Читать книгу Der Kuss des Feindes - Titus Müller - Страница 7

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Das Schwert!, schoss es Arif durch den Kopf. Ich habe mein Schwert liegen gelassen! Wenn die Troglodyten es bei Sonnenaufgang am Erdloch fanden, wussten sie, dass ein arabischer Späher in ihre Höhlenstadt eingedrungen war. Sie würden überall nach ihm suchen.

Gab es Fackeln in diesem Trakt? Er betastete die kalte Steinwand. Nichts. Die Vorstellung, ohne Licht durch die pechschwarzen Gänge zu stolpern, ließ ihm das Herz sinken. Die Treppen und tiefen Schächte waren für ihn als Ortsfremden lebensgefährlich. Dennoch, länger hier zu warten, kam nicht infrage. Er drehte sich um und betastete die andere Seite. Als er in etwas Nasses fasste, zog er erschrocken die Hand zurück. Er roch an seinen Fingern und rieb sie gegeneinander. Ranziger Geruch stieg ihm in die Nase. Erneut befühlte er die Wand, vorsichtiger diesmal. Da war eine Nische, in der ein kleines Schnabelbecken stand. Hier musste er hineingefasst haben. Neben dem Becken fühlte er einen Fetzen Werg und zwei Steine.

Er wischte seine Hand am Hemd trocken, nahm das Werg und legte es sich zwischen die Füße. Einen Stein in der Linken, den anderen in der Rechten, kauerte er sich nieder. Er schlug die Steine gegeneinander. Sofort roch es verbrannt. Das Klacken der Feuersteine hallte von den Felswänden wider, bis endlich ein Funke ins Werg flog und es entzündete. Arif hielt das brennende Werg an den Schnabel der Öllampe. Eine kleine Flamme sprang auf.

Im Lichtschein sah er sich um. Er befand sich in einer schmalen Kammer, an deren Seite ein rundbehauener Stein vor einer Öffnung in der Felswand stand. Natürlich, so schnitten sie Verfolgern den Weg ab: Die Öffnung führte in den Hauptgang, und von diesem Wachraum aus konnte ein Troglodyt mittels des Mühlsteins den Hauptgang verschließen, indem er den Stein durch die Öffnung rollte und anschließend mit Keilen befestigte. Spitzhacken zu besorgen und den Mühlstein zu zerschlagen, mochte Stunden dauern, wenn nicht sogar Tage. In dieser Zeit waren die Troglodyten längst durch ihren Tunnel entkommen. Er schürzte anerkennend die Lippen. Sie waren keine verschüchterten Flüchtlinge, die sich in Felsspalten verkrochen hatten. Die Troglodyten hatten eine unterirdische Stadt errichtet und sich mit Bedacht in sie zurückgezogen.

An der Seite, die dem Schnabel gegenüberlag, besaß die Öllampe eine kleine Öse. Arif steckte seinen Zeigefinger hindurch und hob die Lampe an. Ihr unsteter Flackerschein begleitete ihn in den Felsengang.

Er schlich an Fellen vorüber, die abzweigende Höhleneingänge verdeckten. Dahinter schnarchte jemand. Ein Kind weinte und wurde mit leisem Gesang getröstet. An einer Gabelung blieb er stehen. Von wo waren Savina und er gekommen? Er leuchtete in die linke Abzweigung und ging einige Schritte hinein. Es roch seltsam hier, nach Eisen und Essig.

Wie kam es, dass die Wände in diesen ungewöhnlichen Farben leuchteten? Er trat näher an sie heran und hob die Lampe. Jemand hatte das Paradies gemalt: Bäume, Vögel mit langen, schweifartigen Schwänzen, Füchse und Hasen und tanzende Menschen.

Man hatte ihn gelehrt, dass die Troglodyten schlitzohrige Raffhälse waren, niemals fähig, Kunstwerke zu erschaffen, wie die Araber es taten: fein gemusterte Teppiche zu weben, Kamelsättel zu verzieren oder Worte wie Ehre und Mut in Schwertklingen zu gravieren. Aber diese Wandmalerei war mit großer Kunstfertigkeit erschaffen worden, mit einem Blick für Schönheit in kleinen Details. Sie stand arabischen Darstellungen in nichts nach.

Er kniff die Augen zusammen. Unmöglich! Das Pferd im Paradiesgarten … Er hätte seine Stute unter Tausenden Pferden erkannt. Die blassrote Farbe, als habe sie im Staub der Steppe gebadet, die vernarbten Flanken, der schlanke Hals, die Wölbung der Kruppe. Der Künstler hatte Layla an die Wand der unterirdischen Troglodytenstadt gemalt.

Beobachteten sie ihn? Seine Ausritte, seine wiederholte Flucht in die Wildnis – hatten die Troglodyten ihn jedes Mal belauert? Er rührte mit den Fingerspitzen an die Wand. Die Farbe war klebrig, das Bild war noch frisch. Etwas von Laylas fahlrotem Fell blieb an seinen Fingerspitzen haften. Wenn der Künstler ihn und Savina gesehen hatte, als sie versucht hatte, auf Layla zu reiten, dann war das Mondmädchen in Gefahr.

»Das dritte Mal diese Woche, dass die Archimedische Schraube klemmt«, sagte eine raue Stimme weiter hinten im Gang.

Arif fuhr zusammen. Er blies das Licht der Öllampe aus. Trotzdem wurde es nicht dunkel. Ein heller Schein näherte sich.

»Wer hat’s gemeldet?«

»Die alte Eudokia. Sie sagt, sie hat nichts angerührt. Spielt keine Rolle, ob sie es war. Die Leute kurbeln, als wäre der Brunnen eine Handmühle. Sie vergessen, dass die Technik auch Grenzen hat.«

Arif riss sich das Tuch vom Kopf. Sie erkennen mich, dachte er, sie erkennen mich trotzdem, niemand hier hat so dunkle Haut! Er sah sich um. Wo war der nächste Höhleneingang? Er hastete dorthin und schlüpfte durch den Fellvorhang.

»Was hilft’s. Irgendwann müssen wir sie neu bauen«, sagte draußen die Männerstimme. »Das Ding taugt nichts mehr.«

Arif verharrte in der Dunkelheit der fremden Höhle und hielt den Atem an. Es war eine schlechte Idee gewesen, in das Versteck der Christen einzudringen. Nicht einmal ein Held wie Utman hätte sich aus dieser Falle herausschlagen können, geschweige denn er, Arif. Wie sollte er gegen Tausende Troglodyten ankommen?

Eine Kinderstimme fragte: »Wer bist du?«

Arif schluckte.

Das Kind sagte noch einmal: »Wer bist du?«

»Ich bin Arif.«

»Ist es schon Morgen?«

»Nein.«

»Ich kann nicht schlafen. Ich darf aber erst aufstehen, wenn es Morgen ist. Mama schimpft sonst.«

»Schlafen deine Eltern hier bei dir?«, flüsterte Arif. »Dann müssen wir leise sein.«

Das Kind redete unbeirrt weiter. »Es ist langweilig, wenn man nicht schlafen kann. Warum können Erwachsene immer schlafen? Schlafen ist blöd. Ich will spielen.«

»Ich weiß ein Spiel.« Er dachte nach. »Willst du mit mir durch die dunklen Gänge schleichen, bis zum Ausgang?«

»Gibst du mir deine Hand?«

Er starrte in die Dunkelheit. »Wie alt bist du?«

»Bald bin ich fünf.«

So klein war das Kind noch. Dann würde es keine Hilfe sein. »Kennst du den Weg nach draußen?«

»Da darf ich nicht hin. Draußen sind böse Männer. Aber zum Geburtstag war ich unter dem schönen großen Himmel. Ich hab Mama geholfen. Wir haben Weintrauben abgerissen – «

»Nicht so laut! Du musst flüstern.«

» – von den Strünken, aber die waren schon eingetrocknet, das war ein geheimer Platz, wo die Weintrauben zu Rosinen werden. Wollen wir Weintrauben essen? In der Vorratshöhle hängt Mama die auf und sie bleiben ganz lange lecker.«

Er folgte der Stimme des Kindes. Nach wenigen Schritten stieß er mit dem Fuß gegen einen Strohsack. Er bückte sich und hob das Kind hoch.

»Naschen wir Traubensirup?«

Vom anderen Ende der Höhle tönte scharf eine Frauenstimme: »Mit wem redest du?«

Der Kleine verstummte.

Arif setzte ihn auf den Boden. Er schlich zur Türöffnung und spürte regelrecht, wie die Frau auf das Knirschen der Sandkörner unter seinen Füßen lauschte.

Der Junge sagte leise: »Mit meinem Freund.«

Zeit zu gehen, dachte Arif. Gerade wollte er durch den Fellvorhang schlüpfen, da dröhnte ein tiefer Ton durch den Gang, wie von einem Widderhorn. Arif bekam eine Gänsehaut. Draußen wurde es hell und Männerstimmen riefen: »Zu den Waffen! Araber in Korama!«

Jonathan hastete die Gänge entlang. Als die Fackel in seiner Hand beinahe erlosch und es finster wurde um ihn herum, blieb er kurz stehen und drehte sie in der Hand, damit sich das Feuer wieder in das Holz fraß. Kaum flammte die Fackel auf, rannte er weiter. Savina war ihm als Erstes eingefallen, im Augenblick des Erwachens, während die Warnrufe der Wächter durch die Höhlenstadt gellten. Dort vorn war die Wohnung ihrer Familie. Er stieß den Fellvorhang beiseite und trat ein. Ihr Vater zog sich gerade die Schuhe an und fuhr erschrocken zum Eingang herum.

Auch Savina erbleichte. »Jon! Wie kannst du uns so erschrecken!«

»Das wollte ich nicht«, entschuldigte er sich. »Musste nur sehen, ob es dir … ob es euch gut geht.«

Sie musterte ihn.

Von ihrem Blick wurden ihm die Knie weich. Er war immer ein mutiger Mann gewesen. Während andere Händler auf sichere Routen ausgewichen waren, hatte er sich bis vor ein paar Monaten durch das Kriegsgebiet gewagt. Keiner war so oft wie er überfallen und ausgeplündert worden, und doch war er immer wieder losgezogen, auf neuen Wegen, um die Eingeschlossenen mit Waren zu versorgen. Aber Savina brauchte ihn nur einmal anzusehen, und er fühlte sich feige und dumm wie ein kleiner Junge.

Sie schien seine Unsicherheit zu bemerken. Spöttisch lächelte sie ihn an. »Mach dir nicht in die Beinkleider, mir passiert schon nichts.«

Er sagte: »Die sind skrupellos. Du hast sie nicht erlebt, Savina.«

»Dann wird es Zeit.« Sie trat auf den Ausgang zu. »Ich helfe bei der Suche.«

Die Schwester stellte sich ihr in den Weg und umfasste ein Schwert aus Luft, das sie sich ins Herz stieß. Ob sie ihr damit sagen wollte, du bringst mich noch um, oder ob sie Savina an ihren Onkel Maurikios erinnern wollte, den die Araber vor vier Monaten draußen erwischt und getötet hatten, wusste Jonathan nicht zu deuten. Aber die Taubstumme zeigte mit der freien Hand auf den Boden, als würde sie befehlen: Du bleibst hier. Dabei gab sie einen strengen Laut von sich.

»Da draußen ist die Hölle los«, sagte Jonathan. »Sie haben ein arabisches Schwert gleich neben einem der Lüftungsschächte gefunden. Was, wenn es nicht bloß ein Spion ist, was, wenn ein Dutzend Araber in die Stadt eingedrungen sind? Und während wir hier reden, morden sie sich leise durch die Behausungen!«

»Ein Spion wäre genauso schlimm.« Savina wies nach draußen. »Wenn wir den nicht fangen, bevor er entkommt und uns verrät, werden sie ganz Korama ausräuchern. Also lasst mich mitsuchen.«

Savinas Schwester holte ein Schwert aus der Wandnische. Als sie es dem Vater reichte, malte sie Kreuze in die Luft, als würde er sich einem Heer Dämonen entgegenwerfen, sobald er aus der Wohnhöhle trat.

Er nahm das Schwert entgegen und wandte sich Savina zu. »Keine Widerrede! Du bleibst hier.«

Pherenike rührte an den Arm ihres Vaters und zeigte dann zum Ausgang. Anschließend wies sie auf ihre Augen. Wenn man wohlwollend war, konnte man es als Aufforderung deuten, er solle auf sich achthaben da draußen. Allerdings konnte es genauso gut als Hinweis verstanden werden, er solle sich an der Suche nach dem Araber beteiligen, anstatt weitere Worte zu verlieren.

»Ich geh schon.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf Savina auf.« Damit verließ er die Wohnung.

»Und du, Jon?«, fragte Savina. »Willst du feige hier warten, bis die Gefahr vorüber ist, unter dem Vorwand, zwei Frauen zu beschützen?«

Ihre Dreistigkeit verschlug ihm den Atem. »Ich habe den Arabern ein Dutzend Mal gegenübergestanden, das weißt du genau.«

»Worauf wartest du dann? Da draußen läuft eine Treibjagd. Fang den Spion.«

Seine Fürsorge schlug in Wut um. Nichts Sanftes, Weibliches war mehr an Savina, nur Härte. Für gewöhnlich staunte er, wie sehr sich die Schwestern voneinander unterschieden, heute aber waren sie gleich: zwei ungnädige, herrische Eisblöcke. Fühlte sie wirklich, was sie da sagte, oder gab sie sich nur nach außen so verletzend? Das war doch dieselbe Savina, die wunderschöne Wandmalereien erschuf, dieselbe Savina, die sich über einen Käfer freute, der sich in die Höhlen verirrt hatte, und ihn fürsorglich befreite. Es war dieselbe Savina, die stundenlang über Wind und Sonne und Sterne reden konnte und ihn so bezaubernd anlächelte, wenn er von seinen abenteuerlichen Handelsfahrten berichtete.

Von der, die er liebte, verletzt zu werden, schnürte ihm den Hals zu. Er schüttelte den Kopf und ging. »Du bist unerträglich«, sagte er, während er nach draußen trat.

Marwan fasste die Zügel einhändig, er lenkte den Wallach mit den Schenkeln. Auf seiner rechten Hand saß der Falke, die gelben Vogelfüße in den Handschuh gekrallt. Der Kopf des Falken steckte unter einer Kappe. Heiße Windböen fuhren ihm in das dichte Federkleid.

»Ich würde sagen, er ist tot«, nahm Nuh das Gespräch wieder auf.

Marwan sagte: »Und was, wenn nicht? Was, wenn er versehentlich eine Heldentat begeht und die Christen findet?«

Sie ritten durch das unwegsame Gebiet nahe des Vulkanbergs Argaios. Die Hundemeute streunte vorneweg. Feiner Staub lag in der Luft, er erschwerte das Atmen. In der Steppe standen Pilze aus Tuffgestein, Säulen und Brücken und turmartige Felsgebilde. Im Licht der aufgehenden Sonne funkelten ihre zerklüfteten Wände blau und rotbraun. Trotz der Sommerwärme war die Spitze des Argaios, der sich aus dem Gebirgszug in den Himmel erhob, mit Schnee bedeckt.

»Glaubst du, er ist wirklich zu den Christen geritten?«, fragte Yusuf.

»Möglich, dass er es aus Verzweiflung getan hat. Vielleicht haben wir ihn unterschätzt.«

»Ach was.« Yusuf grinste. »Der ist doch kaum mutiger als sein behinderter Bruder.«

Marwan schüttelte den Kopf. »Vergiss nicht, dass auch Utman sein Bruder war. Utman war ein Held.«

»Die Zakariyyas werden den nächsten Anführer stellen«, sagte Nuh. »Das wirst du sein. Was haben die Asads denn schon vorzuweisen?«

»Haroun jagt mit einer Gepardin. Niemand sonst besitzt ein solches Tier.« Marwan sah zu seinem Falken hinüber. Einen Falken hatten viele. »Wir haben Helme und Schilde und Schwerter, aber Haroun hat ein Kettenhemd. Er ist besser ausgerüstet als wir alle, und der Kalif hat ihn auf der Diwanliste für die Beuteverteilung weit oben eingeordnet. Er gilt beim Kalifen als verdienstvollster Krieger unseres Stammes.«

»Er wird alt«, sagte Nuh, »und Arif wird nicht in seine Fußstapfen treten. Al-Qabih schon gar nicht. Und Harouns Frau kriegt keine Kinder mehr.«

»Dann nimmt er sich eine Zweitfrau. Hast du daran mal gedacht?«

»Ehe der Balg aufgewachsen ist …«

Marwan schnaubte. »Richtig. Deshalb wird Haroun Arif unter Druck setzen. Das macht mir Sorgen. Aus Verzweiflung hat schon mancher Erstaunliches vollbracht.«

»Glaubst du im Ernst, Arif ist so dumm, dich herauszufordern?«

Die Hunde schlugen an. Sie stoben auf eine Gruppe von Sträuchern zu, umringten sie und bellten. Rasch zog Marwan dem Falken die Kappe vom Kopf und warf ihn in die Luft. Der Falke schlug mit den Flügeln, er stieg auf. Hoch über ihnen kreiste er am Himmel, während die Hunde bellend um das Gebüsch tobten.

Ein Ringfasan hielt das Kläffen nicht mehr aus und erhob sich flatternd aus dem Gebüsch. Der Falke griff sofort an. Er legte die Schwingen an den Körper an und fiel aus dem Himmel. Erst als er den Ringfasan fast erreicht hatte, öffnete er die Flügel. Die Vögel prallten hart gegeneinander. Der Ringfasan taumelte in der Luft. Schon jagte der Falke in einer Kehrtwende heran, packte den Ringfasan mit den Krallen und biss ihm ins Genick. Beide Vögel stürzten zu Boden.

Als Marwan und die anderen heranritten, saß der Falke bereits auf der Beute und hackte mit dem Krummschnabel Fleischstücke heraus. Die Hunde waren gut erzogen, sie hielten Abstand. Marwan stieg vom Pferd und nahm Taubenfleisch aus einem ledernen Päckchen am Sattel. Er rief den Falken. Der Falke flog zu ihm auf die behandschuhte Hand. Er begann, das Taubenfleisch zu fressen.

»Wir dürfen die Sache nicht sich selbst überlassen, Freunde«, sagte Marwan. Er sah zum Kadaver auf dem Boden hin. »Arif hat eine schwache Stelle: Er liebt seinen kleinen Bruder. Wenn wir uns den zur Brust nehmen, können wir Arif zerstören, bevor er uns gefährlich wird.«

Der Kuss des Feindes

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