterschied zwischen Serben und Kroaten gefragt hatte, konnte ihm niemand eine zufriedenstellende Antwort geben. Also sah er sich Niko und Kristina näher an, Geschwisterkinder, die mit ihm gemeinsam die Schule besuchten. Niko war knapp vierzehn und Kristina erst acht Jahre alt. Todor musste feststellen, dass sie weder anders aussahen noch dass sie sich anders verhielten als er. Und doch wurde Nikos Familie neuerdings von Todors Großvater fast abwertend als »elende faschistische Kroaten« bezeichnet.

»Das Schlimmste ist«, erklärte der Großvater, »dass Nikos Mutter zudem eine Muslime ist, die Nikos Vater eines Tages von einer Geschäftsreise mit nach Udbina schleppte.«

»Also ist Niko halb Kroate und halb Bosniake?«, fragte Todor.

Der Djede dachte einen Augenblick lang nach. Dann antwortete er: »Gewissermaßen … Ja, so ist es.«

»Bis jetzt hat aber niemand darüber gesprochen. Bis jetzt haben wir in der Schule gelernt, dass unser Land Jugoslawien heißt. Und plötzlich ist alles ganz anders. Das verstehe ich nicht.«

Der Großvater streichelte dem Jungen den Kopf. »Das ist nur, weil du noch so klein bist. Du kennst es nicht anders.«

Todor versuchte, all diese Neuigkeiten zu begreifen, was einige Stunden dauerte.

»Djede, warum sollen Niko und Kristina jetzt plötzlich anders sein als wir?«, fragte Todor am Abend, als er in seinem Bett lag und der Großvater wie immer ein kleines Gebet für den Jungen sprach.

»Es ist ihr Glauben, Todor, der sie anders macht«, sagte der Djede.

Damit schien er tatsächlich recht zu haben, denn Niko und Kristina besuchten eine andere Kirche als Todor. Sie glaubten zwar wie er an den lieben Gott, doch sprachen sie in einer katholischen Kirche mit ihm. Todor stellte allerdings fest, dass der alte Lehrer Bellic – angeblich selbst ein Serbe – den armen Niko in letzter Zeit nicht mehr so behandelte wie die anderen Schüler. Oftmals schrie er ihn wegen Lappalien an und bezeichnete ihn zudem als einen »hirnlosen Hosenwichser«, was Bellics Lieblingsschimpfwort war.

»Ist ein Jugoslawe ein Moslem, so ist er automatisch ein Bosniake«, erklärte der Großvater überzeugend. »Denn alle Katholiken sind Kroaten, sie glauben an den Papst und gehen in die römisch-katholische Kirche. Echte Serben aber folgen der orthodoxen Kirche, genau genommen der griechisch-orthodoxen Kirche. Ich und auch du – wir wurden nach der Taufe mit Myron und nicht mit Chrisam gesalbt, also sind wir Serben.«

Todor hatte lange überlegt. »Aber Djede, ob es nun Myron oder Chrisam war …« Dann fragte er: »Sie sind doch aber alle Jugoslawen, oder?«

»Mein Todor.« Djede streichelte seine Stirn. »Jugoslawien gibt es nicht mehr.«

»Ach, so ist das …« Der Junge machte sich zunächst Gedanken darüber, was wohl geschehen würde, wenn der Priester nach der Taufe einen serbischen Jungen versehentlich mit Chrisam einreiben würde. Wäre der Junge dann wegen einer Verwechslung plötzlich ein Kroate? Todor gähnte bei diesem Gedanken herzhaft und war schließlich eingeschlafen.

Schon rollte der Junge den Abhang hinunter, er musste den Lenker kräftig festhalten, denn überall auf dem unbefestigten Weg gab es Löcher und Höcker. Rechts am Lenker hing das Netz mit dem Wurst- und Brotpäckchen, gehalten von einer in der kalten Luft blau angelaufenen Hand.

Bereits seit über sechzig Stunden waren Todors Eltern nicht zu ihrem Kind und zu ihrem Hof in das Dorf Udbina zurückgekehrt. Sie arbeiteten als Zivilangestellte auf dem Flughafen in der Gespanschaft Lika-Senj, die vor allem von Serben und Kroaten bevölkert wurde und seit ein paar Jahren zur Republik Serbische Krajina gehörte. Hin und wieder, ganz besonders in den Nachtstunden, starteten die Flieger der Serben vom Flugplatz Udbina, um all den verhassten NATO-Faschisten den Garaus zu machen, wie sich Djede gern auszudrücken pflegte.

Allmählich ließ die Kraft in den Beinen des abgemagerten Jungen nach. Der Novemberwind blies ihm derb entgegen und eine lange Strecke hieß es bergaufwärts fahren. Todor biss die Zähne zusammen. Er fürchtete sich nicht vor Kriegern und Fliegern, sondern davor, dass wieder einmal ein Reifen platzen könnte. Die Fahrradschläuche waren schon etliche Male repariert worden und neue gab es nicht. Nicht während des Krieges. Im Grunde genommen gab es fast gar nichts. Mama verzweifelte regelrecht, denn Todor wuchs viel zu schnell aus seinen Sachen heraus. Und nirgends gab es etwas zum Anziehen für den Jungen!

»Darf ich etwa nicht mehr wachsen, nur weil Krieg ist?«, hatte Todor gefragt. Die Mutter hatte ihn an sich gedrückt und als Antwort bitterlich geweint.

Nun erreichte er die höchste Erhebung auf dem Weg zum Flugplatz. Todor sprang vom Rad und schaute hinunter zum Flughafen. Es schien alles ruhig zu sein, ein paar Autos standen am Tor, ein paar Fahrzeuge im Schutz der technischen Gebäude, einige weitere, meist kleine Agrarmaschinen, warteten auf dem Platz hinter dem flachen Hauptgebäude.

Mit etwas Anlauf kam das Fahrrad wieder ins Rollen, Todor schwang sich auf den durchgewetzten Sattel und fuhr mit steigender Geschwindigkeit hinab. Unten schwenkte er in großem Bogen auf einen Betonweg ein, der am westlichen Zaun des Flughafens entlangführte. In einhundertfünfzig Metern Entfernung sah der Junge die Werkstatt, in der Mutter und Vater beschäftigt waren. Ein Lächeln glitt über sein schmales, kindliches Gesicht – er hatte es fast geschafft! Kräftig trat Todor in die Pedale. Nur noch einhundert Meter bis zu dem kleinen, rostigen Tor, von dem die rote Farbe seit Langem abgeblättert und an dem das Schild mit der Aufschrift »PRESTANITIE!« längst verwittert war.

Der Junge zuckte zusammen. Rasch kam ein lautes Brummen näher! Weniger als fünfzig Meter vor dem Tor stoppte Todor erschrocken das Rad und blickte hinauf in den wolkigen Himmel. Das war kein startendes Flugzeug! Auch kein einzelnes der Serben, das zur Landung ansetzen wollte!

Ein Maschinengewehr hämmerte kräftig sein Lied. Die Melodie, die Todor längst kannte, kam vom Flugplatz, weniger als zweihundert Schritte entfernt. Der Junge rannte, das Rad schiebend, auf das Tor zu. Dabei rutschte ihm das Paket mit dem Essen vom Lenker und fiel auf den staubigen Boden. Er wendete hastig das Fahrrad. Ein Pedal schlug ihm gegen die nackte Wade und hinterließ eine blutende Schramme. Todor klaubte das Essenpaket auf und schaute erneut hinauf zum Himmel. Die dunklen, brummenden Punkte wurden rasch größer. Dem Lärm nach zu urteilen, musste es eine ganze Flotte von Kampfflugzeugen sein! Das waren garantiert keine serbischen Flieger! Dann brachten die Angreifer ihre tödliche Fracht auf den Weg. Raketengeschosse rauschten heran. Erste Detonationen erklangen, Dreck wurde aufgewirbelt und Rauchwolken stiegen über dem Flugplatz auf.

Ein scharfes Zischen bohrte sich in Todors Ohren. Etwas kam auf ihn zu und verfolgte ihn! Keine zehn Meter über dem Boden! Er gab dem Fahrrad einen Stoß, es rollte in den Graben, dann sprang Todor hinterher. Wenige Sekunden später schlug die Rakete in das Werkstattgebäude ein. Der Boden bebte, Todors Beine wurden unter Erde und Geröll begraben. Er hörte nichts mehr und fühlte nur die eiskalte Druckwelle. Um ihn herum wurden alte Bäume wie Strohhalme geknickt, Steine flogen als tödliche Geschosse umher. Es krachte und dröhnte. Staub erstickte seinen Atem. Der Junge griff mit den Armen ins Leere, wollte den eigenen Körper aus der Geröllumklammerung ziehen, doch die Kräfte verließen ihn rasch. Dann traf ein heftiger Schlag Todors Kopf und ließ ihn besinnungslos werden.

*

Als er zum zweiten Mal erwachte, schrie Todor. Er brüllte und schlug wild um sich. Er hörte nicht die Stimme des Großvaters, die den kleinen Todor beruhigen wollte. Er hörte lange Zeit nur ein bestialisches Rauschen und Fiepen. Er sah die Rakete auf sich zukommen. Immer und immer wieder.

Als dann das Rauschen in den Ohren endlich nachließ, weinte Todor nur noch leise.

Der Großvater streichelte unablässig Todors Schultern. Der Kopf des Jungen war komplett mit einer mäßig sauberen Binde umwickelt.

»Gott hab sie selig«, flüsterte der Großvater. »Sie sind alle tot, mein Junge. Gott hab sie selig.«

Genau drei Stunden und vierundvierzig Minuten hatte der Angriff gedauert. Dreißig britische, französische, niederländische und US-amerikanische Kampfflugzeuge machten unter dem Deckmantel der Operation Deny Flight den Flughafen von Udbina dem Erdboden gleich. Ein Racheakt für serbische Angriffe – hieß es später. Serben hätten mit ihren Kampfflugzeugen aus der Luft die Stellungen von UNPROFOR-Truppen der NATO im dreißig Kilometer entfernten Bihać beschossen. Angeblich waren sie von dem kleinen Flugplatz Udbina gestartet. Und die Antwort der NATO fiel verheerend aus. Alle Gebäude auf dem Flughafen und in der Umgebung wurden zerstört, sogar Wohnhäuser und Stallanlagen in Udbina. Sämtliche Zivilbeschäftigte, die sich auf dem Flugplatzgelände aufhielten, mussten mit ihrem Leben bezahlen, wurden zerrissen, verschüttet oder verbrannt.

Auch Todors Mutter. Und auch Todors Vater.

Die Eltern ließen den Neunjährigen mit einem ruinierten Glauben und einem gewaltigen Hassgefühl zurück.

Todors Djede starb nur einen Monat später, drei Tage vor Heiligabend, sein Körper und sein Geist waren nicht gewillt, die Trauer zu überleben.

Tage später, mitten in einem kalten Wintersturm, fanden Soldaten der VRS (Vojska Republike Srpske), auch bekannt als »Armee der bosnischen Serben«, den fast verhungerten und völlig verwahrlosten Todor zwischen den Trümmern des ehemaligen Flugplatzes, lethargisch nach der eigenen Vergangenheit suchend.

Der Mann in Uniform stand plötzlich vor dem, was von jenem Kind noch übrig war, er hielt eine Maschinenpistole im Anschlag und schwieg minutenlang.

Der Junge vor ihm saß einfach nur da und hauchte ein Kinderlied durch seine verkrusteten, geschwollenen Lippen. Immer und immer wieder. Eines, das ihm die Mutter so oft zum Einschlafen vorgesungen hatte.

»Spavaj u miru, dete moje …« – Schlaf in Frieden mein Kindchen …

Der Soldat der VRS trug den Namen Stokan Vujasinović. Er setzte sich erst neben das Kind und hörte lange zu. Dann drückte er den Jungen an sich und fragte laut, um das Fauchen des Windes zu übertönen: »He, Junge! Bist du ein Serbe?«

Erst Sekunden später kam die Frage bei Todor an. Er schaute den fremden Mann lange an, betrachtete dessen Waffe, dann die Stiefel, dann das Gesicht und schließlich nur noch die Augen. Letztendlich fiel sein Kopf auf die Schulter des Soldaten, lag darauf wie auf einem wärmenden Kissen. Und die Lippen hauchten in das Ohr des Mannes: »Ich wurde mit Myron gesalbt. Also muss ich wohl ein Serbe sein.«

*

Bereits sieben Monate später war der nun zehnjährige Todor davon überzeugt worden, dass all die muslimischen Bosniaken zweifelsfrei mit den NATO-Mördern unter einer Decke steckten. Ihm wurden immer wieder Geschichten über die Gräueltaten der Kroaten, Bosniaken und NATO-Soldaten erzählt, die unzählige Serben aus ihrer Heimat vertrieben und viele ermordet hätten.

Viele, viele Kilometer führte der Krieg den Jungen von der Heimat fort. Die Einheit, der Stokan angehörte, fuhr immer weiter gen Osten, fast bis zur neuen Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und dem regulären Serbien. Hier gab es ein von Bosnien beanspruchtes Außengebiet der VRS, das von den Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt worden war und von NATO-Soldaten kontrolliert wurde.

Todor lachte übertrieben herzlich und scheinbar zufrieden, als ihm eines Tages Stokan, einer der VRS-Soldaten, in einem Lager ganz in der Nähe von Potočari auf die Schulter klopfte und meinte: »Jetzt werden wir die bosnischen Mörderbanden endlich auslöschen! Ein für alle Mal! Diese verfluchten holländischen NATO-Soldaten scheißen sich ins Hemd. So groß ist ihre Angst. Wir kehren unsere Heimat sauber. Und du darfst uns dabei helfen, Todor.«

Wenige Tage später kam Stokan vorbei und winkte den Jungen zu sich. Todor fuhr daraufhin mit Stokan, dem er vertraute, in einem VW-Bus einem Tross aus Lkws und einem Linienbus hinterher.

Sie standen am Rand eines Wäldchens auf dem Feld, als Todor sich die Ohren zuhielt, denn mehrere ratternde Maschinenpistolen zersägten die nächtliche Ruhe.

Ein Mann, welcher kontrolliert hatte, ob die Gefangenen wirklich alle tot waren, näherte sich. »Da, nimm!«, forderte er plötzlich und reichte dem Zehnjährigen seine Waffe. »Schnell!«

Er zog den Jungen mit sich durch die Dunkelheit. Todor erblickte im Mondschein viele graue Körper von Männern, die mit aufgerissenen Mündern und Augen an Erdhaufen angelehnt saßen oder auf dem Boden lagen. Fast alle regten sich nicht, sie waren vermutlich tot. Todor sah sickerndes Blut, zerschossene Leiber, zerfetzte Köpfe oder aber bleiche Gesichter.

Ein bestialisches Brüllen ertönte! Der Junge sah sich für einen Augenblick um. Ein Radlader mit leuchtenden Scheinwerferaugen näherte sich mit gewaltigem Lärm.

Stokan Vujasinović ergriff Todors Jacke und zerrte ihn mit sich. »Es ist die Zeit deiner Rache! Da kommt schon der Bagger!« Er schob Todor vor sich her. »Hier! Der da!«, sagte er und zeigte auf einen jungen Burschen, welcher heulend seine zerfetzte Wange zeigte, zerrissen von einem Streifschuss, der den Jungen nicht hatte töten können. »Gib ihm den Gnadenschuss!«

Todor legte das Gewehr an die Schulter, entsicherte es und zielte auf den Kopf des Feindes. Er wartete noch, denn Kimme und Korn zitterten. Dann tauchten die Scheinwerfer des Radladers Todor und das Opfer in grelles Licht.

Einen Augenblick lang sah ihn dieser Fremde mit einem bekannten Gesicht an. Die Augen waren voller Schmerz. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Tränen rannen über sein Gesicht. Er trug eine Jeans und ein buntes Kinder-T-Shirt. Erst jetzt begriff Todor, dass dieser Junge nicht viel älter war als er selbst.

»Denk an deine Eltern und schieß endlich!«, rief Stokan.

Todor schloss für einen Moment die Augen und bewegte den Finger. Der Rückschlag des Kolbens warf ihn fast um. Der andere Junge gab keinen Ton von sich. Er starb einfach.

»Das hast du nun davon!«, brüllte Todor den toten Jungen an. »Du Idiot hast dir die falsche Seite ausgesucht! Das hast du nun davon! Verfluchter Idiot!« Er gab dem Soldaten wütend die Waffe zurück.

Todor stand in der Nähe, als der Radlader Gräben für die Leichen öffnete, diese dann zusammenschob und hineinschaufelte oder überrollte. Er drehte sich um, kotzte sich fast den Magen aus dem Leib, doch echte Trauer verspürte er nicht. Immer wieder sah er die aufgebahrten, verkohlten, zerfetzten und zerquetschten Leichen seiner geliebten Eltern vor sich. Diese Bilder verließen ihn niemals. Sie kamen in den Tag- und Nachtträumen zu ihm. Auch das Bild des flehenden Jungen.

Auch noch, als Todor längst erwachsen war.

Auf Wiedersehen, Bastard! (Proshchay, ublyudok!) 3 – Showdown in Kroatien

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