Читать книгу Der Kuss des Feindes - Titus Müller - Страница 8

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Kein Wort, Frau.« Arif gab seinem Flüstern eine warnende Schärfe. »Du bleibst, wo du bist, und hältst den Mund.«

Die Troglodyten mussten Licht gehabt haben, um sein Schwert zu finden. Sicher gingen sie nicht mit Fackeln nach draußen, sonst verrieten sie ihre Höhlenstadt. Das bedeutete, dass der Morgen bereits dämmerte oder gar die Sonne schon aufgegangen war. Eine Flucht war unmöglich – bei Tageslicht sahen ihn die Troglodytenwächter draußen auf den Felsen sofort.

Das Kind würde über kurz oder lang zu weinen anfangen, hier war kein gutes Versteck für ihn. Wenn es überhaupt einen Ort in der Höhlenstadt gab, wo er Schutz finden konnte, dann bei dem Mondmädchen.

Noch schwieg die Mutter und auch der Junge sagte nichts. Sie hielten den Atem an. Hinter dem Fellvorhang wurde es hell. Menschen hasteten vorüber. Das Licht ihrer Fackeln strahlte unter dem Vorhang hindurch in den Höhlenraum. Arif sah einen kleinen Jungen, der ihn mit großen Augen anstarrte, und er sah dessen Mutter weiter hinten im Raum auf einem Strohsack sitzen, kreidebleich, mit aufeinandergepressten Lippen.

Als das Fackellicht draußen schwächer wurde, hob Arif den Vorhang an und spähte hinaus. In einiger Entfernung sah er die Rücken der Verfolger. Er verließ die Höhle und schlug die entgegengesetzte Richtung ein.

Savinas Wohnung musste in der Nähe sein, sie waren nicht weit gegangen, nachdem sie gesagt hatte, dass sie hier mit ihrer Familie wohne. Der linke Abzweig war es nicht gewesen, dort war er auf die Wandmalereien gestoßen, und den Geruch von Eisen und Essig hatte er vorher nicht bemerkt. Er bog nach rechts ein.

Da trat ein Nachzügler aus einem Seitengang. Arif hob die Faust, um sie dem Troglodyten ins Gesicht zu schlagen. Ihm stockte der Arm. Es war das Mondmädchen.

»Wolltest du zu mir?«, sagte sie und beobachtete, wie er seine Faust senkte. »Komm mit, rasch.«

Er folgte ihr.

Sie bog seitwärts ab in eine Höhle, die von der Glut einer Feuerstelle in rötlichen Schimmer getaucht war. »Leg dich da hin.« Sie wies auf einen Strohsack.

»Die haben mein Schwert.«

»Wir müssen dich verstecken, bis sich die Lage beruhigt hat.«

Vor der Höhle wurde es wieder hell.

»Unter die Decke«, flüsterte Savina.

Kaum hatte er die Hand danach ausgestreckt, brüllte eine Männerstimme: »Dreht jedes Fass um!«

Schon wurde das Fell vom Höhleneingang weggerissen. Fackeln leuchteten so hell, dass Arif sie durch den Stoff der groben Wolldecke sehen konnte, die er sich über den Kopf gezogen hatte. Er wagte nicht, sich zu rühren.

»Wer ist das?«, fragte eine Männerstimme barsch.

Savina sagte: »Mein Cousin. Er schläft wie ein Toter.«

»Weck ihn auf! Er soll mitsuchen. Wir müssen diesen verfluchten Araber finden.«

»Mein Cousin hatte die ganze Nacht Wachdienst. Der würde vor Müdigkeit einen Araber nicht mal erkennen, wenn er hier in der Höhle steht.«

Der Mann dröhnte: »Weck den Faulpelz auf! Begreifst du nicht, was uns droht, wenn der Araber entkommt?«

»In Ordnung, ich wecke ihn.« Sie kauerte sich nieder und rüttelte Arif an der Schulter.

»Schütte ihm kaltes Wasser über den Kopf. Und dann schick ihn zum Ausgang bei den Ställen, er soll dort die Wache verstärken.«

Die Fackeln verschwanden.

Nach einer Weile sagte Savina: »Du kannst dich wieder bewegen.«

Arif kroch unter der Decke hervor. Seine Hände zitterten. Er versuchte, es zu verbergen, aber Savinas Blick fiel sofort auf seine Finger. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er und strich mit den Händen einige Strohstücke von seiner Kleidung, um ihnen etwas zu tun zu geben und das Zittern zu verschleiern.

Er sah sich im Raum um. Zwei weitere Strohsäcke lagen dort, und in gutem Abstand dazu, in der Mitte der Höhle, befand sich die Feuerstelle mit einigen glühenden Holzscheiten. Töpfe standen daneben. In Regalfächern im Fels lagen einige Kleidungsstücke und eine Nische war durch eine kleine Holztür verschlossen. »Passe ich da rein?«, fragte er.

»Wenn du dir die Beine abhackst, vielleicht.«

»Was ist mit dem Vorhang?«

»Die Vorratskammer meinst du? Das ist kein gutes Versteck. Da schaut man als Erstes nach.«

»Die Männer werden zurückkommen.«

»Beten wir, dass sie es nicht tun.«

»Und deine Familie?«

»Vater sucht dich, und meine Schwester habe ich angelogen. Ich hab gesagt, ich geh runter in die Kirche und bete, dass wir die Spione finden. Sie war natürlich dagegen, aber ich bin einfach nach draußen geschlüpft und bin weggerannt. Sie kam mir hinterher.«

»Dann kann sie jeden Augenblick wieder hier sein.«

»Du meinst, wenn sie gemerkt hat, dass ich nicht in der Kirche bin? Das dauert seine Zeit. Die Kirche ist im siebten unterirdischen Stockwerk. Ich hab Pherenike schon in unserem Stock abgehängt und bin auf einem Umweg zurückgekehrt, um dich zu suchen.«

Bei der Feuerstelle stand ein steinerner Tisch, umgeben von Bänken aus Stein. »Wer sitzt darauf?«, fragte er. »Er muss eine hochgestellte Persönlichkeit sein. Ist dein Vater der Scheich?«

»Was soll das sein, ein Scheich? Wir sitzen alle auf der Bank.«

»Bei uns ist das anders. Der Boden ist mit Kelims und Kissen ausgelegt und die bequemste Sitzgelegenheit gehört dem Familienoberhaupt. Kinder und Frauen haben nur flache Kissen, mein Vater und seine Ehrengäste haben dick gepolsterte Kissen. Rechts neben ihm sitzt der Ehrengast oder der älteste Sohn.«

»Ihr seid seltsam.«

Das Mondmädchen verzauberte ihn. Er sollte längst auf dem Weg in ein neues Versteck sein, konnte aber schwer von ihr lassen. »Ich glaube, man hat uns beobachtet. Jemand hat Layla an die Höhlenwand gemalt.«

»Wer ist Layla?«

»Meine Stute. Ich bin mir sicher, sie ist es auf dem Gemälde an der Wand.«

»Das war ich.« Sie schlug die Augen nieder.

»Du?« Er schluckte. »Du kannst so wunderbar malen?«

»Die Bilder unten in der Kirche sind schöner. Ich bin nicht annähernd so gut wie die Meister.«

»Wenn man dein Bild sieht, denkt man, man ist im Paradies.«

»Das Pferd hat mir gefallen.«

Er schmunzelte. »Es hat dich abgeworfen.«

»Mag sein. Aber es hat mir auch aus der Hand gefressen.«

»Wie machst du das?«, fragte er. »Wie malst du?«

»Ich tu’s einfach. Ich sehe etwas, und dann mische ich Farben und male es.«

»Die geschweiften Vögel, hast du sie auch gesehen?«

»Ja, in meinen Träumen.«

Geh!, warnte eine Stimme in ihm. Frage sie nach einem guten Versteck und dann verschwinde von hier! Diesmal war es kein Mondlicht, sondern der schwache Schein der Glut, der ihre blasse Haut zum Leuchten brachte. Ihr Gesicht würde er nie mehr vergessen, das wusste er. In seinem Bauch summte ein Schwarm Bienen, so fühlte sich die Sehnsucht an, die er verspürte, obwohl er immer noch bei Savina stand.

»Was schaust du mich so an?«, fragte sie.

Er wandte sich ab. »Es ist nichts.« Einen Moment schwieg er. »Ich brauche einen Ort, wo ich bleiben kann, bis es Nacht wird.«

»Korama ist reich an Verstecken. Aber dich suchen zehntausend Menschen. Du willst dich in einem Ameisenhaufen vor den Ameisen verstecken.«

Ihm sprang die Vorstellung vor Augen, wie er in einem Felsenwinkel aufgespürt und erstochen wurde. Er würde sich nicht einmal wehren können. »Dann muss ich Korama verlassen.«

»Es ist hell draußen! Wie willst du fortkommen?«

»Lieber sterbe ich unter der Sonne als hier unten in der Finsternis.«

Die Kälte fuhr mitten in den brütend heißen Sommer, und die Wetter lieferten sich am Himmel eine Schlacht. Kräftige Böen zwangen die Vogelbeerbäume zu Verbeugungen und rissen den Pappeln Zweige und Blätter aus dem Kleid. Das Firmament verfärbte sich grün. Wolken ballten sich zu Himmelsfestungen. Im Steppenstaub zerplatzten Regentropfen, Tausende wurden es, sie sammelten sich zu Sturzbächen und spülten durch das karge Gras. Über dem Gebirge zuckten Blitze.

Al-Qabih wehrte sich nicht mehr. Er saß mit schreckgeweiteten Augen vor Marwan auf dem Pferderücken und schnaufte schwer in den Knebel. Bei jedem Blitzschlag zuckte er zusammen und wimmerte.

Vor ihnen, noch etwa eine Reitstunde entfernt, lagen die verlassenen Pflanzungen der Christen, mit ihren Walnuss-, Pflaumen- und Birnbäumen und den Aprikosenhainen. Dort durchschnitt der Halys das Land, der längste und mächtigste Fluss Anatoliens.

Nuh sagte: »Was, wenn der Sturm ein Zeichen Allahs ist? Al-Qabih gehört zum Stamm wie wir, er ist doch unser Blutsverwandter, wenn man es genau nimmt.« Der Regen lief ihm in Strömen über das schwarze Gesicht und sein Kraushaar klebte an der Stirn.

»Dein Blutsverwandter ist er schon mal nicht«, stellte Marwan klar.

Nuhs Mutter war eine schwarzhäutige Sklavin aus Afrika, sie diente Marwans Vater. Der Koran duldete es, dass das Familienoberhaupt auch den Sklavinnen beiwohnte. Die Kinder einer solchen Verbindung waren freie Muslime, sie wurden nicht zu Sklaven wie ihre Mutter. Allerdings schaute man auf sie herab, weil ihre Mutter nicht arabischer Herkunft war, und Marwan versäumte keine Gelegenheit, Nuh spüren zu lassen, dass er in seinen Augen aufgrund der schwarzen Haut weniger wert war.

Nuh rollte die Augen. »Du weißt genau, was ich meine. Wenn wir al-Qabih im Halys ersäufen, habe ich die nächsten Monate jede Nacht Albträume. Steht nicht im Koran in der fünften Sure geschrieben, wenn jemand einen Menschen tötet, dann ist es, als habe er die ganze Menschheit umgebracht?«

»Das betrifft nur die Gläubigen.«

»Aber al-Qabih ist gläubig.«

»Ach ja?« Marwan beugte sich im Sattel nach vorn. »Bist du gläubig?«

Al-Qabih wimmerte.

»Siehst du«, sagte Marwan, »er ist nicht gläubig. Außerdem, was soll aus ihm werden? Stell ihn dir in zehn Jahren vor! Ein Wickelkind in Erwachsenenkleidern wäre er, ein erbärmliches Geschöpf.«

»Wir tun Haroun einen Gefallen, wenn wir ihn umbringen.« Nuh wischte sich das Wasser von der Nase. »Der Schandfleck verschwindet von seiner Familie. Das ist doch nicht, was wir wollen! Man wird vergessen, dass er diesen Krüppel gezeugt hat.«

Yusuf antwortete anstelle von Marwan. »Haroun wird alt, vergiss ihn. Arif ist die größere Gefahr.«

Marwan nickte und sagte grimmig: »Genau deshalb muss al-Qabih sterben.«

»Und wie schaden wir ihm, wenn wir al-Qabih ersäufen?«, fragte Nuh.

Marwan sah auf den Gefesselten vor sich. »Wir sagen, wir hätten die beiden heute Morgen am Fluss gesehen.«

Nuh und Yusuf wechselten mit großen Augen einen Blick. »Das heißt«, raunte Yusuf ehrfurchtsvoll, »wir stellen Arif als den Mörder seines Bruders hin?«

Marwan lächelte.

Der Kuss des Feindes

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