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Ein sauberer Abgang

(Liber Nominum Montuorum, 2014)

»I`m a suicidal failure, I`ve got to get some help

I have suicidal tendencies, but I can`t kill myself.«

- SUICIDAL TENDENCIES: »Suicidal Failure« (1983) -

Benno wusste, dass man das Haus sprengen würde; und das war ihm nur recht. Er wollte einen sauberen Abgang.

Sauber in dem Sinne, dass es seinen Angehörigen erspart bleiben würde, seinen Leichnam identifizieren zu müssen.

Schon immer hatte er viel Wert auf Sauberkeit gelegt. Die Sprengung des Hauses würde dafür sorgen, dass von ihm nichts übrig blieb.

Eine saubere Sache.

Das Gebäude befand sich inmitten des Industriegebietes der Stadt. Zu Fuß waren es von dort keine zwanzig Minuten zum Zentrum. Das Industriegebiet bestand neben einer Großmolkerei, einem Zementwerk und einer Firma für Solaranlagen zum größten Teil aus Lagerhallen, LKW-Fuhrunternehmen und einem bedeutenden Spielzeughersteller. Umringt wurde der Gewerbepark von wenigen Quadratkilometer unberührten Waldes, der darauf wartete, dem nächsten Firmenmonopol zu weichen. Die Immobilienagentur der Firma hatte das alte, leerstehende Herrenhaus gleich mitgekauft, und da Benno als Notar die Kaufverträge erarbeitet hatte, wusste er, dass das Haus am nächsten Morgen in Schutt und Asche liegen würde. Die Aufsichtsbehörde hatte die Sprengung für halb sechs in der Früh genehmigt.

Noch vor sechzehn Jahren hatte darin ein gewisser Albert Denovali gelebt, der von dem altehrwürdigen Herrenhaus aus seine Firmengeschäfte abgewickelt hatte. Denovali war einer der letzten Großindustriellen der alten Schule gewesen. Er hielt sein Monopol im Bekleidungssektor, bis er herausgefunden hatte, dass seine zwölf Jahre jüngere Gattin ihn nicht nur mit einem Liebhaber hinterging, sondern auch noch großangelegte Industriespionage zu Lasten Denovalis beging. Denovali hatte kurzen Prozess gemacht und seine Frau vor die Tür gesetzt. Alle Angelegenheiten wurden testamentarisch so geregelt, dass der untreuen Dame nur noch die Kleider blieben, die sie am Leibe trug und Denovali erhängte sich im Dachgebälk seines Hauses.

Ein würdevoller Abtritt, wie Benno befand, doch für seine Verhältnisse nicht sauber genug. Alleine die Vorstellung, dass man während des Erhängens seine Schließmuskeln nicht mehr unter Kontrolle hat, die Zunge heraushängt und der Kopf blau anläuft, gefiel ihm überhaupt nicht.

Auch andere Möglichkeiten des Suizids war Benno durchgegangen. Alles hatte er hinterfragt und war alsbald zu dem Entschluss gekommen, dass es nicht seinem Typus entsprach, als hässliche, aufgequollene, verunstaltete Leiche aufgefunden zu werden. Daher musste er dafür Sorge tragen, dass von seinem Körper nichts übrigblieb. Nach genauer Kalkulation blieben daher nur zwei Möglichkeiten: Ein Säurebad - was jedoch aus organisatorischen Gründen ausschied - oder sein aktuelles Vorhaben: das Haus betreten, sich an der Stelle aufhalten, an der die Sprengung am zerstörerischsten wüten würde, und abwarten.

Sah man einmal von der Warterei ab, wäre die Sache schnell vorüber. Bemerken würde Benno von seinem eigenen Tod nichts. Und es würde auch kein Fitzelchen von ihm übrigbleiben. Sein Körper würde in Millionen kleinster Teile zerfetzt, und unter Kubiktonnen Schutt und Geröll begraben werden.

Etwas Besseres konnte es doch gar nicht geben. Die Möglichkeit auf einem pathologischen Seziertisch zu landen, war damit auch passé und das Einzige, was man finden würde, wären DNA-Spuren, sofern man überhaupt nach diesen suchen würde.

Als er das Gebäude erreichte, war er zunächst enttäuscht. Es war das erste Mal, dass er das Grundstück persönlich betrat. Zuvor hatte er das Haus nur auf einer Fotografie gesehen, die zu Denovalis Lebzeiten geschossen worden war. Nun, nicht Mal ein Vierteljahrhundert später machte es auf Benno ein schäbiges Bild. Der Wildwuchs hatte deutlich zugenommen und verschiedenste Gräser, Moose und Flechten waren dabei, das Haus für sich zu erobern. Bäume hatten ihr Laub über die Zufahrt verstreut und überhaupt erweckte das zugewucherte Grundstück den Eindruck, als sei hier nichts mehr zu holen.

Die Bagger und Abrissbirnen standen bereit, und könnten rein theoretisch jeden Moment mit der Arbeit beginnen. Doch sonntags wurde nicht gearbeitet. Benno hatte die ganze Nacht Zeit, es sich in dem Haus gemütlich zu machen und sich auf seinen Tod vorzubereiten. Vielleicht würde er einschlafen. Dann wäre alles noch erträglicher für ihn.

Mühsam bestieg er die zugewucherten Stufen der Eingangsempore und blieb vor der messingbeschlagenen Tür aus dunklem Holz stehen. Grauschwarze Flechten hatten sich auf dem Türgriff gebildet. Benno vermutete eine Art Schimmelbefall.

In seiner Aktentasche suchte er nach dem Schlüssel, und als er ihn herausgeholt hatte, führte er ihn in das verrostete Schlüsselloch ein. Zwar knirschte es verdächtig, als er das Ding herumdrehte, um die Tür zu öffnen, doch ohne Schwierigkeiten gab das Schloss nach und die Tür schwang auf. Der Muff, der ihm entgegenschlug, roch nach Staub, Fäulnis und Moder. Als hätte er das Grab eines Pharaos geöffnet.

Benno trat über die Schwelle, hinein in diffuses Dämmerlicht, in dem er nur die vagen Konturen des Inventars erahnen konnte. Als er seine Taschenlampe einschaltete, stellte er überraschend fest, dass die Einrichtung nahezu vollständig und intakt zu sein schien. Auf der linken Seite stand eine weißlackierte Garderobe, an der sogar noch ein alter Mantel hing. Gegenüber wurde das Bild von einem mannshohen Spiegel reflektiert, der nur einen kleinen Sprung in der linken unteren Ecke aufwies.

Verwundert ging Benno weiter. Hatte man das Haus nach Denovalis Ableben nicht leergeräumt? Wahrlich seltsam, dachte er, während er mit dem Lichtkegel seiner Taschenlampe die geschwungene Treppe, hinauf in den ersten Stock entlangfuhr. Die Treppenstiege bestand aus marmornen Stufen und wirkte noch jetzt, nach dem vermeintlichen Verfall des Anwesens, wie frisch poliert. Einzig die daumendicke Staubschicht störte den Anblick. Doch sicherlich: Zum Putzen kam hier schon lange niemand mehr vorbei. Aber dass sich nicht einmal ein paar Obdachlose dieses bequeme Domizil ausgesucht hatten oder gar eine Horde neugieriger Jugendliche sich Zutritt in das Haus verschafft hatten, verwunderte Benno, der ein zertrümmertes, kaltes Inneres erwartet hatte.

Obgleich die Szenerie unwirklich erschien, verspürte Benno keinerlei Furcht. Er hatte ohnehin nichts mehr zu verlieren oder gar etwas, wovor er hätte Angst haben können. Obwohl das Dunkel und die Schatten nach ihm zu greifen schienen.

Vorsichtig durchforschte er die anderen Räume. Im Erdgeschoss durchlief er eine voll ausgestattete Küche und entdeckte eine - zu seinem Erstaunen noch gut befüllte - Speisekammer. Nur bei den ehemaligen Frischwaren hatte sich der Zustand gewandelt. Doch der Inhalt der Dosen und Gläser mit Eingemachten wäre sicherlich noch genießbar.

Das geräumige Wohnzimmer lud trotz der Staubschichten, die sich auf den unverhüllten Polstermöbeln niedergelassen hatten, zum Verweilen ein. Spinnweben erstreckten sich um die Flaschen der gut bestückten Hausbar: Bourbon, Cognac, Rum, schottischer Whiskey und viele weitere Tropfen mochten den Liebhaber in Versuchung führen. Doch die Zeiten, in denen Benno sich zum Zwecke des Genusses hier niedergelassen hätte, waren schon lange vorbei. Die letzten Stunden seines Lebens wollte er nüchtern verbringen. Sauber - auch innerlich. Sollte man wider Erwarten doch seinen Leichnam bergen, würde er garantiert einer Autopsie unterzogen werden - und Benno wollte um keinen Preis, dass man aufgrund des Alkoholgehaltes in seinem Blut Rückschlüsse auf seine Zurechnungsfähigkeit schließen würde.

Im ersten Stock befand sich neben einigen Schlafgemächern mit ordentlich hinterlassenen Betten und gefüllten Kleiderschränken das Arbeitszimmer des verstorbenen Denovali und dessen herrschaftliches Bibliothekszimmer.

Der mit dunklen Wandtafeln verschalte Raum mit seinem in der Mitte wartenden Schreibtisch wirkte auf Benno wie das Vermächtnis alter Zeiten. An diesem Ort Bittsteller zu empfangen musste für die Besucher erniedrigend gewesen sein. Der mächtige Chefsessel war mit glänzenden Nieten versehen und Benno ließ sich darauf nieder. Hinter sich eine Wand aus dickleibigen Folianten und vor sich der Schreibtisch, auf den er seine Aktentasche legte. Er lehnte sich zurück und dachte über die Beweggründe nach, die ihn hierher führten. Diese zu spezifizieren, war gar nicht so einfach. Benno wusste tief in seinem Inneren, dass sich aufgrund einer ellenlangen Aneinanderreihung verschiedenster Geschehnisse und Schicksalsschläge ein Weiterleben nicht mehr lohnte.

Da wäre zunächst die Tragödie seiner Geliebten. Einen schrecklichen Autounfall versetzte sie in ein Koma, aus dem sie nach eineinhalb Jahren nicht mehr erwachte. Von dem Baby, das sie in sich getragen hatte, erzählte man ihm erst nach ihrem Tod. Nachdem er zugestimmt hatte, die lebenserhaltenden Maschinen abzuschalten. Doch es wäre für Benno ein Leichtes gewesen, dies als einzigen Grund für seine Selbstmordgedanken anzugeben. Hinzu kam jedoch die finanzielle Lage, in die er sich mit seinem Privatvermögen gewirtschaftet hatte, Schulden im sechsstelligen Bereich. Den Rest seines Lebens würde er da nicht mehr herauskommen; obwohl er einen wirklich gut bezahlten Job innehatte. Was das Fass aber endgültig zum Überlaufen gebracht hatte, war die Erniedrigung der letzten Wochen. Jemand hatte ihn gefilmt, wie er in einer Waldlichtung masturbiert hatte und den Film auf einer einschlägigen Internetplattform onlinegestellt. Es hatte nicht allzu lange gedauert, bis das Video unter seinen Kollegen und Geschäftspartnern herumgereicht wurde. All die Verleumdungen und beschämenden Kommentare hatten ihn nunmehr hierher getrieben.

Benno blickte auf die Uhr. Sieben Stunden blieben ihm noch, bis zur Sprengung des Gebäudes. Sein Plan war es, eine Henkersmahlzeit zu sich zu nehmen, die er sich mitgebracht hatte und sich danach eine kuschelige Ecke irgendwo im Keller zu suchen. Davor jedoch würde er seine Geschichte niederschreiben. Einfach nur so, für sich. Es war ein Spontanentschluss, der ihn soeben erst ereilt hatte. Das Schreiben soll ja auch therapeutische Wirkung haben und so würde es ihn nur in seinem Vorhaben bestärken. Es war richtig, aus dem Leben zu treten. Die Hintergründe niederzuschreiben wäre zudem ein netter Zeitvertreib. Er öffnete die Schubladen des Schreibtisches und suchte nach Schreibmaterialien. Er fand tatsächlich einen Block mit kariertem Papier, legte ihn vor sich und schlug die Deckpappe auf. Der Block war beschrieben. Benno wollte schon weiterblättern, als sein Blick doch noch an der Handschrift Denovalis haften blieb:

Schon wieder kann ich es hören. Dieses nervtötende Klopfen begleitet von abstoßendem Schmatzen. Die wievielte Nacht ist dies nun der Fall? Längst habe ich aufgehört zu zählen. Die Geräusche begleiten mein Leben, seit ich es alleine führe. Jede Nacht. Stets zu mitternächtlicher Stunde. Doch seit heute weiß ich endlich, was die Geräusche verursacht. Über dieses Wissen werde ich mir nun Gewissheit verschaffen. Und ohne jeden Zweifel werde ich entweder meinem Leben ein Ende setzen, oder aber ES wird dies für mich tun.

Für die Nachwelt indes breche ich mein Gelübde und halte hier meine letzten Erkenntnisse fest. Mögen die nachfolgenden Aufzeichnungen in die rechten Hände geraten.

Die Signatur unter der Handschrift trug Denovalis Namen.

Benno blickte auf die Uhr. Noch war es nicht Mitternacht. Dennoch lauschte er aufgrund des Textes in die Dunkelheit, leuchtete mit der Taschenlampe umher, doch weder war etwas zu hören noch zu sehen.

Er blätterte die Seite des Blocks um, doch die folgenden Blätter waren leer.

Handelte es sich hier nur um das aufgesetzte Manuskript, das Denovali zu einem späteren Zeitpunkt auf der Maschine ins reine getippt, und den benannten Aufzeichnungen beigefügt hatte? Oder war dem Verfasser keine Zeit mehr geblieben, den Text zu vollenden? Wo befanden sich jene Aufzeichnungen, von denen im Text die Rede war? Da auch sonst nichts in Denovalis Anwesen fehlte und es in jedem Raum so aussah, als habe der Bewohner nur kurz seine Behausung verlassen, ging Benno davon aus, dass sich jene Aufzeichnungen irgendwo befinden mussten. Dass ausgerechnet diese von irgendjemandem beiseitegeschafft worden waren, war unwahrscheinlich.

Neugierig begann Benno damit, den Inhalt der Schreibtischschubladen zu durchforsten. Er entdeckte allerhand, jedoch nichts, was mit dem geheimnisvollen Vermächtnis Denovalis etwas zu tun haben könnte. Er stand auf und besah sich die Buchrücken mit ihren kryptischen Titelintarsien: Von Junzts »Unaussprechliche Kulte«, »Der kleinere Schlüssel Salomonis«, das »Buch Abremalin«, datiert auf das Jahr 1458, Charles Laughtons »Dämonen und ihre Widersacher«, »De Occulta Philosophia« von Agrippa von Nettesheim, das »Buch Soyga«, das »Necronomicon«, das »de pseudomonarchia daemonum« von Johann Weyer und viele andere schwarzmagische, alchemistische und okkulte Schriften, mit denen Benno in erster Linie überhaupt nichts anzufangen wusste. Aus einigen Seiten sprießten gelbe Post-it Zettel und er zog den entsprechenden Band heraus, um ihn an jenen Stellen aufzuschlagen. Doch all das zusammenhanglose Geschwafel, die magischen Traktate mit ihren unaussprechlichen Wörtern und undurchführbaren Anweisungen, stießen bei Benno auf achselzuckendes Unverständnis.

Fest stand für ihn nur, dass Denovali an irgendeiner Sache dran war, die sich hier in seinem Haus abgespielt hatte. Etwas, vor dem er sich selbst gefürchtet, das ihn vielleicht sogar in den Wahnsinn getrieben hatte.

Allerdings behandelte er die antiken Werke mit Ehrfurcht. Ihm war bewusst, dass sie in ein paar Stunden allesamt vernichtet werden würden. Hätte er ein Verständnis für die alten Schriften, so würde er die Hände über dem Kopf zusammenschlagen; doch da dem nicht so war, konnte er nur die Unachtsamkeit der rechtmäßigen Erben bedauern. Da diese das Haus zum Abriss freigegeben hatten, ohne das Inventar im Vorfeld zu sichten beziehungsweise es gewinnbringend zu veräußern.

Noch eine halbe Stunde bis Mitternacht. Er beschloss, in den Keller zu gehen. Vielleicht würde er dort fündig werden, wo in Denovalis Handschrift von diesem Ort die Rede war.

Vorsichtshalber wechselte er die Batterien der Taschenlampe. Ersatz hatte er mitgebracht. Seine Tasche ließ er hier. Er würde später zurückkommen, sich an diesen Schreibtisch setzen und auf sein Ende warten.

Oberflächlich betrachtet bestand der Keller neben dem Heizungsraum aus nur drei Räumen: einem durchaus beeindruckend zu nennenden Weinkeller, einem Abstellraum und einem Schwimmbad. Das Schwimmbecken war gut drei Meter breit und sechs Meter lang. Es roch nach abgestandenem Chlor und auf dem milchigen Wasser hatte sich eine Algenschicht gebildet. Des Weiteren gab es noch einen Umkleideraum und eine integrierte Sauna.

Klopfende oder gar schmatzende Geräusche indes konnte Benno auch hier nirgends ausmachen. Er beendete den Rundgang und stieg wieder die Stufen nach oben, als er seine Meinung änderte. War da nicht soeben doch ein Geräusch gewesen? Ganz kurz nur, am Rande seiner Wahrnehmung?

Benno blickte auf die Armbanduhr. Es war zehn Minuten vor Mitternacht.

»Weshalb nur immer Mitternacht?«, intonierte er. Unheimliche Klopfgeräusche - seien sie von Geistern verursacht oder nur eingebildet - scheint es stets nur zu dieser vermaledeiten Uhrzeit zu geben. Was machte die erste Stunde eines jeden neuen Tages nur so magisch?

Er beschloss, den Eintritt der sogenannten Geisterstunde im Keller abzuwarten, machte auf den Stufen kehrt und ging wieder nach unten. Instinktiv suchte er den Weinkeller auf. Der Raum maß in etwa dreißig Quadratmeter und war zu allen Seiten mit gefüllten Weinregalen bestückt. Im Zentrum des Raumes befand sich ein altes Weinfass und auf diesem warteten mehrere Kerzenstummel darauf, entzündet zu werden.

Benno kramte in der Hosentasche nach den Zündhölzern, die er sich ohne besonderen Grund für seine letzte Nacht auf Erden eingepackt hatte. Er entfachte die Kerzen und schaltete die Taschenlampe aus. Das Licht langte, um die Atmosphäre, den die unzähligen Flaschen auf ihn ausübten, wirken zu lassen.

Nun reizte es ihn doch, den einen oder anderen Tropfen zu kosten. Doch er widerstand der Versuchung.

Er ließ die Kerzen brennen und bahnte sich seinen Weg in die Abstellkammer. Hier schaltete er die Lampe wieder ein und ließ den Lichtstrahl durch den wirbelnden Staub und die Intarsien des stinkenden Kellerabteils wandern. Er erkannte ein altes Fahrrad, das an einem großen Schrankkoffer lehnte. Aufgeplatzte Plastiksäcke verrieten, dass sie die Kleidung kaum noch halten konnten. Mit der Zeit hielt der Kunststoff nicht mehr. Kleiderbügel hatten sich durch die blaufarbene Haut hindurchgebohrt und Benno erkannte, dass es sich um Frauenkleidung handelte. Vermutlich die vormalige Bekleidung Denovalis Exgattin.

Warum war sie nach dem Tod Denovalis nicht hierher zurückgekehrt, um sich ihre Sachen zu holen?

Weiter vorne lag eine halbgeöffnete Schatulle, aus der Polaroidfotos lugten. Benno nahm die Schachtel und setzte sich auf einen ausrangierten Stuhl, um sich die Bilder zu betrachten.

Die Fotos waren allesamt im Schwimmbad aufgenommen worden. Das erkannte Benno sofort. Allerdings war es höchst widerwärtig, was die abfotografierten Gestalten dort taten. Glaubte man den ausgebleichten Fotos, schien Denovali sich an Orgien zu erfreuen. Neun Leute waren auf dem einen Bild zu sehen. Alle nackt. Eine Person saß noch in der Umkleidekabine, während eine weitere mit ihr zu reden schien. Ein Pärchen ging derweil händchenhaltend auf den Pool zu, an dessen Rand ein älterer Mann mit Vollbart saß und masturbierte. Ein muskulöser, farbiger Mann sah ihm dabei zu und reckte seine gewaltige Erektion aus dem Wasser. Ein weiteres Pärchen küsste sich eng umschlungen. Die Frau war recht dick und sie verbarg ihren eher hageren Partner nahezu völlig. Dicht daneben stand Denovali selbst und winkte dem Fotografen zu. Den Frisuren nach zu urteilen, musste die Bilderserie Ende der siebziger Jahre aufgenommen worden sein.

Kopfschüttelnd überflog Benno die anderen Fotos. Ausnahmslos alle zeigten die Personen des ersten Bildes, wobei sie sich kopulierend miteinander abwechselten. Das Geschlecht schien bei dieser Orgie keine Rolle zu spielen.

Seltsamerweise trat der Fotograf selbst nicht in Erscheinung. Dafür entdeckte Benno auf dem letzten Bild etwas anderes; nur konnte er nicht erkennen, was es war. Hatten die Teilnehmer der Orgie Schläuche verlegt? Oder waren es Reinigungsutensilien, die dort auf dem Boden herumlagen? Es sah aus, als hätte man die Schläuche mehrerer Staubsauger im Raum des Swimmingpools verteilt und alle führten unter die Wasseroberfläche. Die Menschen hingegen schienen ebenfalls mit diesen Schläuchen zu kopulieren.

Es war mehr als nur seltsam, zumal das Bild aus der Serie der Vorangegangenen deutlich herausstach. Nicht nur, aufgrund der eigenartigen Schläuche, sondern auch weil es als Einziges nicht verblasst war. Dafür aber schien der Kamerafokus falsch eingestellt gewesen zu sein. Das Bild war unscharf.

Kopfschüttelnd legte Benno die Polaroids wieder zurück in die Schachtel, als er der Geräusche gewahr wurde. Ein deutlich vernehmbares Klopfen und Pochen, gepaart mit eben jenen schmatzenden Geräuschen, die Denovali beschrieben hatte.

Er legte die Pappbox beiseite, stand auf und verließ den Raum. Da er die Quelle des Geräusches nicht ausmachen konnte, begab er sich zunächst ins Schwimmbad. Es war seltsam: Das Wasser schien zu brodeln. Hier und dort warf es Blasen. Doch aufgrund der milchig-trüben Konsistenz und der grünschimmernden Algenflechten auf der Oberfläche konnte Benno nicht erkennen, was die Blubberblasen verursachte. Gleichsam war das Brodeln nicht die Ursache für das Klopfen und Schmatzen. Doch schien es etwas damit zu tun zu haben.

Das Schwelen des Wassers wurde intensiver. Es war, als stünde Benno einem gigantischen, viereckigen Hexenkessel gegenüber. Der Lichtkegel, den seine Taschenlampe auf das Gluckern warf, rief in ihm ein Unwohlsein herauf, dem er sich nicht erwehren konnte. Die glucksenden Wasserblasen schienen zu dampfen. Algen spritzten in losen Fetzen an den Beckenrand und blieben daran kleben, und rutschten wieder - schmierige Schlieren hinterlassend - zurück ins kalkgraue Wasser. Hinzu gesellte sich ein fürchterlicher Gestank, der irgendwo zwischen Schwefel und Fäkalien anzusiedeln war. Angewidert verließ Benno das Schwimmbad, von dem er wusste, dass es bereits einmal Ort einer okkulten Orgie gewesen war.

Das schmatzende Klopfen tobte währenddessen unaufhörlich weiter; nahm sogar an Intensität zu.

Er begab sich zurück in den Weinkeller und nahm überrascht wahr, dass hier das Toben der Geräusche am lautesten war. Die Kerzen auf dem Weinfass vibrierten mit jedem neuerlich schmatzenden Schlag.

Kein Zweifel, war Benno klar, die Ursache des Geräusches befand sich im Inneren des gut hundert Liter fassenden Weinfasses. Was mochte sich darin befinden? Verblüfft beobachtete er die rhythmische Vibration des Kerzenlichts.

Mit einem Mal gab es ein Bersten. Ein gewaltiges Toben war zu vernehmen. Als hätte sich im Inneren des Weinfasses eine Sprengladung befunden, explodierte das mit metallenen Bändern zusammengehaltene Rund in tausende hölzerner Splitter.

Benno erschrak so sehr, dass er wie angewurzelt stehenblieb, anstatt in Deckung zu gehen; und es somit in Kauf nahm, dass sich Holzsplitter in seine Gliedmaßen bohrten.

Das Entsetzen nahm seinen Lauf, als peitschende Schläuche nach ihm tasteten. Unverzüglich keimte in ihm die Erinnerung an jenes Polaroidbild auf, wo die Mitglieder der exzentrischen Orgie ihre Geschlechter an den eigenartigen Staubsaugerschläuchen rieben.

Nun erst trat Benno einen Schritt zurück. Er bemerkte nicht, dass die Splitter ihm blutende Wunden an seinem Körper verursacht hatten.

Die eigentümlichen Schläuche wirkten mit einem Mal recht organisch. Fleischig, um genau zu sein. Schmatzend und klopfend wölbten sie sich ihm entgegen. Im Hintergrund nahm er das Brodeln des Swimmingpools war.

Aus Angst nässte Benno ein. Er bemerkte es nicht. Dennoch beflügelte die Angst seinen Verstand auf einer primären Ebene: Flucht!

Behände wandte er sich um und rannte aus dem Raum, so schnell er konnte. Die Treppen hinauf. Den Eingangsflur passierend. Auf die Tür zu, die …

… sich nicht mehr öffnen ließ.

»Was ist hier nur los?«, rief er, und stürmte weiter, abermals die Treppen hinauf, bis er den ersten Stock und dort das Arbeitszimmer erreichte.

Verzweifelt stieß er die Türe hinter sich zu und lehnte sich keuchend dagegen.

Was war das alles? Ein Spuk? Eine Geistererscheinung?

»Der fleischgewordene, blasenwerfende Staubsauger?«, rief er ins Dunkel.

Benno lachte über die Ironie des Schicksals. War er nicht zum Sterben hierhergekommen? Und nun hatte er wohl Angst vor dem Tod?

Oder war es mehr die Angst, vor dem, was einen letztlich umbringt, die ihn so fertigmachte?

Überall um ihn herum klopfte es in den Wänden und Allerorte schmatzte es, so als würden sich die Fühler des unterirdischen, beseelten Saugers durch sämtliche Hauswände tasten. Benno kauerte sich im Dunkeln an die Tür gelehnt nieder und bastelte sich folgende Erklärung zurecht:

Vor Jahrzehnten hatte Denovali, der sich schon immer mit dem Okkulten beschäftigte, einer Orgie hingegeben und mit dieser irgendetwas beschworen. Die Orgie selbst hatte er sogar fotografisch dokumentiert, bis diese Dinger gekommen waren. Schläuche. Tentakel. Irgendein Urtier. Ein Vieh aus prähistorischen Zeiten vielleicht oder aber tatsächlich ein Dämon, Teufel, Monster … was auch immer. Denovali musste es geschafft haben, das Wesen einzusperren. Vielleicht in diesem Weinfass oder aber unter dem Swimmingpool oder er hat es wieder vertreiben können. Damit mochte erst einmal Schluss gewesen sein, mit seinen okkulten Spielereien. Doch nachdem er seine Frau vor die Tür gesetzt hatte, hat der Wahn über die Einsamkeit gesiegt. Denovali hat sich wieder seinen uralten, pubertären Liebhabereien zugewandt. Mittlerweile reich und berüchtigt hat er sich mit entsprechend okkulter Literatur eingedeckt und das Wesen wiedergefunden, das seit der Orgie sein Unwesen unterhalb oder in dem Gemäuer treibt.

Allein die Geräusche, die das Vieh verursacht, haben Denovali alsbald in den Selbstmord getrieben. Und nun, nach fast zwanzig Jahren, in denen das Gebäude leer stand, hatte es wieder die Präsenz eines menschlichen Wesens gespürt und sich zu neuem Tatendrang aufgebäumt. Die Kraft des vergangenen Vierteljahrhunderts wurde entfesselt und Benno stand ihr nun machtlos gegenüber.

»Ist das zu weit hergeholt?«, fragte er sich selbst laut, »oder hat es sich tatsächlich mehr oder weniger so zugetragen?«

Und trotz seines immerhin möglichen Resümees beschäftigte Benno in Wahrheit eine ganz andere Frage: Sollte er dem Grauen des Denovali ausharren und weiterhin auf seinen so sehr gewünschten Tod warten, oder aber lieber die Flucht ergreifen? Immerhin hatte er sich sein Ableben gänzlich anders vorgestellt. Er hatte es genau geplant. Und nun das! Während er darüber nachdachte, lauschte er angsterfüllt dem klopfenden Schmatzen, das sich im gesamten Haus breitmachte.

Ruhelos schritt er in Denovalis Arbeitszimmer auf und ab, beleuchtete mit seiner Taschenlampe die Wände und Ecken, hinter denen er Geräusche vernahm. Im ersten Moment war das Klopfen an der linken Wand, im nächsten hörte er von rechts ein Schmatzen. Dann wieder ein saugendes Gurgeln, direkt unter sich und schließlich ein Klatschen und Patschen in der Wand, die sich dicht hinter ihm befand. Er wirbelte herum, suchte die Wände ab, aber fand nichts.

Dann fiel sein Blick an die Decke, wo er eine Dachluke entdeckte. Eine metallene Öse wartete darauf, dass man durch ihr einen Haken einführte, um die Klapptür nach unten zu ziehen.

Von den schrecklichen Geräuschen begleitet, suchte Benno hektisch den Raum nach einem dafür vorgesehenen Ziehhaken ab. Er fand ihn schließlich in einem schmalen Spalt, den das Bücherregal und der Fensterrahmen bildeten. Schon hatte er den Stab ergriffen und balancierte seinen Haken in die Öse der Klapptür. Er sagte sich selbst, dort hinauf zu müssen, denn allein von oben kamen die Geräusche nicht. War dies demzufolge der einzig sichere Ort? Gleichzeitig schalt er sich einen Narren, denn er wollte ja ohnehin sterben. Oder etwa nicht? Machte er sich nur etwas vor?

Egal. Er hatte nun keine Zeit darüber nachzudenken. Mit einem Ruck hatte er die Klapptür geöffnet. Eine ausziehbare Leiter kam zum Vorschein und hing nun in halber Höhe vor ihm, in der Mitte des Raumes. Er ließ den Stab fallen und zog die Leiter aus ihrer Verankerung. Dann machte er sich an den wackeligen Aufstieg in die dunkle Öffnung über ihm.

Obwohl er mit seiner Taschenlampe hinaufleuchtete, sah er nichts. Es war, als würde der Lichtstrahl von der Schwärze über ihm verschluckt werden. Dies änderte sich auch nicht, je näher er dem Loch kam. Von unten polterten nach wie vor die saugenden Schlauchtentakel durch das Haus.

Endlich hatte er die Leiter erklommen und zog sich nun das letzte Stück hinauf, hinein in das schwarze Loch, wo es muffig roch und Staub in seine Nase kroch. Benno unterdrückte ein Niesen.

Das Licht der Lampe schien hier stumpfer zu sein, als im unteren Teil des Hauses. Es war, als würde der Lichtstrahl nach wenigen Metern abgeschnitten werden. Das, was er sah, war jedoch nicht weiter bemerkenswert. Der Dachstuhl wies keinerlei Besonderheiten auf. Marode erscheinendes Gebälk stützte das Ziegeldach. Dachfenster gab es nicht. Allerlei Gerümpel stand herum. Kisten, ein eingerissener Lampenschirm, zusammengerollte Teppiche, ein Stapel Dielenbretter, die vielleicht von einer Renovierung übriggeblieben waren.

Benno beleuchtete die Holzstreben und wurde alsbald am Deckenträger fündig. Man hatte den Strick nicht entfernt. Als man Denovali hier gefunden hatte, musste man ihn aus der Schlaufe befreit haben, entgegen der üblichen Taktik, den Erhängten einfach loszuschneiden. Nun, vielleicht hatte man kein Messer zur Hand gehabt. Wartend baumelte die Schlinge vom alles tragenden Hauptbalken. Darunter befand sich ein auf der Seite liegender Schemel. Daneben lagen einige beschriebene Blätter.

Benno stellte den Schemel auf und setzte sich darauf. Dann nahm er die Blätter zur Hand und freute sich einen Moment lang, endlich das gefunden zu haben, was er zuvor die ganze Zeit gesucht hatte: Denovalis Vermächtnis.

Zusammengefasst konnte Benno seine Lektüre als die Bestätigung seiner Vermutung bezeichnen. Mir nur einem Unterschied: Denovali hatte seinerzeit keinen Dämon beschworen, sondern ihn durch das orgiastische Ritual in seinem Swimmingpool gebändigt. Er hatte das Wesen gefangen genommen und daraus seine Macht gezogen. Eine Macht, die er schließlich nicht mehr kontrollieren konnte, nachdem er in seiner Funktion als Hohepriester sein Opfermädchen verloren hatte. Zurecht war Denovalis Frau nicht mehr zurückgekommen. Sie war geflüchtet vor den allmonatlichen Besänftigungsritualen mit jenem Ding, das dort im Keller hauste und im Laufe der Jahre mit dem Gebäude verwachsen war. Eine neue Prinzessin hatte er für den schlafenden Prinzen nicht finden können und so hatten sich die Machtverhältnisse alsbald gewandelt. Denovali hatte keine Macht mehr über das Wesen, sondern dieses nunmehr über ihn, was Denovali in den Selbstmord getrieben hatte. Fortan hatte der Prinz geschlummert, doch nun, durch Bennos gedankenloses Eindringen in das Gemäuer, das sein Schlafgemach war, hatte er den träumenden Prinzen geweckt.

Benno musste schnell handeln. Er musste seinem Leben ein Ende bereiten, bevor das Wesen sich seiner annahm. Denn wenn dies geschah, wäre das Wesen frei. Es würde in ihn eindringen und sich seiner bemächtigen. Das Ding würde getarnt als Benno, das Gebäude verlassen und sich in der Welt ausbreiten. Das durfte nicht geschehen.

Wenn in wenigen Stunden die Gebäudesprengung vollzogen wäre, dann wäre das Wesen vernichtet, mutmaßte Benno. Doch bis dahin war noch genügend Zeit. Schon hörte er das sich nähernde Klopfen und Schmatzen. Es bahnte sich seinen Weg durch die geöffnete Luke des Dachstuhls. Er konnte die Präsenz des Dings spüren. Auch wenn der Strahl seiner Lampe nicht bis dorthin langte.

Benno stieg auf den Schemel.

Das schleimige Wimmeln kam näher.

Er legte sich die Schlaufe um den Hals.

Die sich windenden Schläuche waren da.

Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang er den tausendfachen Armen entgegen, die ihn warm und feucht empfingen und sich seiner annahmen.


Wenige Stunden später, kurz bevor die Arbeiter des Sprengkommandos eintrafen, verließ ein Mann das Gebäude. Scheu blinzelte er dem aufkommenden Tageslicht entgegen. Als er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte, machte er sich auf, die Welt zu erkunden. Er würde ihr einen sauberen Abgang bereiten.

Schauer der Vorwelt

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