Читать книгу Der Kuss des Feindes - Titus Müller - Страница 6

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Sie wartete hinter einem Felsengrat und hörte auf die sich entfernenden, dumpfen Hufschläge. Erst, als sie sicher war, dass er davongeritten war, lief sie den Hang wieder hinunter, den sie hinaufgeklettert war, und schlug den richtigen Weg ein, immer bemüht, nicht auf den steinigen Flächen zu laufen, wo Kiesel ins Rollen geraten und sie verraten konnten. Wenn der junge Araber bemerkte, wo sie in die unterirdische Stadt hinabkletterte, verriet sie mehr als zehntausend Menschen an ihre Mörder.

Bevor sie den Busch beiseitebog, spähte sie noch einmal in alle Richtungen. Rasch stieg sie in den Lüftungsschacht hinab. Sie war ungeschickt beim Klettern, ihr Bein schmerzte vom missglückten Reitversuch. Zweimal rutschte sie ab und schürfte sich die Haut auf. Unten, im Gang, blieb sie lange stehen und lauschte nach oben in den Schacht. Aber es blieb still. Niemand folgte ihr.

Sie schlich zurück in die Familienhöhle. Dort kroch sie unter ihre schwere, kratzige Wolldecke. Der Strohsack knisterte, während sie sich drehte, bis sie bequem lag und kein Halm sie mehr piekte.

Von der anderen Seite des Raums kam Vaters müde Stimme. »Hast du schlecht geträumt, Schätzchen? Versuch wieder einzuschlafen.«

»Ja, Vater.« Sie sah in die Dunkelheit und dachte an das vernarbte Pferd und den jungen Araber. Wie er in die Ebene hinausgaloppiert war, frei und kraftvoll! Er war unabhängig. Er war nicht der Gefangene einer Höhlenstadt.

Savina roch an ihren Händen. Sie dufteten nach dem Pferd, es war ein herber Geruch. Sicher roch auch der junge Araber so. Unmöglich, dass er seinem Pferd die Wunden zugefügt hatte. Sein Gesicht war stolz und zugleich sanft und verletzlich gewesen.

Arif erwachte von den Kitzelschritten einer Fliege auf seiner Stirn. Er verscheuchte sie und drehte sich auf die Seite, um wieder einzuschlafen. Die Fliege landete auf seinem Hals. Ärgerlich wedelte er sie fort. Sie landete auf seinem Ohr. Arif schlug darauf. Nach dem Knallen blieb ein Pfeifton, der erst allmählich verschwand, und sein Haarschopf kitzelte, die Fliege krabbelte darin herum. Er fuhr hoch. Diese Fliege machte ihn wahnsinnig!

Er sah im Halbdunkel, dass der Vater sich ankleidete. »Du gehst?«, fragte er.

»Heute wird Brot gebacken«, sagte Haroun. »Ich hasse es, wenn die Weiber den ganzen Tag beisammenhocken und schwatzen.« Er schlüpfte in seinen Umhang.

Von draußen drangen gedämpfte Gespräche herein und man hörte das Aufklatschen des Eimers am Brunnen. Das Lager erwachte. Arif wartete darauf, dass der Vater nach den Ergebnissen seines nächtlichen Spähritts fragte. Aber Haroun ging wortlos nach draußen.

Später stand die Mutter auf, und dann Arifs kleiner Bruder und er selbst. Die Frauen der befreundeten Familien kamen. Mutter bat Arif, vor dem Zelt Holz für ein Feuer aufzuschichten, und während er das tat, tobte al-Qabih, Arifs Bruder, um die Frauen herum. Er drückte frech seinen Zeigefinger in den Teig, den sie kneteten, und lachte nur, als die Mutter mit ihm schimpfte.

Sie buken Weizenbrote für die nächsten Wochen. Die jungen Frauen mischten den Teig und kneteten ihn. Die Frauen mittleren Alters rollten die Teigkugeln auf Holzbrettern zu Fladen aus. Die alten buken die Brote auf den heißen Steinen beim Feuer, indem sie Asche darüber ausbreiteten, bis sie fertig gebacken waren, und häuften die flachen Brotlaibe beim Zelt auf ein Tuch. Dabei plauderten sie in einem fort.

Arif wartete darauf, dass wenigstens Mutter ihn fragte, ob er etwas herausgefunden hatte bei seinem Spähritt, aber sie tat es nicht. Je länger er wartete, desto wütender wurde er. Seine Eltern trauten ihm einfach nichts zu.

In der Nacht, draußen, hatte er sich stark gefühlt. Er hatte sich gefühlt wie ein Mann. Hier, bei den Eltern, war er schwach. Er verstand es nicht. Warum platzte er nicht mit der Nachricht heraus, dass er in einem verlassenen Christendorf gewesen war und bemerkt hatte, dass ihre Gärten noch gepflegt und bewässert wurden? Warum sagte er nicht, dass er sogar eine Troglodytin gesehen hatte?

Sein gekränkter Stolz verschloss ihm den Mund. Wenn sie es mir nicht zutrauen, dachte er, dann sollen sie auch nicht erfahren, welchen Mut ich bewiesen habe. Er sah schweigend der Mutter hinterher, die fortging, um Feuerholz zu holen.

»He, al-Qabih! Du furzt wie ein Wallach.«

Marwan, Nuh und Yusuf traten an das Feuer heran.

»Gemein!«, rief al-Qabih und zog ein böses Gesicht.

Sie lachten.

Die Frauen ignorierten es, dass Arifs Bruder verspottet wurde. Sie hatten sich daran gewöhnt. Al-Qabih war nicht sein wirklicher Name. Es war ein Spitzname, er bedeutete »der Hässliche«. So nannte ihn jeder im Lager. Al-Qabih sah aus wie der missratene Versuch, einen Menschen zu formen: Die Arme waren zu lang, die Finger dickknöchelig, die Hüfte war schief, und er hinkte. Obwohl er dreizehn Jahre alt war, besaß er den Verstand eines Zweijährigen.

Marwan schubste ihn. »Hast du dich schon mal ins Feuer gesetzt, Kleiner? Da wird dir schön warm.«

Al-Qabih floh zur Gepardin. »Beißt!«, drohte er. In sein Gesicht stand Angst geschrieben, während er Marwan entgegenblickte. Die Gepardin wandte desinteressiert den Kopf zur Seite.

Marwan grinste. »Ich glaube nicht, dass sie dich beschützen wird.«

Die Frauen unterbrachen nicht einmal ihr Gespräch. Einen Schwächling wie al-Qabih zu verteidigen, dazu sahen sie keinen Grund. Er fiel dem Stamm zur Last und war eine Schande für seine Familie.

Arif trat Marwan in den Weg. »Du rührst ihn nicht an.«

»Richtig, er ist dein Bruder. Hatte ich fast vergessen.« Marwan sah über seine Schulter zu Nuh und Yusuf, und die beiden lachten. Er blickte wieder nach vorn. »Wie konnte mir das entfallen, bei dieser Ähnlichkeit.«

»Nur ein Feigling vergreift sich an Schwächeren.«

»Du bist der Mutige von uns beiden, stimmt ja! Du bist zu den Ungläubigen geritten. Wie kommt’s, dass sie dich am Leben gelassen haben? Nicht mal verwundet bist du. Mir fällt da nur eine Erklärung ein.«

Yusuf und Nuh verschränkten hinter Marwan die Arme. Der schwarzhäutige Nuh spuckte auf den Boden.

Marwan sagte: »Du warst überhaupt nicht dort. Du hast dir in die Hosen gemacht vor Angst.«

»Und ob ich dort war«, sagte Arif. »Ich bin in ihren Häusern und in einem ihrer Gärten gewesen. Ich war ganz in der Nähe ihres Verstecks.« Und ich habe ein Mädchen gesehen, dachte er, ein Mondmädchen, wie ihr es nie erblicken werdet.

»Beweise es!«, forderte Marwan.

»Komm doch mit beim nächsten Mal, wenn du dich traust.«

Der Zakariyya zog geringschätzig die Mundwinkel nach unten. »Ich bin der Erbe. Man setzt das Leben des Erben nicht leichtfertig aufs Spiel. Meine Familie braucht mich, ich werde sie eines Tages führen, sie und den ganzen Stamm.« Marwans tiefe Stimme ließ ihn klingen wie einen erfahrenen Krieger. Seine Ohren waren klein und verknorpelt, die Fingernägel abgekaut. Aber keiner konnte es an Kraft mit ihm aufnehmen. Wenn seine Familie weiterhin Ruhm ansammelte und ihre Ehre und Reinheit bewahrte, würde er tatsächlich eines Tages der ranghöchste Mann im Stamm sein.

»Ich bin genauso der Erbe meiner Familie«, sagte Arif, »und noch führt mein Vater den Stamm an.«

»Was meinst du, warum er dich überhaupt losziehen lässt? Er weiß, dass du nicht den Mut hast, dich in Gefahr zu begeben. Du prahlst doch nur! Sobald du außer Sichtweite bist, steigst du vom Pferd und setzt dich unter einen Baum. Und wir sollen dir glauben, dass du die Feinde ausspähst.«

Arif hörte ein Knurren hinter sich. Al-Qabih hatte sich hingehockt und streichelte die Gepardin. Obwohl sie warnend die Zähne bleckte, so sehr, dass sich die Haut an der Schnauze kräuselte, hörte er nicht auf. Arif nahm al-Qabihs Hand und hielt sie fest. »Lass das. Sie mag es nicht.«

Al-Qabih schob schmollend die Lippe vor.

Marwan sagte: »Ich war bei der großen Schlacht im Frühjahr dabei. Ich habe Feinde getötet. Du hast feige zu Hause gesessen. Jeder weiß das.«

»Ich war krank«, sagte Arif.

Die drei Zakariyyas lachten heiser. »Denkst du, das hat dir einer geglaubt?«

»In Ordnung.« Arif reckte sich zu voller Größe auf. »Ich reite diese Nacht hin und komme mit einem Beweis zurück. Ihr werdet sehen, dass ich die Wahrheit sage. Ihr werdet euch entschuldigen und ein für alle Mal aufhören, die Ehre der Asads zu beleidigen.«

Er suchte im Mondlicht die Hänge ab. Durchstreifte die Berglandschaft auf der Suche nach geheimen Pässen, Höhlen und Pfaden. Flächen, die keine Deckung boten, mied er. Wo immer es ging, hielt er sich im Schatten, immer auf der Hut vor den Troglodytenwächtern. Wieder und wieder kehrte er zu dem Felsen zurück, hinter dem er das Mondmädchen hatte verschwinden sehen, und schlich von dort aus in die nahe gelegenen Hügelzüge. Ergebnislos.

Alles, was er fand, war ein Loch im Boden, halb verdeckt von einem Gebüsch und zu klein für einen Höhleneingang. Die Zweige des Gebüschs waren abgeknickt. Ihre Blätter waren noch nicht verwelkt, es konnte nicht lange her sein, dass die Zweige geknickt worden waren.

Wenn er hineinkletterte, um nachzusehen, weckte er womöglich Schlangen, die im Loch schliefen. Niemand würde ihm dabei helfen, die Wunde auszuschneiden, wenn sie ihn bissen. Besser, er ging ins steinerne Labyrinth und nahm sich eine Tonscherbe aus einem der Häuser mit.

Beim Abstieg stellte er sich vor, dass Vater ihn mit stolz funkelnden Augen ansah wie Utman. Dass er sich Abu Arif nannte und ihm vor den Männern die Hand auf die Schulter legte und sagte: »Mein Sohn.« Im ganzen Stamm würde man sich erzählen, dass er, Arif, die Christen aufgestöbert hatte, nach denen sie seit Monaten suchten.

Er fasste sich an den Kragen und schüttelte das Hemd, um das Böse abzuwehren. Er zog den Augenachat hervor, den er an einem Lederband um den Hals trug, küsste ihn und murmelte: »Inshallah.« Gott allein wusste, wann man Izra’il sah, den Engel des Todes. Wenn es heute sein sollte, dann war es eben heute.

Diesmal fürchtete er sich nicht vor dem Troglodytenhaus. Er klaubte eine Tonscherbe auf und kehrte zum Erdloch um. Jeden Strauch nutzte er zur Deckung, jeden Felsbrocken. Der Mond schien hell, er durfte nicht unvorsichtig werden.

Mit angehaltenem Atem schnallte er sich das Schwert ab und legte es neben den Busch, der Schacht war zu eng, er würde darin stecken bleiben. Dann streckte er die Beine in das Loch. Er stützte sich mit den Armen auf dem Boden ab und ließ sich hinabsinken.

Es ging tief hinunter, erst als er schon bis zur Brust im Erdreich verschwunden war, erreichten seine Füße festen Grund. So weit er es in der Enge vermochte, beugte er die Knie und rutschte Fingerbreit für Fingerbreit weiter, bis er auf dem Boden kauerte. Er lauschte. Keine Schlangen zischten. Sorgfältig tastete er die Wände ab. Da war ein Gang, der sich seitwärts in den Felsen grub. Arif kroch hinein. Erdklümpchen und Staub rieselten ihm ins Haar. Es ging wieder abwärts, er musste klettern. Dann kam ein zweiter Knick und der Gang verbreiterte sich plötzlich. Arif ließ ein Steinchen hinunterfallen. Er hörte den leisen Aufprall gleich danach. Also konnte es nicht allzu tief hinabgehen. Sorgfältig suchte er sich Felsspalten für seine Finger und ließ sich an den Armen herab. Bevor er sie ganz ausstrecken musste, berührten seine Füße den Grund.

Eine Klinge legte sich an seine Gurgel. »Du hättest auf mich hören sollen«, zischte jemand.

Das Blut in seinen Adern stockte.

»Ihr könnt es einfach nicht lassen, ihr Araber. Was wollt ihr mit den Dingen, die euch nicht gehören?«

»Ich will nichts stehlen«, sagte er.

»Ach ja? Und warum bist du dann hier?«

Es musste die Mondfrau sein. Er sagte: »Aus Neugier.«

»Du hast einen Lärm gemacht wie ein Trampel. Jetzt wird dich deine Neugier das Leben kosten.«

Arif atmete vorsichtig ein. Wenn er eine falsche Bewegung machte, schlitzte ihm die scharfe Klinge die Kehle auf. »Man erzählt sich über euch, dass ihr …« Er stockte. Vom Schlangengift durfte er nicht sprechen. Es würde sie daran erinnern, dass Vater die Brunnen vergiften lassen hatte.

»Was erzählt man sich?«

»Ich habe gehört, ihr Troglodyten seid in der Lage, euch wie Dschinns unsichtbar zu machen«, log er.

»Was sind Dschinns?«

»Geister.«

Sie nahm das Messer fort. »Du musst sterben.« Ihre Stimme zitterte, als sie das sagte. »Du hast einen Ort betreten, den du nicht betreten durftest.«

Er drehte sich um. In der Finsternis konnte er nichts erkennen. Holte sie schon aus, um ihm mit dem Messer den letzten Stoß zu versetzen? »Savina, so heißt du, richtig? Ich bin zwar Araber, aber das ist kein Grund, mich zu töten. Viele hassen mich in meinem Stamm. Man hört nicht auf mich.«

»Du lügst.«

»Ich sage die Wahrheit! Und ich werde euch nicht verraten.«

Savina schwieg. Schließlich verlangte sie: »Schwöre bei Gott, dass du diesen Ort an niemanden verrätst!«

»Du glaubst an Gott?«

»Was dachtest du denn? Ich bin Christin.«

»Ich dachte, ihr Christen habt den Glauben an Allah aufgegeben.«

»Allah nennt ihr ihn? Wir nennen ihn Gott. Und wir beten täglich zu ihm.« Sie packte seinen Arm. »Schwöre bei Allah!«

»Ich schwöre bei Allah, dass ich euch nicht verraten werde.«

»Gut. Ich kann dich trotzdem nicht gehen lassen. Aber ich verstecke dich, bis mir etwas einfällt. Die Wächter dürfen dich auf keinen Fall sehen, sonst bist du schneller tot, als du deinen Namen sagen kannst.« Sie ging in die Finsternis und zog ihn mit.

Er flüsterte: »Könnt ihr im Dunkeln sehen?«

»Ich war schon oft hier, das ist alles.«

Er hörte ein Blöken. Es schien direkt aus dem Fels zu kommen. »Was war das?«, fragte er.

»Ein Schaf, du Dummkopf. Wir haben Ställe.«

»Ställe unter der Erde!«

»Wir haben keine Wahl, ihr habt uns in die Tiefe vertrieben. Jetzt sind wir Gefangene unserer eigenen Stadt. Hier gibt es keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel. Letzten Sommer habe ich noch auf der Wiese – « Sie verharrte plötzlich und packte seinen Arm fester. »Still! Dort vorn sind Wächter.«

Ein schwacher Schimmer erschien auf den Wänden.

»Zieh deine Schuhe aus«, befahl sie.

Er gehorchte. Der Felsboden rührte kalt an die Fußsohlen.

»Jetzt lauf! Und leise! Wir müssen vor ihnen am Schacht sein, aber sie dürfen uns nicht hören.« Sie rannte los.

Er folgte ihr. Seine Füße flogen über den Felsen. Wenn die Wächter das Kufiya-Tuch auf seinem Kopf sahen und die dunkle Haut, dann begriffen sie sofort, dass ein Spion in ihr Versteck eindrang. War es nicht besser, umzudrehen und zurück zum Einstiegsloch zu rennen? Schon strahlte das Licht hell von den schroffen Felswänden. Nur noch eine Biegung des Gangs trennte sie von den Wächtern. Savina kletterte in einen Schacht zu ihrer Rechten, es sah aus, als würde sie durch Zauberei die nackten Felswände hinuntersteigen, mit Füßen, die an der Wand hafteten.

Nur schwach erkannte er Stufen und Ritzen, die in die Felswände getrieben waren. Er zog sich die Sandalen an, setzte den Fuß in eine Ritze und begann, ebenfalls abwärtszuklettern. Er hörte Schritte über sich. Das flackernde Fackellicht half ihm, die Vertiefungen im Felsen zu finden.

Unten zog ihn Savina in die Dunkelheit. »Was machst du so lange?«, flüsterte sie. »Zieh die Schuhe wieder aus! Hinter diesen Fellvorhängen schlafen Familien.« Savina wartete nicht, bis er die Sandalen ausgezogen hatte. Sie eilte, immer noch barfüßig, durch den Gang davon.

Arif schlüpfte aus den Sandalen und beeilte sich, ihr zu folgen. Je weiter er sich vom Schacht entfernte, desto dunkler wurde es. Bald sah er nichts mehr. »Savina«, flüsterte er.

Keine Antwort.

»Savina?«

Er war von Schwärze umgeben. Das Atmen von Dutzenden Schlünden hallte von den Wänden wider. Jemand schmatzte. Er, Arif ibn Haroun, war im Inneren des Berges, umgeben von Troglodyten. Ihn fröstelte.

»Wo bleibst du?« Savina fasste seine Hand und zog ihn mit. Es ging eine steile Treppe hinab, noch weiter nach unten. Ein Geländer gab es nicht, er griff ins Leere. Wenn er einen falschen Schritt machte, würde er abstürzen.

»Bekommen wir da unten Luft?«, fragte er.

»Dafür sind Schächte in den Felsen gehauen. Man kann überall frische Luft atmen.«

»Wann habt ihr das gebaut? Es muss Jahre gedauert haben.«

»Manche Geheimgänge sind sehr alt. Unsere Vorfahren haben sich hier schon versteckt, als die Perser aus dem Osten kamen.«

Arif blieb stehen. »Was ist das?«

Auch Savina verharrte. Er konnte ihren Atem nahe bei sich hören. »Was meinst du?«

Wieder krachte es in der Tiefe. Es klang, als würde Gestein durch den Berg spritzen. »Hörst du nicht?«

»Sie erweitern einen Tunnel.«

»Mitten in der Nacht?«

»Denk drüber nach, dann kommst du selber darauf, wieso sie das nachts machen.« Sie ging weiter.

Der Krach konnte tagsüber ihr Versteck verraten. Im Dunkeln kletterte keiner von Vaters Spähtrupps in die Berge, es war zu gefährlich, weil man lose Steine und Abgründe nicht sah. Es war sicherer für die Troglodyten, in der Nacht ihre Gänge zu graben.

Savina flüsterte: »Hier ist unser Wohnraum. Aber da kann ich dich erst verstecken, wenn mein Vater und meine Schwester arbeiten gegangen sind.«

»Wie können sie arbeiten gehen, ohne die Höhle zu verlassen?«

»Vater arbeitet in einer der Schulen, die unterirdische Stadt hat zweitausend Kinder. Pherenike bringt Stroh in die Ställe und trocknet Dungfladen zum Heizen im Winter.« Savina führte ihn weiter. Nach gut zwei Dutzend Schritten schob sie ihn in einen Winkel. »Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich dich am Morgen hole. Versuch nicht zu fliehen. Du würdest dich verirren. Und falls du doch einen Ausgang findest – es sind überall Wächter. Bleib hier, wenn du leben willst.«

Arif flüsterte: »Warte.« Er zögerte kurz. »Warum hilfst du mir? Ich bin dein Feind.«

Für einen Moment war es still. Dann sagte sie: »Du hast friedlich ausgesehen. Ich kann nicht glauben, dass du einer bist, der mordet.«

Ihr Lob schmeckte bitter. »Ich bin nicht feige.«

»Ich habe nur gesagt, dass du nicht wie einer aussiehst, der mordet. Wärst du feige, dann wärst du nicht hier.«

Der Kuss des Feindes

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