Читать книгу Der Kuss des Feindes - Titus Müller - Страница 5

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Die Strohsäcke von Vater und Pherenike knisterten nicht, beide lagen sie reglos und schliefen. So still war es in der Höhle, dass die Geräuschlosigkeit Savina auf die Ohren drückte. Sie setzte sich auf. Nie und nimmer hätte sie Jon den Kuss durchgehen lassen dürfen. Er hatte doch gemerkt, dass sie ihn nur halbherzig wegstieß. Was sollte er davon halten? Vielleicht lag er genauso wach wie sie, aber nicht, weil er sich Vorwürfe machte, wie sie es tat, sondern weil sich sein Herz vor Liebe zuschnürte. Wie konnte sie das ihrem besten Freund antun!

Sie blickte in die Schwärze, ihre Augen suchten den Tisch und die Sitzbänke. In der Dunkelheit tanzten farbige Staubkörner. Dass ihre Augen ihr die Staubkörner nur vorgaukelten, wusste sie. Trotzdem gefielen sie ihr. Rot, Blau, Grün, Violett, Gelb. Der Berg verschluckte alles Lichte, Helle, aber er hatte es nicht geschafft, die bunten Staubkörner zu verschlingen.

Savina fühlte nach ihren Schuhen, hob sie auf und drückte sie sich an den Bauch. Sie verließ das Bettlager. Mit nackten Füßen schlich sie über den Felsboden. Als sie die Wand spürte, tastete sie sich an ihr entlang bis zum Ausgang der Höhle und schlüpfte durch den Fellvorhang nach draußen.

Der Gang war ebenso finster. Erst an seinem Ende schimmerten die Wände von entferntem Fackellicht. Savina ging dem Lichtschein entgegen, immer noch barfuß, obwohl sich die Haut an ihren Füßen vor Kälte zusammenzog. Wo die Fackeln brannten, waren Wächter, die Wächter durften sie nicht hören. Es war verboten, die unterirdische Stadt zu verlassen.

In Friedenszeiten lebten sie draußen in der Sonne, aber wenn ein Angriff kam wie in diesem Sommer, nisteten sie sich im Berg ein, sie wurden Würmer, die ihre Gänge in den Stein fraßen. Alles in Korama bestand aus Stein, selbst die Sitzbänke in der Kirche.

Seit achtzig Jahren kamen die Araber, um sie auszurauben, Großvater war noch ein kleines Kind gewesen, als es begonnen hatte. Seitdem zogen die Araber in immer neuen Wellen heran und verwüsteten das Land.

Aber sie, Savina, war nicht bereit dazu, ein Steinwurm zu werden. Niemand hatte das Recht, sie einzusperren und ihr alles zu nehmen, was für sie die Tage lebenswert machte.

Bevor sie den Raum der Wächter erreichte, bog sie nach rechts ab und eilte eine kleine Treppe hinauf. Schwacher Lichtschein fiel aus einer der Wohnungen auf den Flur, offenbar kochte jemand mitten in der Nacht, es roch nach angebrannter Weizengrütze. Lautlos schlich sie an dem beleuchteten Wohnungseingang vorbei, bis sie den Schacht erreichte. Die Tritte, die dort in den Felsen gehauen waren, ließen sich im schummrigen Licht kaum erkennen. Geübt fanden ihre Finger und Zehen dennoch die richtigen Ritzen, und sie zog sich hinauf ins nächste Stockwerk der unterirdischen Stadt. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf diesem Weg nach oben kletterte.

Bei den Ställen war die Gefahr am größten, entdeckt zu werden. Die Ziegen und Schafe durften nicht unruhig werden, sonst schöpften die Wächter Verdacht. Savina hielt den Atem an und schlich an den Ställen vorbei. Ein Schaf blökte. Hufe scharrten. Aber das war nur leise gewesen, sie konnte sich getrost weiterwagen.

Wo der Gang an seiner engsten Stelle beinahe ihre Schultern berührte, stellte sie den Fuß auf einen Vorsprung in der Wand und fasste nach einem höhergelegenen Halt. Sie zog sich in den Lüftungsschacht hinauf. Steinbröckchen knirschten unter ihren Zehen. Plötzlich fiel Licht in den Gang.

Sie hielt still, lauschte. Schritte kamen näher. Ein bärtiger Wächter mit einer Fackel ging unter ihr hindurch. Savinas Arme zitterten vor Anstrengung, aber sie rührte sich nicht, bis der Mann fort war und nur noch ein schwacher Lichtschimmer weit hinten im Gang von ihm kündete.

Sie kletterte weiter den Schacht hinauf, setzte die Füße auf kleine Felsvorsprünge, zog sich mit den Händen höher und suchte neuen Halt. Der Schacht knickte zweimal ab, dort zwängten die Felswände ihren Brustkorb ein, als wollten sie versuchen, sie festzuhalten. Savina schob sich hindurch. Schließlich öffnete sich über ihr der Sternenhimmel. Sie stieg an einem Strauch vorbei nach draußen.

Die Mondsichel leuchtete hell und geheimnisvoll, umgeben von Tausenden Sternen. Savina zog die Schuhe an und tanzte den Berg hinab. Wie gern hätte sie ein Kleid aus nachtblauer Seide getragen. Sie war verbündet mit den Sternen und dem Mond, fühlte den Nachtwind auf der Haut und wilden Thymian an den Fußknöcheln.

Die Höhlenstadt erstickte und beengte sie. Nur hier draußen fand sie all das, was sie an die Höhlenwände malte: Gärten, Vögel, den Himmel. Sie trat an einen Baum heran und berührte seine Rinde. Sie war hart und rissig, und doch lebte der Baum. Was mochte er schon alles gesehen haben! Vielleicht war er ein junger Schössling gewesen, als ihr Volk noch ohne Furcht überirdisch lebte.

War das Gestrüpp dort hinten ein Vogelbeerbaum? Sie lief hin, pflückte eine Beere und steckte sie in den Mund. Als sie darauf biss, war die Beere so sauer, dass ihre Zähne ganz stumpf wurden und sich die Zunge verkrampfte. Savina spuckte auf den Boden. Eindeutig Vogelbeeren. Sie waren nur genießbar, wenn man sie kochte.

Sie pflückte weitere Beeren vom Vogelbeerbaum und steckte sie in den kleinen Beutel, der um ihren Hals hing. Morgen würde sie, wenn niemand zusah, den Saft auspressen und ihn mit Honig süßen. Sie würde ihn Großvater zu trinken geben, das trieb den Harn aus und half gegen die Gicht. Großvater konnte sich kaum noch rühren, er brauchte Linderung.

Niemand außer ihm wusste, dass sie ausbüxte, und selbst er hatte keine Ahnung, wie oft sie das tat. Sie liebte ihn, seine weichen Hände, die wässrigen Augen und die Art, wie er redete: bedächtig und mit altersrauer Stimme. Wenn er sie ansah, war sein Blick voller Güte und Wärme.

Arif saß ab. Er warf Layla die Zügel auf den Rücken. Sie trottete zum Rand der Steppe und begann zu grasen. Nach einem letzten prüfenden Blick trat er zwischen die Felskegel am Fuß der Berge.

Sie ragten haushoch empor wie die siebenstöckigen Lehmziegelgebäude im Jemen. Die Steinkegel hatten die Klagemäuler weit aufgerissen, Höhlen, in denen die Nacht pechschwarz war. Raubtiergestalten. Versteinerte Dschinngeister. Götzen. Sie sahen aus, als würden sie heisere böse Rufe ausstoßen, um ihn zu verraten.

Immer tiefer schlich er sich in das Labyrinth aus Felsen. War da eine Treppe? Sie lud ihn in einen der Schlünde ein, als strecke das Untier seine Zunge heraus und locke ihn in sein Maul.

Hier hatten die Christen gewohnt. Sie hatten die Felsen ausgehöhlt, um sie zu Häusern und Vorratskammern zu machen. Lautlos glitten Fledermäuse aus einem Augenloch der Felsen heraus, um in der Nacht zu jagen.

Troglodyten, so nannte man die Christen, die in dieser Gegend lebten. Es hieß, dass kein Gift der Welt sie töten könnte. Wenn eine Schlange einen Troglodyten biss, starb das Tier, nicht der Mensch.

Zu seinen Füßen schimmerte etwas Schwarzes. Er hob es auf. Es war ein Obsidianstein, glatt und angenehm lag er in der Hand und sah aus wie eine Träne aus Pech. Arif legte ihn zurück. Auf diesem Ort lastete ein Fluch, es war besser, er nahm nichts von hier an sich.

Arif betrat die Treppe. Sie gab nicht nach wie Zungenfleisch. Dicht an seinem Gesicht flatterte eine weitere Fledermaus vorüber. Er duckte sich und ging vorsichtig die Stufen hinauf. Dass die Troglodyten nicht vergiftet werden konnten, sei eine Legende, hatte Vater gesagt und in sämtliche Brunnen des Landstrichs Gift streuen lassen, außer in jene drei, die sein Heerlager bewachte. So wollte er die Christen aus ihren Verstecken herauszwingen. »Nimm einem Land das Wasser und es geht zugrunde. Jedes Dorf ist vom Wasser abhängig«, hatte Haroun erklärt.

Aber obwohl die Brunnen vergiftet waren, kamen die Troglodyten nicht heraus, und man fand auch keine Toten. Vielleicht, flüsterten die Krieger im Lager, stimmte es doch, dass Gift ihnen nichts anhaben könne.

Arif blieb stehen, wo der Kopf der Treppe in einen Hauseingang mündete, und lauschte. Er konnte kein Atmen hören. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, und er erkannte eine weitere Treppe, die im Inneren des Felsenhauses nach oben führte. Außerdem sah er etwas Dunkles am Boden. Er kauerte sich nieder und streckte die Hand aus. Seine Finger berührten scharfkantige Scherben. Ein zerborstener Tonkrug? Er stieg darüber hinweg und untersuchte den restlichen Höhlenboden. Nirgendwo lagen Matten oder Kissen. Die Troglodyten hatten alles in ihr Versteck mitgenommen, in jene finstere Schlucht, die der Vater nicht finden konnte.

Plötzlich meinte er, eine Gestalt zu sehen, die an der Rückwand stand. Angst kroch ihn an, er konnte sich nicht rühren. Die Gestalt bewegte sich genauso wenig. War es ein Dämon, der ihn lauernd beobachtete? Er umfasste den Talisman, den er um den Hals trug, und ging langsam rückwärts. Die Tonscherben krachten, von seinen Füßen zertreten. Er machte rasch kehrt und verließ den ausgehöhlten Steinkegel.

Draußen atmete er auf. Das war nichts gewesen, bloß ein gewöhnlicher Schatten. Dennoch, wenn er zur Felsöffnung hinaufsah, war ihm, als wehte ihn ein kalter Hauch an.

Er wandte sich nach links, dann wieder nach rechts. Zwischen den Steinkegeln verästelten sich enge Pfade und verwirrten ihn mit ihren Abzweigungen und Sackgassen. Was, wenn die Christen ihn längst beobachteten? Sein Puls beschleunigte sich. Es war ein Unterschied, ob man in ein Gebiet hineinschlich, um es auszuspähen, oder ob man darin herumirrte, immer in der Gefahr, Wachen in die Speerspitzen zu laufen.

Zwischen zwei versteinerten Dschinngeistern hindurch sah er einen Gebirgshang aufragen. Er war so froh, aus dem Labyrinth herausgefunden zu haben, dass er große Schritte machte und beinahe gegen die kleine Mauer aus behauenen Steinen lief, die sich vor ihm durch die Nacht zog. Er verharrte und strengte die Augen an, um im Dunkeln etwas zu erkennen. Jenseits der Mauer schien ein Garten zu liegen. Arif stieg über das Mäuerchen. Melonen wuchsen hier, pralle runde Köpfe. Er fand Kichererbsenkraut und Gurken. Eine Gurke brach er ab und biss hinein. Sand knirschte zwischen seinen Zähnen, aber die Gurke war von knackiger Frische. Ihr Inneres zerplatzte im Mund und floss wässrig in seine Backen. Fluch hin oder her –

Arif stockte.

Er befühlte erneut die Pflanze. Da waren nasse Abbruchstellen! Kurz zuvor war jemand hier gewesen und hatte Gurken geerntet. Es konnte kein Tier gewesen sein, ein Tier hätte nicht zwei Gurken bis zum Strunk säuberlich verspeist und die dritte unversehrt gelassen. Er sah sich um. Layla war ruhig gewesen, als er sie am Rand des Labyrinths zurückgelassen hatte. Sie witterte Mensch und Tier zuverlässig. Aber es musste jemand hier gewesen sein. Die Gurken selbst waren der Beweis dafür, solche knackigen Gurken gediehen nur, wenn man die Pflanzen bewässerte. Die Troglodyten haben ihre Gärten nicht aufgegeben, dachte er, sie sind noch in der Nähe. Er stand auf. Böse starrten ihn die dunklen Höhlenaugen der Felshäuser an.

Womöglich zielten die Troglodyten gerade mit Wurfspeeren auf ihn, bereit, sie zu schleudern, sobald er sich näherte. Er zog den Kopf ein, schlich gebückt bis zur Mauer. Lautlos sprang er hinüber und kroch im Schatten der Steindämonen in Richtung Berghang, dahin, wo er Layla zurückgelassen hatte. Am letzten Steinkegel hielt er inne und spähte aus.

Da war Layla.

Aber sie war nicht allein.

Ein Frau stand bei der Stute. Auf ihrem schwarzen Haar glänzte das Mondlicht, und sie streichelte der Stute den vernarbten Hals. »Du Armes«, sagte sie leise, »wer hat dich so misshandelt? Ich wäre an deiner Stelle auch abgehauen.«

Sie sprach Griechisch. Wie sie die Worte formte, unterschied sich sehr von der Aussprache, die ihn der Scheich in den Unterrichtsstunden gelehrt hatte – ihr Griechisch war nicht durch den harten arabischen Zungenschlag eingefärbt. Weich sprach sie die Wörter aus, als sei da ein schlafendes Kind, das sie nicht wecken wollte, und tätschelte dabei weiter Layla den Hals. Ihre schmalen Schultern waren von blasser Haut, auch die Hand auf Laylas Fell. Sie musste eine Troglodytin sein, es hieß, dass Troglodyten das Sonnenlicht mieden. Wie hatte sie es geschafft, sich der Stute zu nähern? Layla hätte scheuen müssen, sie hätte nach der Frau beißen müssen! Stattdessen stand sie ruhig da und ließ sich berühren.

Die Frau war jung, fast noch ein Mädchen, und sicher unverheiratet. Frauen in ihrem Alter hatten im Zelt zu bleiben, sie spazierten nicht allein im Freien herum, das gehörte sich nicht. Lief die Troglodytin wirklich ohne Begleitung durch die Nacht? Es war ihm unbegreiflich.

Die Frauen, die er kannte, trugen goldene Armreifen und Ohrringe. Diese trug keinen Schmuck, und doch war sie so schön wie der Mond.

»Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte sie. »Wirst du allein zurechtkommen? Du musst die Quellen meiden, die haben sie vergiftet. Friss das taufeuchte Gras. Dann passiert dir nichts.« Sie fuhr mit ihrer Hand über Laylas Kruppe und Flanken. »All die Narben! Ich fasse es nicht, dass sie dir das angetan haben. Araber sind Bestien.«

Die Mondfrau bückte sich, rupfte etwas Gras ab und bot es der Stute an. Layla hielt schnuppernd die Nüstern darüber. Schließlich nahm sie die Halme mit den weichen, behaarten Lippen auf und fraß sie.

»Lässt du mich aufsteigen? Ich hab noch nie auf einem Pferd gesessen.« Die Frau trat neben den Sattel und steckte ihren Fuß in den ledernen Steigbügel. Ein Zucken ging durch Laylas Körper. Die Stute sprang beiseite. Die Frau hing im Steigbügel fest und wurde mitgerissen. Kopfunter schleifte sie über den Boden.

Arif schnellte hoch. Er rannte hinterher, kürzte ab, indem er sich durch ein Gebüsch schlug, und sprang Layla mit ausgebreiteten Armen in den Weg. »Ruhig!«, befahl er. »Steh!« Layla versuchte, ihm auszuweichen, aber er fasste nach dem Zaumzeug und hielt die Stute fest.

Die Frau hing schreckensstarr im Steigbügel und sah ihn an. Endlich begann sie zu zappeln und befreite sich. Sie stand auf. In sicherer Entfernung klopfte sie sich das Gras vom Kleid. Ihr zartes Kinn und die gerade Nase wirkten anmutig, nur die Brauen, die beinahe über der Nase zusammenwuchsen, wölbten sich drohend.

Natürlich. Er hatte Arabisch gesprochen. Das hatte sie erschreckt. Er sagte in griechischer Sprache: »Mein Name ist Arif ibn Haroun ibn Abu Bishr ibn Asad.«

Sie verzog spöttisch den Mund. »Genug Namen für eine ganze Familie.«

»Wer bist du?«, fragte er. Als er sah, dass sie ihren Kopf massierte, fügte er hinzu: »Hast du dir wehgetan?«

»Geht schon.« Sie ließ den Kopf los. »Ich bin Savina. Du bist Araber, nicht wahr?«

»Ich komme aus dem Jazirat al-Arab.«

»Das bedeutet?«

»So heißt unsere große Halbinsel im Süden. Insel der Araber.«

Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Wenn es da so groß ist, warum bleibt ihr dann nicht dort? Warum kommt ihr hierher und wollt uns unser Land wegnehmen?«

Weil ihr zum Kaiserreich Byzanz gehört und Byzanz sich nicht unterwerfen will, wollte er sagen. Er brachte es nicht über die Lippen, während er in das bezaubernde Gesicht der Mondfrau sah.

Sie sagte: »Lass dich hier nicht mehr blicken! Die Wächter machen mit Arabern kurzen Prozess.« Sie drehte sich um und lief den Berg hinauf. Auf halber Höhe wandte sie sich noch einmal um. »Worauf wartest du? Verschwinde, ehe ich die Wächter rufe!«

Er blickte ihr weiter nach. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, saß er auf und schnalzte mit der Zunge. Zögerlich ritt die Stute an, als fiele es ihr schwer, die Mondfrau zu verlassen.

Der Kuss des Feindes

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