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»Es prickelte mich ordentlich […]« – Menschen ziehen in den Krieg

Eine scharf kritisierende Darstellung des Kriegsausbruchs und der Stimmung in Paris im Juli 1870 gibt wenige Jahre später der berühmte literarische Chronist des Zweiten Kaiserreichs, Émile Zola. Wie schon in seinen anderen Werken, zum Beispiel im Bergarbeiterepos ›Germinal‹, schildert er auch in seinem 1879 erschienenen Roman ›Nana‹ mit genauem Blick die Jahre unter Kaiser Napoleon III. ›Nana‹ erzählt das Leben der gleichnamigen Kurtisane, die sich durch die moralisch verdorbene, dekadente Pariser Oberschicht des Kaiserreichs ›schläft‹. Die vergnügungssüchtigen letzten Jahre des Second Empire, angefüllt von Jacques Offenbachs Operettenmelodien und Cancan-Tänzen, finden hier ihre ätzende Kritik. Während die an den Blattern qualvoll verstorbene Nana auf dem Totenbett liegt, dringt der durch die Kriegserklärung an Preußen verursachte patriotisch-lärmende Aufruhr auf den Straßen von Paris in ihr Sterbezimmer. Nanas schon verwesender Körper ist das Symbol für das gleichsam verwesende Kaiserreich und die Schreie der Kriegstobenden sind nur die letzten Zuckungen eines Regimes, das in wenigen Wochen in einem Chaos aus Tod, zerrissenen Körpern und Kanonendonner versinken wird. Die Kurtisane Lucy blickt nachdenklich aus dem Fenster zum Boulevard hinunter: »Traurigkeit schnürte ihr nach und nach die Kehle zu, als stiege eine tiefe Melancholie von dieser heulenden Menge auf. Noch immer zogen Fackeln vorbei und sprühten einen Funkenregen hinter sich her; in der Ferne wogten die Menschenhaufen und drängten sich bis weit in die Finsternis hinaus wie Viehherden, die man des Nachts zur Schlachtbank führt; und dieses Getümmel, diese wirren Massen, dahingetragen von der Flut, hauchten Entsetzen und maßlose Angst vor künftigen Metzeleien aus. Sie betäubten sich, ihre Schreie zerschellten in fiebrigem Wahnsinn, und so stürzten sie auf das Unbekannte zu, das dort fern hinter der schwarzen Wand des Horizonts lag: ›Nach Berlin!, Nach Berlin!, Nach Berlin!‹«3 Es sind die letzten Worte des Romans, die mit dem Zweiten Kaiserreich bildhaft abrechnen: »Nana blieb allein, das Gesicht nach oben gekehrt im hellen Schein der Kerze. Es war nur noch ein schmählicher Überrest, eine feuchte, blutige Masse, ein Haufen verfaulendes Fleisch, das dort hingeworfen auf dem Kissen lag. Die Blattern hatten das ganze Gesicht überzogen, eine Eiterbeule saß dicht neben der andern; vertrocknet und eingesickert wirkten sie schon, wie wenn Schimmel über die Erde wächst auf diesem formlosen Brei, der keine Gesichtszüge mehr erkennen ließ. […] Und über diese grauenhafte, groteske Maske des Nichts flutete das Haar, ihr herrliches Haar, und schimmerte noch immer in seinem Sonnenglanz wie ein Geriesel von Gold. Venus löste sich auf. Es schien als wäre das Gift, das sie vom Aas aus der Gosse mitgebracht, dieser Gärstoff, mit dem sie ein Volk verseucht hatte, ihr jetzt ins Gesicht gestiegen und hätte es in Fäulnis zersetzt. Das Zimmer war leer. Ein ungeheurer Hauch der Verzweiflung stieg vom Boulevard empor und bauschte den Vorhang: ›Nach Berlin! Nach Berlin! Nach Berlin!‹«4

Als in der zweiten Julihälfte 1870 der Krieg erklärt ist, werden in Frankreich und in allen deutschen Ländern Millionen Männer im wehrfähigen Alter in Bewegung gesetzt, um sich auf den noch unbekannten Schlachtfeldern gegenseitig umzubringen. Am Ende des Krieges werden insgesamt fast drei Millionen Männer mobilisiert worden sein. Sie bilden die größten Armeen ihrer Zeit. Pathetische Proklamationen in Frankreich, nüchterne Appelle an die Pflicht, aber auch die Beschwörung göttlichen Beistands in Deutschland gehen der Mobilisierung voraus. Die Propaganda beider Seiten gibt jedem Kämpfer die Argumentation für seine Kriegsteilnahme vor. Napoleon III. lässt am 22. Juli in gewagter Logik verkünden, Krieg führen zu wollen, um künftige Kriege zu verhindern – ein so unaufrichtiges wie naives Konzept, unter dem Jahrzehnte später im Ersten Weltkrieg wieder alliierte Soldaten in den Kampf gegen die Mittelmächte gehetzt werden sollten. Wie schon die Truppen der Französischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts werden auch Napoleons Soldaten dazu aufgerufen, den Deutschen die ›Zivilisation‹ zu bringen: »Wir führen den Krieg nicht gegen Deutschland, dessen Unabhängigkeit wir achten. Wir sind von dem Wunsche beseelt, daß die Völker, welche die große germanische Nationalität ausmachen, frei über ihre Geschicke verfügen sollen. Was uns angeht, so verlangen wir die Herstellung eines Standes der Dinge, der unsere Sicherheit gewährleistet und die Zukunft sichert. Wir wollen einen dauerhaften, auf die wahren Interessen der Völker begründeten Frieden erobern und diesem prekären Zustand ein Ende machen, in welchem alle Nationen ihre Hilfsquellen darauf verwenden, sich gegeneinander zu töten. Die glorreiche Fahne, die wir noch einmal denen gegenüber entfalten, die uns herausfordern, ist dieselbe, die durch Europa die zivilisatorischen Ideen unserer großen Revolution trug. Sie vertritt dieselben Prinzipien; sie wird dieselben Gefühle der Hingebung einflößen.«5 Der Aufruf Wilhelms I. vom 31. Juli atmet hingegen preußische Nüchternheit und protestantische Frömmigkeit. Um die innere Einheit herzustellen, erlässt er eine Amnestie für politische Gefangene: »Indem ich heute zur Armee gehe, um mit ihr für Deutschlands Ehre und für Erhaltung unserer höchsten Güter zu kämpfen, will Ich, im Hinblick auf die einmütige Erhebung Meines Volkes, eine Amnestie für politische Verbrechen und Vergehen erteilen. […] Mein Volk weiß mit mir, daß Friedensbruch und Feindschaft wahrhaftig nicht auf unserer Seite war [sic!]. Aber herausgefordert, sind wir entschlossen, gleich unseren Vätern und in fester Zuversicht auf Gott, den Kampf zu bestehen zur Errettung des Vaterlands.«6

Auf beiden Seiten kämpfen aktive Wehrpflichtige, Berufssoldaten, Freiwillige und Reservisten. Im ›Norddeutschen Bund‹ und in den Ländern, die mit Preußen ab 1867 Militärkonventionen abgeschlossen haben, herrscht theoretisch Wehrpflicht für alle Männer vom vollendeten 17. bis zum 45. Lebensjahr. Nach der aktiven Zeit, die je nach Truppengattung zwei bis drei Jahre beträgt, hat jeder ehemalige Wehrpflichtige noch eine Reservepflicht von in der Regel vier bis fünf Jahren abzuleisten. Da allerdings mehr Wehrpflichtige als Wehrstellen zur Verfügung stehen, wird gelost, wer zum Wehrdienst antreten muss. Durch das Los bestimmte, taugliche Wehrpflichtige eines Jahrgangs unterliegen bis zum 32. Lebensjahr der Ersatzreservepflicht. Allerdings sind es häufig junge Männer aus dem gehobenen Bürgertum, die von der Wehrpflicht freigestellt werden. Von den wehrpflichtigen Jahrgängen werden in Friedenszeiten nie mehr als 50 Prozent in die Kasernen einberufen. Alle ehemaligen Aktiven und Reservepflichtigen treten nach Ablauf ihrer Dienstpflichten dem Landsturm bei. Im zivilen Leben vielleicht Lehrer, einfacher Arbeiter oder Bankkaufmann müssen viele Reservisten nun ihre vor Jahren im Wehrdienst erlernten militärischen Kenntnisse bemühen, wollen sie den Krieg überleben. Auch die körperliche Verfassung vieler ›Teilzeitsoldaten‹ wird jetzt durch Gewaltmärsche und die Unbilden des Wetters häufig auf die Probe gestellt. Doch nicht nur Menschen, ebenso Pferde, Munition, Verpflegung und Gerät müssen in kurzer Zeit organisiert und an die Grenze des jeweiligen Feindes gebracht werden. Reservisten erhalten eine Nachricht von der für sie zuständigen Dienststelle, den sogenannten ›Gestellungsbefehl‹. In ländlichen Gebieten ergeht der Gestellungsbefehl für die Männer eines Dorfes oft an den jeweiligen Ortsvorsteher, der dann von Haus zu Haus geht, um die Nachricht zu überbringen. Der Gestellungsbefehl gibt genaue Angaben, zu welchem Ort der Wehrpflichtige kommen muss, um gemustert, eingekleidet und für den Kriegsfall vorbereitet zu werden. Viele Reservisten trifft der Gestellungsbefehl im Ausland oder bei wichtigen Geschäften. Dem Gestellungsbefehl ist jedoch unter allen Umständen Folge zu leisten. Fernbleiben gilt als Fahnenflucht und wird mit Gefängnis, manchmal mit dem Tod bestraft.

Für viele Familien ist der zeitweilige Verlust des Ernährers ein großes Problem, so zum Beispiel für die Familie des Tischlergesellen Albert Böhme. Böhme ist 24 Jahre alt und hat gerade seine Frau Friederike geheiratet. Friederike ist schwanger. Ein erstes, noch uneheliches Kind der beiden ist bereits verstorben. Beide Eheleute müssen hart arbeiten, um sich einen sehr bescheidenen Lebensunterhalt am Rande des Existenzminimums sichern zu können. Friederike Böhme, geborene Oppermann, arbeitet in der Buchdruckerei und Verlagsbuchhandlung von Georg Westermann in Braunschweig. Die Böhmes leben im Herzogtum Braunschweig, dessen Truppen als Teil des norddeutschen Kontingents preußischem Oberbefehl zugeordnet sind. Am 16. Juli wird auch im Herzogtum Braunschweig mobil gemacht und Albert Böhme rückt nach kurzer Übungszeit als Soldat der 1. Kompanie des 1. Bataillons des Braunschweigischen Infanterie-Regiments Nr. 92 am 28. Juli mit der Eisenbahn aus Braunschweig aus. Für die schwangere Friederike ist die Todesgefahr, in der sich ihr junger Ehemann nun befindet, eine existenzielle Bedrohung. Nicht einmal verabschieden kann sich Friederike von ihrem Mann. Albert und Friederike Böhme verpassen sich. In einem Brief an ihren Mann vom 4. August 1870 beklagt sich Friederike Böhme: »Mein lieber Albert ich hätte dich doch so gern nochmal gesehen doch mir war die Freude nicht vergönt denn Deine und meine Mutter und die Tante wir standen auf der anderen Seite nach Deiken seiner Fabrick hin wo Du heraus sehen wolltest und es doch nicht getan hast es wahr ja aber nicht zuändern denn wir konnten dich nicht wieder umrufen und musten also zu Haus gehen ohne Dich noch einmal gesehen zu haben.«7 Im Hause Böhme herrscht keine Begeisterung, bestenfalls duldender Gehorsam gegenüber den Autoritäten, die den Kriegseinsatz befehlen. Völlig anders sieht es bei vielen Kriegsfreiwilligen aus, die sich im patriotischen Überschwang zu den Waffen melden. Diese rekrutieren sich aus unterschiedlichen Gruppen von eigentlich nicht wehrpflichtigen, zurückgestellten, wehrdienstbefreiten oder nicht wehrfähigen Männern. Nicht allgemein wehrpflichtig sind zum Beispiel Studenten der katholischen Theologie und alle süddeutschen Jahrgänge vor Abschluss der Militärkonventionen mit Preußen. Die Kriegsfreiwilligen, die zumindest im ›Norddeutschen Bund‹ und in Bayern wegen der ausreichenden Zahl regulärer aktiver Wehrdienstleistender und Reservisten eigentlich überflüssig sind, werden nicht überall mit Begeisterung in die Armee aufgenommen. Sie besitzen meistens keinerlei militärische Vorbildung und werden deshalb am Anfang häufig von Offizieren und Ausbildern als Ballast wahrgenommen. Länder, die es sich leisten können, lehnen viele Kriegsfreiwillige anfangs als untauglich ab. Im Verlauf des Krieges werden allerdings bald Freiwillige auch in den zunächst kriegskritischen Ländern mit größerer Bereitschaft ausgebildet und in die kämpfenden Truppen integriert, da sich auf diese Weise die enormen und nicht vorhergesehenen Verluste ausgleichen lassen, ohne die älteren Jahrgänge zu stark zu belasten. Das Königreich Württemberg nimmt sogar Freiwillige auf, die in anderen deutschen Ländern zuvor ausgemustert worden sind.

Auch Karl Zeitz meldet sich freiwillig. Der 26-jährige Zeitz stammt aus Salzungen im Herzogtum Sachsen-Meiningen und hat im Jahr 1870 schon eine bewegte Jugend hinter sich. Vor dem Abitur vom Gymnasium geflohen, hat der Sohn aus gutbürgerlichem Haus erst eine kaufmännische Lehre absolviert, bevor er für einige Jahre in wechselnden Berufen in französischen Handelshäusern tätig war. Als der Krieg ausbricht, verdient Zeitz mit dem Vertrieb ›Nürnberger Zinnsoldaten‹ in Frankreich sein Geld. Als er einige Jahre vor der ›Julikrise‹ in Frankreich durch einen väterlichen Brief in die Heimat zur Musterung gerufen wurde, konnte er sich vom Militärdienst freikaufen. Freikauf ist in vielen deutschen Ländern vor Gründung des ›Norddeutschen Bundes‹ und dem Abschluss der Militärkonventionen mit Preußen eine übliche Praxis höhergestellter junger Männer, den Wehrdienst zu vermeiden. In manchen deutschen Ländern können Bessergestellte obendrein Stellvertreter zum Dienst schicken. Zwar hat auch Sachsen-Meiningen 1867 als Mitglied des ›Norddeutschen Bundes‹ mit Preußen eine Militärkonvention abgeschlossen, mit der die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und Freikauf unterbunden wurde, doch Zeitz wurde vorher gemustert und kehrte glücklich noch am Tag der Untersuchung nach Paris zurück. Die Möglichkeit für Zeitz, sich mit einem nicht unerheblichen Betrag vom Wehrdienst freikaufen zu können, zeigt seinen gehobenen sozialen Status. Doch einige Jahre später, im Sommer 1870, will Zeitz endlich doch noch Soldat werden. Er reist über Nacht aus Frankreich ab in seine Heimatstadt. Dort muss er sich im Rathaus Papiere besorgen, die ihm bestätigen, nicht wehrpflichtig zu sein. Anschließend fährt er sofort nach Mainz, wo das Regiment seines Bruders Theodor, das 2. Thüringische Infanterie-Regiment Nr. 32, kurz vor der Abfahrt an die Front steht. Heimatstandort des Regiments ist Meiningen. Mit knapper Not erreicht Zeitz das Regiment mit einem späten Zug noch rechtzeitig. In Zivil tritt der durch das Kaufmannsleben in Frankreich an gutes Essen gewöhnte, körperlich untrainierte Zeitz auf dem Kasernenhof vor den Bataillonskommandeur. Zuvor hat er sich über Beziehungen an den Regimentskommandeur gewandt und dessen Einverständnis zur Feldzugsteilnahme abgeholt. Zeitz schildert die Szene in seinen ›Kriegserinnerungen‹: »›Feldzugsfreiwilliger?‹, fragte er mich. ›Ja‹, antwortete ich. ›Wo haben Sie früher gedient?‹ ›Ich habe noch gar nicht gedient.‹ Der Major drehte sich nach dem Regimentsadjutanten herum: ›Noch gar nicht gedient? Da kann ich ja den‹ – es war mir, als hörte ich etwas von ›Kerl!‹ – ›garnicht gebrauchen.‹ ›Verzeihung, Herr Oberstwachtmeister, Befehl vom Herrn Oberst,‹ entgegnete der Regimentsadjutant […]. ›Ja, wenn es Befehl vom Herrn Oberst ist, dann muß ich freilich den‹ – jetzt hörte ich ganz deutlich – ›den Kerl mitnehmen,‹ sagte unwillig der mürrische Bataillonskommandeur.«8 Der mürrische Major hat gute Gründe, von der Aufnahme des unausgebildeten, keine körperliche Anstrengung gewöhnten und durch die Fürsprache eines Vorgesetzten protegierten Zeitz nicht begeistert zu sein. Zeitz hat von Krieg und Militär keine Ahnung und ist somit eine Belastung für seine Kompanie. Selbst die Funktionsweise eines Gewehrs muss er sich erklären lassen. Zeitz tritt nach dem Gespräch mit dem Bataillonskommandeur vor den Hauptmann seiner Kompanie: »›Nun, dann will ich sehen, einen tüchtigen Soldaten aus Ihnen zu machen. Kennen Sie das Zündnadelgewehr?‹ ›Nein, ich habe noch keins gesehen‹, mußte ich betreten zur Antwort geben. ›Kapitän d’armes!‹ rief der Hauptmann. Es erschien ein Mann in Uniform auf der Bildfläche, in dem ich später einen preußischen Sergeanten entdeckte. ›Ihr Gewehr!‹, befahl ihm der Hauptmann. Diese Scene spielte sich mitten auf dem Kasernenplatz ab, der Hauptmann saß dabei hoch zu Roß. Der Sergeant reichte ihm das Gewehr auf das Pferd. Der Hauptmann nahm es regelrecht, immer hoch zu Roß, in die linke Hand und sagte mir, indem er, wo dies zur Erklärung nötig, mit der rechten die betreffenden Griffe stramm durchmachte: ›Sehen Sie, das hier ist ein Zündnadelgewehr.‹ […] ›Das nehmen Sie so in die Hand!‹ Ich nickte. ›Schlagen die Kammer auf!‹ Ich nickte wieder. ›Legen so die Patrone ein!‹ Ich nickte nochmals. ›Schlagen die Kammer zu!‹ Ich nickte weiter. […] ›Dann brauchen Sie nur zu schießen!‹, schloß der Hauptmann seine kurze aber inhaltsschwere Instruktion. […] Der Musketier war fertig.«9 Dass Zeitz auch nach dieser peinlichen Vorführung noch nicht im Geringsten ahnt, worauf er sich eingelassen hat, wird er rasch erfahren.

Doch der Großteil der Einberufenen besteht nicht aus Kriegsfreiwilligen, sondern neben den aktiven Jahrgängen und Berufsoffizieren aus Reservisten wie Albert Böhme, die im Alltag einer Arbeit nachgehen und meist Familien zu ernähren haben. Die Reservisten werden zu den Kasernen ihrer ›alten‹ Regimenter einberufen, die in der sogenannten ›Friedensstärke‹ nur aus den jeweiligen Wehrpflichtjahrgängen und ihren Berufsoffizieren bestehen. Mit den Reservisten und den Freiwilligen zusammen haben die Regimenter dann die erforderliche ›Aufwuchsstärke‹.

Nach Sammlung aller Männer eines Regiments und nach einigen Tagen Drill in Übungslagern werden die Kämpfer, ihre Waffen, Pferde, Verpflegung und Munition so rasch wie möglich mit Zügen an die Grenze gebracht. Die Mobilisierung in den deutschen Ländern läuft nach präzisen Plänen und in bedeutend rascherem Tempo ab als von den Franzosen erwartet. Ein Grund für die deutsche Geschwindigkeit ist unter anderem die typisch preußische Präzision in Planung und Durchführung der Mobilisierung. Zwar verlaufen die Mobilisierung und der Truppentransport der Deutschen in äußerst geordneten Bahnen, doch überall, wo derartige Mengen von Menschen und Material bewegt werden müssen, passieren Unfälle, die sogar den besten Plan behindern können. So werden zum Beispiel am 27. Juli durch ein Zugunglück in Wallhausen im Harz sieben Mann des Füsilierbataillons des 26. Infanterie-Regiments getötet und 40 Männer verletzt. Der Militärtransport entgleist durch den Zusammenstoß mit einem leeren Waggon, nachdem eine Weiche falsch gestellt worden war. Bedeutsamer für die Schnelligkeit der deutschen Mobilisierung ist jedoch die Ausrichtung der Eisenbahnstrecken. Während die französischen Eisenbahnlinien konsequent mit Zielrichtung Paris konzipiert worden sind und so sternförmig auf die Hauptstadt zulaufen, wurde in Preußen beim Eisenbahnbau bereits weit vor dem Krieg strategisch gedacht. Die Grenzregion zu Frankreich ist gezielt mit Eisenbahnstrecken erschlossen worden, von allen Winkeln Preußens aus ist sie gut und rasch mit Zügen zu erreichen. Als problematisch erweisen sich jedoch an den innerdeutschen Grenzen unterschiedliche Spurgrößen zwischen den preußischen und den süddeutschen Bahnen.

Ab dem 23. Juli, nur wenige Tage nach der französischen Kriegserklärung, rollen auf sechs norddeutschen und drei süddeutschen Eisenbahnlinien die Truppentransporte. Jede Form nicht militärischen Eisenbahnverkehrs ist für diese Zeit dort verboten. Die deutschen Bahnlinien werden in jede Richtung mit zwölf bis 18 Zügen belastet, die aus Sicherheitsgründen in mäßiger Geschwindigkeit und in Abständen von einer Stunde hintereinander herfahren. Jeder Zug umfasst um die 50 Waggons. Um Unregelmäßigkeiten durch Unfälle oder Verzögerungen ausgleichen zu können, gibt es auf allen Strecken Ruhepausen von sechs bis zwölf Stunden. Die Kämpfer werden in Güterwagen, aber auch in normalen Personenwaggons transportiert. Das geringe Tempo der Züge und die Pausen werden von vielen Soldaten als große Strapaze erlebt, da in den letzten Julitagen 1870 große Sommerhitze herrscht. Vom 23. bis zum 31. Juli befördern die deutschen Eisenbahnen mit rund 900 Zügen 460 000 Mann in die Ausgangsstellungen nahe der französischen Grenze. Damit ist der deutsche Aufmarsch für die ersten Operationen abgeschlossen. In den folgenden zwei Wochen, also schon nach Beginn der Kämpfe, werden dann mit 600 nachfolgenden Zügen 180 000 weitere Soldaten als erste Reserve über den Rhein gebracht. Insgesamt werden so in einer großen Kraftanstrengung innerhalb von drei Wochen 640 000 Mann und 170 000 Pferde mit 1500 Zügen transportiert. Im Verlauf des Krieges folgen noch knapp 390 000 Mann Landwehr und Ersatzreserve. Die Landwehr dient vor allem für den Einsatz in der Etappe und in der Heimat, zum Beispiel bei der Bewachung von Kriegsgefangenen. Auch bei Belagerungen kommt die Landwehr zum Einsatz. Der massive Verlust an wehrfähigen Männern in den ersten Monaten des Krieges macht mit der Einberufung der Landwehr zusätzlich ältere Männer zu Kriegsteilnehmern. Ihr Fehlen wirkt sich im Verlauf der Kämpfe auf die Wirtschaft, vor allem auf die Landwirtschaft, in den deutschen Ländern aus.

Desgleichen müssen wehrpflichtige Männer im Ausland ihrem Gestellungsbefehl Folge leisten. So reisen auf Befehl der preußischen Botschaft am 17. Juli, abends um halb neun, in Paris lebende norddeutsche Staatsbürger mit einem Zug 3. Klasse von der ›Gare du Nord‹ über Belgien zurück in die Heimat. Vor allem in den Pariser Geschäfts- und Bankhäusern arbeiten 1870 zahlreiche Deutsche. In diesem Zug befindet sich auch der junge Franz Plitt. Plitt stammt aus einer wohlhabenden Familie im vormals kurhessischen, seit dem Krieg von 1866 preußischen Kassel. Nach Lehre und einigen Jahren Berufstätigkeit in London meldet sich Plitt am 1. November 1866 als ›Einjährig-Freiwilliger‹ bei der preußischen Armee, in welche die alte kurhessische Armee erst kurz zuvor aufgegangen ist. ›Einjährig-Freiwillige‹ werden Wehrpflichtige mit höherem Schulabschluss aus wohlhabenden Kreisen genannt, die nur ein Jahr dienen und dabei ihre Ausrüstung und Unterbringung aus eigener Tasche bestreiten müssen. Je nach Truppengattung können die Kosten für die ›Einjährig-Freiwilligen‹ enorm sein. Sie dürfen ihre Einheit selbst auswählen und nach dem Dienstjahr den Posten eines ›Reserve-Offiziers‹ antreten. Den Dienst in der Kavallerie können sich allerdings nur Adlige leisten, während Bürgersöhne meist den Dienst in der Artillerie oder der Infanterie wählen. Als Reserveoffiziere müssen ›Einjährig-Freiwillige‹ auch nach der Dienstzeit den Militärbehörden zur Verfügung stehen und für diese erreichbar bleiben. Plitt tritt dem Infanterie-Regiment (3. Kurhessisches) Nr. 83 bei. Schon seit den faszinierenden Berichten von der Pariser Weltausstellung 1867 ist es Plitts Traum, einige Zeit in Frankreichs Hauptstadt zu verbringen. Er spricht gut Französisch und reist daher wohlgemut und gespannt auf neue Eindrücke im Februar 1870 nach Paris. Er will dort für ein Jahr arbeiten. Vorher hat er sich von seiner Militärbehörde für ein Auslandsjahr beurlauben lassen. Allerdings hat er die Vorgabe erhalten, sich im Falle einer Mobilmachung ohne Warten auf einen Gestellungsbefehl zurück in die Heimat zu begeben. Franz Plitt findet in der Maschinenfabrik Petteau in Paris-Passy rasch eine Anstellung. Mit seinen Kollegen versteht sich der junge Franz sehr gut, sie zeigen ihm die Stadt und laden ihn zum Essen ein. Doch dann kommt der Juli: »Ich begann mich dort recht unheimlich zu fühlen; als aber die Regimenter durchkamen und nach den Bahnhöfen abrückten, da dachte ich, jetzt ist es die höchste Zeit, abzureisen, da ich befürchten musste, durch Hemmungen des Verkehrs nicht mehr rechtzeitig die Grenze erreichen zu können. Ich nahm von meinem Principal und dem Geschäftspersonal Abschied und fuhr den 17. abends vom Nordbahnhof über Belgien ab.«10 Unter Plitts Mitfahrern befindet sich auch mancher Deutsche, der nach Jahren in Frankreich heimisch geworden ist und dort eine Familie gegründet, dabei aber nicht die französische Staatsbürgerschaft angenommen hat. Unter Tränen müssen diese Deutschen nun ihre Liebsten in Frankreich verlassen, um gegen die zweite Heimat zu kämpfen.


Abb. 2: Maurice d’Irisson, Comte d’Hérisson, Fotografie, o. J.

Der Schutz deutscher Staatsbürger in Frankreich wird mit Abgabe der Kriegserklärung durch die Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika übernommen, für Franzosen in Deutschland ist ab diesem Zeitpunkt die englische Vertretung zuständig. Viele ausländische Bürger werden jedoch ausgewiesen, so zum Beispiel der deutsche Schriftsteller Adolf Ebeling, der schon seit fast 20 Jahren in Paris lebt.

Auch die von Émile Zola im Roman ›Nana‹ beschriebenen Kurtisanen diskutieren am Sterbebett der Protagonistin die Folgen der Einberufungen auf beiden Seiten. Für die Damen sind die guten Geschäfte vorbei: »Blanche de Sivry ereiferte sich: ›Sprich bloß nicht schlecht von den Preußen! … Das sind Menschen wie alle anderen, wie deine Franzosen auch! … Eben hat man den kleinen Preußen ausgewiesen, mit dem ich zusammen war, ein reiches, nettes Kerlchen, das keinem was zuleide tun konnte. Das ist eine Gemeinheit, ich bin ruiniert!‹«11

Einen besonders weiten Weg zurück in die Heimat hat Maurice d’Irisson, Comte d’Hérisson. Im Auftrag des französischen Handelsministeriums befindet sich der dreißigjährige Graf, der in der Mitte gescheiteltes Haar und einen zu beiden Seiten ausladenden, pomadisierten Schnauzbart trägt, in Washington D. C. Dort erreichen ihn die Kriegsnachrichten. Bald nach Verkündung der offiziellen Kriegserklärung schifft sich Hérisson am 27. Juli von New York mit dem schnellsten Schiff der Cunard-Line, dem Segeldampfer ›Scotia‹, über Cork in Irland nach Frankreich ein. Er ist Reserveoffizier der Mobilgarde und zögert keinen Augenblick, seinem Vaterland zur Seite zu stehen. In New York wird der Comte Zeuge deutschfreundlicher Demonstrationen, ist doch in den Vereinigten Staaten von Amerika Frankreichs mexikanisches Abenteuer weder vergessen noch vergeben. Dazu kommt, dass viele Amerikaner deutsche Wurzeln haben. Auch viele Deutsche eilen von Amerika aus zu den Fahnen, wie der wenig erfreute Graf auf dem Schiff feststellen muss: »In den Schenken, den Straßen, auf den Märkten und in den Handelshäusern, überall zeigten sich Kundgebungen für Deutschland. Man mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht die Fäuste zu ballen, und ich entsinne mich, daß ich die letzten Augenblicke vor meiner Abreise von den Vereinigten Staaten in wüthender Erbitterung einsam in meiner Kabine zubrachte. Ach, auf dem Dampfboote fand ich leider ganz dieselben Gesinnungen wieder! Alle Plätze waren überfüllt von den Deutschen, die sich zum Dienst stellen wollten. Es prickelte mich ordentlich, ganz auf eigene Faust die Feindseligkeiten zu beginnen […].«12 Trösten kann sich der erzürnte Edelmann immerhin mit der unterhaltsamen Reisegesellschaft eines berühmten, wenngleich wenig erfolgreichen Nordstaaten-Generals des amerikanischen Bürgerkriegs. Ambrose Burnside, der Verlierer der Schlacht von Fredericksburg 1862, reist mit Hérisson, um im bevorstehenden Feldzug militärische Studien zu unternehmen. Außerdem soll Burnside mit Segen des amerikanischen Präsidenten Ulysses Grant zwischen den kommenden Kriegsparteien vermitteln. Doch nicht alle Franzosen eilen so bereitwillig wie der schneidige Comte d’Hérisson zu den Waffen. Weil es auf der französischen Seite keinen genauen Eisenbahnplan für die Mobilmachung gibt, dauern die Vorbereitungen dort wesentlich länger als auf der deutschen Seite. Die Züge sind häufig nur zu 60 Prozent ausgelastet, weil viele Reservistengruppen keinen eindeutigen Gestellungsbefehl erhalten haben. Manche der Einberufenen können ihre Stammtruppenteile nicht erreichen. Tausende Reservisten treffen erst bei ihren Regimentern ein, als die großen Grenzschlachten des Augusts schon geschlagen sind. Bei Kriegsbeginn hat Frankreich aber immerhin etwa 350 000 Mann an den Grenzen zu den deutschen Ländern stehen.

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