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»Hurra!« – Die Geburt des Reichs aus dem Geist des Krieges

18. Januar 1871, Schloss Versailles, besetztes Frankreich, einen Tag vor einem weiteren vergeblichen Ausbruchsversuch des belagerten Paris, etwas mehr als eine Woche vor dem Waffenstillstand: Im berühmten Spiegelsaal des französischen Königsschlosses kommen die Mitglieder des deutschen Hochadels aus Preußen, Württemberg, Sachsen, Baden, Bayern, Hessen sowie der übrigen Staaten des ›Norddeutschen Bundes‹ zu einem feierlichen Akt zusammen. Mit dabei sind die militärischen Eliten ihrer Länder, Oberkommandierende, Generale, Offiziere. Einige einfache Soldaten sind ebenfalls anwesend. Insgesamt versammeln sich um die 600 Militärs in der ›Galerie des Glaces‹. Die meisten Anwesenden in Versailles sind Vertreter der weitaus größten deutschen Militärmacht: Preußen. Wenige ausländische Gesandte sind ebenfalls geladen. Auch ein irischstämmiger Journalist, von dem in diesem Buch noch häufiger die Rede sein wird, ein junger preußischer Offizier, der als alter Mann verhängnisvolle deutsche Geschichte mitgestalten sollte, und ein Maler am Beginn seiner großen Karriere wollen dem Festakt beiwohnen. Sie alle nehmen an einer Zeremonie teil, von der einige Beteiligte später berichten werden, dass sie überaus nüchtern, kalt und prunklos verlaufen sei.

Zuerst verfolgen die Anwesenden eine langatmige protestantische Predigt. Anschließend betreten die Fürsten am Ende des Saals ein provisorisches Holzpodest. In ihrem Rücken stehen die Fahnen der siegreichen deutschen Regimenter, zu ihren Seiten wachen preußische Gardekürassiere. Unterhalb des Podests stellt sich nun Otto von Bismarck, der preußische Ministerpräsident und Kanzler des ›Norddeutschen Bundes‹, in die Mitte der wartenden Militärs und verliest mit einer für seinen mächtigen Körper überraschend hohen Stimme eine Proklamation, an deren Inhalt sich später kaum einer der Beteiligten noch zu erinnern vermochte. Nun aber naht der Höhepunkt des Tages: Nachdem Bismarck geendet hat, treten der preußische König, Wilhelm I., sein Sohn, Kronprinz Friedrich Wilhelm, und der Großherzog Friedrich I. von Baden auf dem Podest hervor. Der Großherzog wirft seinen rechten Arm in die Luft und ruft: »Kaiser Wilhelm lebe hoch!« Das deutsche Kaiserreich ist proklamiert. Die Menge jubelt, brüllt »Hurra!«, schwenkt mit begeistert gezogenen Säbeln Helme und Mützen. Die Hochrufe pflanzen sich vom Spiegelsaal durch die Reihen deutscher Soldaten im riesigen Schloss bis hinaus in den Park fort, wo Tausende weiterer Soldaten warten. Nur der preußische König, nun auch ›Deutscher Kaiser‹, schaut grimmig und würdigt den Architekten des neuen Reichs, würdigt Bismarck keines Blickes.

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Der erwähnte Maler in der Menge der freudigen Militärs heißt Anton von Werner. Im Jahr 1871 mit 27 Jahren noch wenig bedeutend, wird er während des Ersten Weltkriegs als der einflussreichste deutsche Historienmaler sterben. Er hält das Ereignis mit jenem Monumentalgemälde fest, das wohl als die ›Ikone‹ zur Kaiserproklamation bezeichnet werden darf. Diese sogenannte ›Friedrichsruher Fassung‹, die von Werner im Auftrag des Kaisers als Geburtstagsgeschenk für Bismarck im Jahre 1885 anfertigte, prägt bis heute die Vorstellung des Ereignisses und spiegelt zugleich die damals offiziell gewünschte Sicht auf dieses Ereignis wider. Das Gemälde fehlt bis heute in keinem deutschen Geschichtsschulbuch. Hier sehen wir das deutsche Militär in seiner ganzen Pracht. Im ›bunten Rock‹ jubeln die Vertreter der aristokratischen, mehrheitlich preußischen Elite über ihren Sieg und über die ›von oben‹ vollzogene deutsche Einheit. Sie jubeln außerdem über die endgültige Überwindung der revolutionären Ideale von 1848/49.

Doch so interessant wie bezeichnend ist auch, was das Gemälde nicht zeigt: Die feierliche Proklamation fand eigentlich in einem Lazarett statt. William Howard Russell, der irischstämmige Kriegsberichterstatter der ›Times‹, berichtet darüber in mitfühlenden Worten und ganz ohne britisches Understatement: »Der Spiegelsaal, noch vor zwei Tagen Schauplatz imperialer Prachtentfaltung, ist nun ein Jammertal. Schmale Bettgestelle, mit jeweils einem schwer verwundeten Insassen, stehen nebeneinander an der Wand, und die unparteiischen, fühllosen Spiegel, die den Saal schmücken, zeigen bleiche Gesichter oder reglose Gestalten und Schwestern und Krankenpflegerinnen, die geisterhaft die Straße des Schmerzes und des Leidens entlang huschen.«1

Für den jungen preußischen Offizier Paul von Hindenburg war der Tag der Proklamation im Spiegelsaal von Versailles einer der Höhepunkte seines Lebens, wie er sich noch als alter Mann und zweiter deutscher Reichspräsident erinnern wollte: »Am erhebendsten und zugleich ergreifendsten wirkte selbstredend die Person meines Allergnädigsten Königs und Herrn. Seine ruhige, schlichte, alles beherrschende Würde gab der Feier eine größere Weihe als aller äußerer Glanz. Die herzenswarme Begeisterung für den erhabenen Herrscher war aber auch bei allen Teilnehmern, welchem deutschen Volksstamme sie auch angehörten, gleich groß.«2

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Die hier am Beispiel der Kaiserproklamation geschilderten Widersprüchlichkeiten zwischen dem blutigen Geschehen, seiner Wahrnehmung und der Erinnerung sind typisch für die Ambivalenz des ganzen Krieges von 1870/71. So ist er für fast 190 000 französische und deutsche Männer ein todbringendes, für weitere Hunderttausende ein traumatisches Erlebnis, aber auch das Mittel zur sehnsüchtig erwarteten Einheit. Er ist das als glorreich erinnerte Erlebnis aus ›Eisen und Blut‹, in dem die deutschen Einzelstaaten zu etwas Gemeinsamem verschmolzen, und zugleich für viele gleichermaßen die verfluchte Einigkeit von lediglich fürstlichen Gnaden. Der Krieg nimmt Frauen und Kindern den Ehemann und Vater, er gibt vielen Deutschen alljährlich Anlässe zu Gedenkfeiern, Denkmalsenthüllungen, Trinksprüchen und -gelagen.

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Der Krieg von 1870/71 rundet als letzter der drei deutschen sogenannten ›Einigungskriege‹ eine Entwicklung ab, die in der Gründung jenes ›Deutschen Reichs‹ gipfelte, das für den Gang des 20. Jahrhunderts von verhängnisvoller Bedeutung werden sollte. Betrachtet man das deutsche Kaiserreich von seinem Ende her, muss man es als gescheitert betrachten. Am Tag der erzwungenen Abdankung Kaisers Wilhelms II. und einen Tag vor seiner Flucht ins niederländische Exil wird am 9. November 1918 die deutsche Republik ausgerufen. Zwei Tage später, am 11. November 1918, unterzeichnen zivile Vertreter der provisorischen, nun republikanischen deutschen Regierung im Wald von Compiègne den Waffenstillstand und beenden so vorerst den vom Kaiserreich hauptsächlich, wenn auch keineswegs allein vom Zaun gebrochenen Ersten Weltkrieg. Im Juni 1919 erfolgt dann in einem Akt der Revanche im Spiegelsaal von Versailles die endgültige Demütigung des ›Deutschen Reichs‹ durch die Siegermächte England, USA, Italien und Frankreich. Vor den Augen der Weltöffentlichkeit werden die deutschen Vertreter beim Akt der Unterzeichnung nicht nur protokollarisch entwürdigt, sondern zugleich gezwungen, einen Vertrag zu unterschreiben, den die große Mehrheit der Deutschen, quer durch die Parteien und gesellschaftlichen Schichten, als schändlichen ›Diktatfrieden‹ empfindet. Diese Demütigung trifft die junge Republik, meint aber doch das im Kriegstriumph gegründete Kaiserreich und seine alten Eliten. Als entscheidende Kraft bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 gebrandmarkt, erlegt der Frieden von Versailles Deutschland nicht nur große moralische Schuld, sondern auch hohe Reparationen und erhebliche Gebietsverluste auf. Nach nur 47 Jahren kaiserlicher Herrschaft sind die Deutschen wirtschaftlich ausgeblutet, um Millionen verwundeter oder getöteter Männer sowie ungezählte durch Kriegswinter und englische Seeblockade verhungerte Zivilisten ärmer, von der Welt verachtet, verschuldet, territorial verkleinert und von tiefer innerer, revolutionärer Zerrissenheit geprägt.

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Wäre die verhängnisvolle ›Machtergreifung‹ Adolf Hitlers, der schließlich zu Beginn ganz wesentlich mit dem Versprechen Erfolg hatte, das vermeintliche ›Schanddiktat‹ und seine Folgen zu revidieren, ohne Versailles 1871 denkbar gewesen? Diese sicher etwas überspitzte Frage ist schon ähnlich gestellt worden. In diese Richtung dachte zum Beispiel der deutsche Historiker Fritz Fischer, der in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine nach ihm benannte berühmte Kontroverse begann, als er behauptete, schon im Ersten Weltkrieg habe das Kaiserreich den Nationalsozialismus vorwegnehmende Weltmachtpläne geschmiedet. Und die Mantelnote des Versailler Friedensvertrages von 1919 machte vor allem auf französische Initiative hin tatsächlich den ›preußisch-deutschen‹ Militarismus für den Ersten Weltkrieg und seine Auswüchse verantwortlich. Darüber, dass der Erste Weltkrieg die unbedingte Voraussetzung für den Zweiten Weltkrieg war, herrscht heute Einigkeit. Manche Historiker zogen aber auch direkte Kontinuitätslinien von Friedrich II. von Preußen über Otto von Bismarck, Kaiser Wilhelm II. bis zum ›Führer‹ Adolf Hitler und verknüpften auf diese einseitige Weise das Preußen des 18. Jahrhunderts mit dem sogenannten ›Dritten Reich‹. Die spezifische Rolle des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 als militärisches Ereignis, als Erfahrungsraum mehrerer Millionen Männer und einer ungenannten Zahl von Zivilisten sowie als Gegenstand kollektiver wie individueller Erinnerung ist bei diesen Überlegungen zu den Wurzeln des ›Hitlerismus‹ jedoch nur am Rande bedacht worden.

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Dennoch soll hier nicht der negative Fixpunkt deutschen Geschichtsbewusstseins, der ›untote‹ Hitler, im Mittelpunkt stehen oder eine einfache Erklärung für komplexe Zusammenhänge gefunden werden. Es geht um den drittletzten Krieg, den Deutschland in Europa geführt hat und der zugleich der letzte Sieg des Reichs war. Dieser Krieg wird als militärisches Ereignis dargestellt, dabei aber eingeordnet in den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Kontext seiner Zeit. Wie bei jeder Geschichtsschreibung werden dabei nur Interpretationsangebote gemacht, denen andere, sicher ebenso gültige Angebote mit gleichem Recht gegenüberstehen könnten. Es gibt nicht die Geschichte eines historischen Ereignisses.

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Eine präzise und zusammenhängende Gesamtdarstellung des in vielen Punkten und Details erstaunlich modern und aktuell wirkenden Krieges von 1870/71 als militärisches Großereignis fehlt für den deutschen Sprachraum seit Jahrzehnten. Nach Theodor Fontanes zeitgenössischer Darstellung, die bis heute stilistisch unerreicht ist, den Tausenden von Regimentsgeschichten, Jubelbüchern, Quellensammlungen und persönlichen Erinnerungen, die in der Kaiserzeit erschienen sind, widmeten sich deutschsprachige Werke, die aus Anlass des 100. Jahrestages im Jahr 1970 vor dem Hintergrund des damals noch nicht lange überwundenen ›Dritten Reichs‹ publiziert wurden, insbesondere kritisch dem preußischen Militarismus sowie den diplomatischen Zusammenhängen. Operationsgeschichte fand 1970 lediglich in einem vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegebenen Sammelband statt. Ein Band mit Einzelstudien zu militärischen Problemen des Feldzugs 1870/71 ohne Anspruch einer Gesamtdarstellung wurde auf Deutsch zuletzt 2009 veröffentlicht. Eine umfassende moderne Darstellung des Krieges im Rahmen politischer, wirtschaftlicher, sozialer und militärischer Fragen wurde nicht zufällig von einem englischen Autor populär-militärgeschichtlicher und biografischer Werke herausgebracht. 1965 stellte der Journalist Alistair Horne sein dickleibiges Werk ›The Fall of Paris‹ vor, das 1967 unter dem Titel ›Es zogen die Preußen wohl über den Rhein‹ auch in Deutschland bekannt wurde. Hornes Buch – in Teilen ähnlich anekdotisch wie Fontanes Darstellung – bot ein buntes und packendes Panorama des Krieges und der Ereignisse der Pariser ›Kommune‹. Im Jahr 1970 legte der deutsche Publizist und Historiker Franz Herre eine 318 Seiten umfassende, populärwissenschaftliche Darstellung vor, die den Titel ›Anno 70/71‹ trug. Größeres Interesse als in Deutschland findet der Krieg von 70/71 bis heute in Frankreich, wo man diesen allerdings häufig irreführend als ›guerre franco-prussienne‹ bezeichnet. Hier erschienen in den letzten Jahrzehnten mehrere Überblickswerke.

Das Interesse an Militärgeschichte ist nach zwei verlorenen Weltkriegen und einer entsprechend kritischen Geschichtskultur in Deutschland – anders als im europäischen Ausland – nicht ohne Grund auch gegenwärtig wenig ausgeprägt. Doch wie stünde die deutsche Geschichtswissenschaft da, wenn sie sich nur solchen Themen widmen würde, die sie glaubt, moralisch verantworten zu können? Man muss Kriege nicht mögen, um in ihrem Studium trotzdem Erkenntnisse zum Verständnis der Gegenwart und zu ihrer kritischen Beurteilung zu gewinnen.

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Dieses Buch wendet sich weniger an den professionellen Geschichtswissenschaftler, sondern an jeden historisch Interessierten. Es versucht, komplizierte Zusammenhänge ohne unnötigen Ballast verständlich zu machen und so den Vorbildern Fontanes und Hornes nachzueifern. Dabei kommt es zwangsläufig zu Verknappungen, Auslassungen, vielleicht sogar zu unstatthaften Verkürzungen. Auch auf die im wissenschaftlichen Kontext üblichen Literaturverweise durch Fußnoten im Text wird hier – außer bei direkten Zitaten – im Interesse der Verständlichkeit und Lesbarkeit verzichtet. Die gesamte Literatur und alle Quellen – darunter vor allem gedruckte Erinnerungsbücher, Regimentsgeschichten, edierte Briefe –, die hier Verwendung fanden, werden in der angehängten Literaturliste aufgeführt. Selbstverständlich stützt sich jede historische Erzählung auf Quellen, aber ebenso auf die älteren historischen Erzählungen anderer. Dieses Buch versteht sich weniger als ein wissenschaftliches Werk, es will ein Lesebuch im Wortsinne sein.

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Nicht nur Verknappung, auch Personalisierung ist eine mit Recht in der Fachwissenschaft kontrovers diskutierte Methode, um das Handeln und Fühlen schon lange verstorbener Menschen dem heutigen Leser näherzubringen. In der Personalisierung liegen die Gefahren der Eindimensionalität, der übertriebenen Emotionalisierung und des Verlustes eines scharfen Blicks für die Strukturen. In der Personalisierung liegt aber überdies der Vorzug, nicht von Abstraktionen, sondern Menschen, die tatsächlich gelebt haben, ihren Sorgen, Freuden, ihrem Alltag für jedermann verständlich schreiben zu können. Und wie soll eine solch fundamentale Erfahrung, wie sie ein Krieg darstellt, geschildert werden, wenn nicht über die Erlebnisse, Gefühle und Ansichten der unmittelbar am Krieg beteiligten Menschen? So begleiten den Leser nun viele Zeitzeugen, die den Krieg von 1870/71 erlebt haben: Könige, hohe Militärs, Krankenschwestern, Maler, Geistliche, einfache Soldaten, Diplomaten, Gesellschaftstheoretiker, Journalisten, Literaten, Handwerker … Hören wir ihnen zu und schauen, was sie uns noch zu sagen haben.

1870/71

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