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Kadath

(Kingsport – ein Reiseführer, 2014)

»Und Dämonen wie aus bösem Traume,

durchschleichen die verlass`ne Nacht«

- Samuel Taylor Coleridge: »Die Ballade vom alten Seemann« (1798) -

Die Dunkelheit kommt.

Ich sage dies, während es tiefe Nacht ist. Doch das lauernde Schmatzen ist nahe. Unentwegt kriecht es näher, und ich erwarte es. Nicht, weil es mein Wunsch ist, sondern da ich keine andere Chance habe.

Ich stehe inmitten des Zentrums einer Parkanlage, die im Herzen der Stadt Kingsport liegt. Ach wäre ich doch nie dem Ruf gefolgt, diesen schauderhaften Ort aufzusuchen. Doch war ich mir meiner intensiven Nachforschungen so sicher, dass ich überzeugt davon bin, das Richtige zu tun.

Nun: In Kürze werde ich Gewissheit haben.

Ich schließe die Augen und warte auf die Umarmung des Unnennbaren.

Werde ich sterben? Oder werde ich mich alsbald auf dem unbekannten Kadath wiederfinden, dort wo die menschlichen Götter hausen und vergeblich um seine Gunst buhlen?

Die Dunkelheit ist bereits spürbar, droht mich zu umfangen. Greifbar nahe höre ich das perverse Kichern. Das konstante Schmatzen und Kauen. Das schleimige Brodeln der sich rastlos näher tastenden Fühler.

Ich halte die Augen geschlossen, breite die Arme aus, und warte.

Und die Wartezeit versüße ich mir mit der Erinnerung, an jene Ereignisse, die mich zu meinem baldigen Ende geführt haben.

Eine folgenschwere Begegnung.

Ach, wäre die Dunkelheit doch schon da.


Das wimmelnde Chaos erschien in Gestalt dreier Kerle, von denen auf den ersten Blick keinerlei Bedrohung ausging. Doch als sie den Penner mit dem Einkaufswagen sahen, kamen sie über ihn, wie die apokalyptischen Reiter.

Zunächst rempelten sie ihn von der Seite an, sodass der Mann zu Fall gebracht wurde. Vermutlich war es ihre Absicht, ihm auf diese Weise den Einkaufswagen zu entreißen und so in ihren Besitz zu bringen. Doch der Mann ließ nicht los und der Wagen stürzte mit ihm um. Ein Großteil des Inventars ergoss sich dabei auf den Bürgersteig.

»Lass los, du Sackgesicht, oder muss ich dir die Hand abhacken?« Der Junge, der das Messer zückte, war höchstens siebzehn Jahre alt gewesen. Er schien der Anführer des Dreiergespanns zu sein.

»Ja, schneiden wir ihm die Hände ab«, sagten seine beiden, etwa gleichaltrigen Gefolgsleute im Chor. Das langte mir. Ich hatte genug gesehen. Ich wechselte die Straßenseite und rief irgendetwas, wie »Hey!« oder so, nur um die Aufmerksamkeit der drei Schläger auf mich zu lenken und dem Opfer so eine Verschnaufpause zu ermöglichen.

Die Jungs hielten inne und schenkten mir ihre Aufmerksamkeit.

»Was willst du, Opa?«, riefen sie provokativ.

»Opa?«, rutschte es aus mir raus.

Ich verglich im Geiste mein Erscheinungsbild, mit meinem tatsächlichen Alter von vierunddreißig Jahren.

»Verpiss dich«, sagte der Anführer, richtete das Messer auf mich und ließ sein Handgelenk kreisen. »Sonst schlitz ich dem alten Mann hier die Kehle auf.«

Bevor ich einen pädagogisch wertvollen Satz über meine Lippe brachte, ertönte von dem Mann auf dem Boden ein Lachen. Er lachte laut und schrill, während er sich aufrichtete.

»Was lachst du so, Alter?«, fragte der Jugendliche, der sich neben dem Messer seines Anführers positionierte.

Die Gruppe war irritiert. Immer wieder trafen sich ihre Blicke und jeder von ihnen versuchte, die Situation einzuschätzen.

Anstatt eines leichten Opfers, das am Boden lag, hatten sie zwei erwachsene Männer, die ihnen gegenüberstanden und von denen zumindest einer die Situation als ungemein komisch empfand. Entweder das, oder er war wahnsinnig. Nicht ganz sauber.

»Wieso lachst du?«, sagte der Junge mit dem Messer und fuchtelte damit bedrohlich nah vor dem bärtigen Gesicht des Mannes herum.

Sein Lachen verebbte, doch sein Gesichtsausdruck blieb grotesk.

»Ich habe die Stadt mit den goldenen Dächern im Schein des Sonnenuntergangs in meinen Träumen gesehen«, sagte er und lehnte sich wohlgefällig zurück, um außer Reichweite des Messers zu gelangen. »Ich habe die herrlichen Katzen von Ulthar gestreichelt und bin ihr Freund geworden.« Nun beugte er sich wieder vor. »Ich bin den beschwerlichen Weg zum Ngranek gegangen und habe ihn bestiegen, um das Antlitz der Götter zu erblicken.«

Er trat einen Schritt vor, dem Anführer der Jugendlichen entgegen, der trotz des Messers unweigerlich zurückwich.

»Ich trieb mich mit unnennbaren Kreaturen in der Unterwelt herum.« Ein fürchterliches Grinsen umspielte seine Lippen und formte sein Gesicht zu einem Abbild des Wahnsinns. »Und ich erreichte Kadath, wo mich der Unnennbare in Empfang nahm.« Seine Augen verengten sich zu messerscharfen Schlitzen und er fuhr flüsternd fort: »Und von wo aus ich schließlich zu ihr gelangte.«

»Ihr?«, fragte der Typ mit dem Messer in der Hand. Er hatte seine Waffe mittlerweile sinken lassen. Mit einer derart psychischen Gegenwehr hatte keiner der drei Kids gerechnet.

»Ihr!«, sprach er der Mann mit funkelnden Augen weiter, »Der Stadt meiner Träume, mit den goldenen Dächern im Schein des Sonnenuntergangs, die ich so lange gesucht und nun endlich gefunden hatte.«

Die Jugendlichen sagten nichts, doch das schien den Mann nicht zu stören. Stattdessen richtete er das erste Mal seinen Blick auf die Drei und es schien, als nehme er sie nun überhaupt erst bewusst war. »Und Ihr glaubt ernsthaft, dass ihr mich mit eurem Messerchen beeindrucken könntet?«, flüsterte er.

Doch sein Flüstern war eindringlicher, als hätte er lauthals nach der Polizei gerufen. Unverzüglich nahmen die Jugendlichen Reißaus. Zufrieden blickte er ihnen hinterher. Ebenso bei mir hinterließ sein Gerede einiges an Irritation. In den hintersten Windungen meines Hirns regte sich etwas. Doch war es nicht greifbar. Dafür verbreitete sich die Neugier. Neugierde und Faszination waren seit jeher meine liebsten Motive, wenn es darum ging, mich für einen Menschen oder eine Sache zu interessieren. Ich begab mich zum Einkaufswagen und griff mit einer Hand an das Gitter des Korbes und mit der anderen an den Schiebgriff. Der Mann gesellte sich zu mir.

»Sie brauchen mir nicht helfen«, sagte der schmuddelig wirkende Mann.

»Keine Ursache«, entgegnete ich.

Gemeinsam wuchteten wir den Einkaufswagen zurück auf seine Räder. Die herumliegenden Dinge waren das übliche Inventar solcher Einkaufswagen, die von Obdachlosen durch die Stadt geschoben wurden: Pfandflaschen, Essensreste, Kleidungsfetzen und dergleichen. Doch da waren noch andere Dinge, die der Mann mich nicht aufheben ließ. Es fiel auf, dass er sich auf manches der Sachen stürzte, bevor ich überhaupt in deren Nähe kam. Geschickt versperrte er mir die Sicht auf das, was ihm so wichtig war. Als wir fertig waren, reichte er mir die Hand.

»Danke«, sagte er.

»Darf ich Sie noch auf etwas einladen?«, fragte ich und meinte es aufrichtig. »Auf etwas zu Essen oder auf einen Drink?«

»Ich brauche keine Almosen«, zischte es aus seinem Bart und schob den Einkaufswagen in Richtung Stadtzentrum.

»Warten Sie doch, Herr … Herr … Wie heißen Sie eigentlich?«


Sein Name war Randolph Carter, und er war wahnsinnig. Er war von seinem Gesundheitszustand so überzeugt, wie es gesunde Menschen von dem ihrem waren. Weiterhin schlug Carter aus, mit mir ein Straßencafé aufzusuchen. Er wolle seinen Wagen nicht aus den Augen lassen und müsse nach Hause. Des Weiteren habe er wahrhaftig kein Interesse daran, von mir eingeladen zu werden. Als ich ihm daraufhin fragte, ob ich ihn begleiten dürfe, willigte er ein.

Es war eine lange Wegstrecke, die wir gemeinsam zurücklegten, ohne dass ich wusste oder überhaupt erahnte, was oder wo Carters Ziel sein würde. Als ich ihn danach fragte, kam unser Gespräch in Gang. Er behauptete, sein gesamtes Leben lang auf der Suche nach einer Stadt gewesen zu sein.

Eigenen Aussagen zufolge führte ihn diese vermeintliche Suche in eine Art Unterwelt, die mich, seinen Beschreibungen nach, an das altgriechische Totenreich Hades erinnerte. Als ich Carter darauf ansprach, offenbarte dieser mir seine arkadische Vision der Hölle, während wir bei strahlendem Sonnenschein den Stadtpark von Kingsport durchquerten.

Als nüchterner Zuhörer entging mir nicht, dass es sich um nichts weiter als eine Traumwelt handelte. In diesem Wahn flüchtete sich der hoffnungslose Carter vermutlich seit etlichen Zeiten. Gerne würde er dorthin zurückkehren, sagte er, doch habe er seinen Silberschlüssel verloren.

Dabei waren die Traumlande, die er als sein imaginäres Reiseziel bezeichnete, nichts weiter als eine Fantasiewelt. Seiner Meinung nach erreicht man sie nur, wenn man schläft oder träumt. Vorausgesetzt man träume richtig, wusste er. Nicht jeder Träumer sei dazu in der Lage, dorthin zu gelangen.

Immer wieder erwähnte Carter das Tor des Schlummers. Es war nur über einen Abstieg von siebenhundert Stufen zu erreichen.

»Es gibt auch physische Wege, die Traumlande zu besuchen«, sagte Carter. »Man muss sich nicht in die Arme des Schlafes begeben. Allerdings ...« Er hielt inne und sein Blick glitt in unbestimmte Ferne, bevor er fortfuhr: »Hierfür benötigt man besagten Silberschlüssel. Da mir dieser fehlt ist eine Rückkehr ins Reich der Träume für mich unmöglich.«

»Wieso suchen Sie nicht einfach den Schlaf des Gerechten?«, fragte ich ihn.

»Weil ich dann meinen Körper nicht mitnehmen kann«, lautete die lakonische Antwort.

Keine Frage, Carter war von seinem eigenen, trunkenen Geschwafel so überzeugt, wie ein gottesfürchtiger Fanatiker von seiner Religion.

Die Traumlande an sich sei eine Dimension, die der Erde gar nicht so unähnlich sei, wusste Carter zu berichten. Es gäbe Städte, Meere, Gebirge, Dörfer und verschiedenste Menschenvölker. Zudem lebten dort viele Katzen, deren Sprache man lernen könne, was für jeden nur von Vorteil sei. Seltsame Bestien bevölkerten indes den Mond. Zu diesem könne man mit einem Schiff segeln, wusste Carter, lenkte aber ein, dass dem nur möglich sei, würde man den Weg kennen. Es gab leichenfressende Ghoule, die unter der Erde lebten, sowie in einer kalten Einöde, die zum unbekannten Kadath führt: Ein Berg, auf dem die Erdengötter lebten.

Bei derart absurden Beschreibungen schüttelten die Leute nur die Köpfe. Die Überzeugung, Carter würde spinnen, war omnipräsent, sobald man mit ihm ins Gespräch kam. Vermutlich hatten die Leute mit ihren Vorurteilen sogar recht.

Bei mir hingegen war es anders; die Faszination seiner Erzählungen und Reisebeschreibungen, die er mir während unseres mehrstündigen Gewaltmarsches durch die Stadt anvertraute, nahm von meiner gesamten Existenz besitz. Bald schon war ich davon überzeugt, dass - wie so oft, bei derartigen Spinnereien - mehr dahintersteckte, als man gemeinhin glauben mochte. Zumal ich mich auf die Erforschung der phantastischen Literatur eines Autors spezialisiert hatte, dessen Stoff Carters Erzählungen ungemein ähnelten.

Dabei wirkte Carter nicht sonderlich belesen. Vielmehr gab er das Erscheinungsbild eines Obdachlosen. Er wirkte heruntergekommen und der Einkaufswagen, den er vor sich herschob und in dem er sein gesamtes Hab und Gut transportierte, trug nicht gerade zur Verbesserung dieses Eindrucks bei.

Doch Randolph Carter lebte in einer Wohnung. Er verfügte über ein festes Einkommen und war auch ansonsten an und für sich ein feiner Geselle. Ein alter Kauz war er, der gerne mal etwas trank und ab dem dritten Glas zu nuscheln anfing.

Irgendwann setzte die Dämmerung ein und Carter hatte seinen Spaziergang vor einem Plattenbaukomplex in den Randbezirken von Kingsport beendet. Ich fragte ihn, weshalb er seine so geliebten Traumlande überhaupt je verlassen habe.

»Ich kann es Ihnen erzählen«, sagte er. »Aber dazu müssen Sie noch mehr Zeit mitbringen, als Sie mir bereits jetzt geopfert haben.«

»Ich habe Zeit«, sagte ich.

»Dann kommen Sie und packen Sie schon mal mit an.«

Wir nahmen den Einkaufswagen und trugen ihn die Treppen hinauf, so wie Eltern es mit ihren Kinderwagen taten.

»Wohnen Sie hier?«, fragte ich.

»Vorübergehend«, antwortete er. »Eigentlich komme ich aus Boston.«

Carter kramte in seiner Jackentasche nach dem Türschlüssel. Ich beobachtete ihn dabei, um mich davon zu überzeugen, ob es sich bei dem Schlüssel nicht um ein silbernes Exemplar handelte.


Es war kein Silberschlüssel und wir gingen auch nicht durch die Tore des Silberschlüssels. Stattdessen betraten wir ein heruntergekommenes Treppenhaus, in dem sich auch ein Aufzug befand. Carter schob seinen Wagen hinein und wir beide quetschten uns in den nunmehr vollen Fahrstuhl.

»Es ist nicht groß und ohnehin nicht das, was Sie erwarten«, sagte er.

Ich entgegnete nichts, betrachtete mir nur die seltsame Gestalt, die ich den halben Tag quer durch Kingsport begleitet hatte, um ihr Geheimnis zu ergründen.

Doch war es das wirklich gewesen? Was war es, dass mich an Carters Erscheinung so gefangen nahm? War es der Wahnsinn in seinen Augen? Die Unlogik der Dinge, von denen er mit Überzeugung berichtete? Die scheinbare Singularität zu Lovecrafts Schriften? Oder war es mein eigener Irrsinn, dem ich schon lange erlegen war, ohne es bemerkt zu haben?

Wer war ich schon?

»Wer sind Sie eigentlich?«, fragte Carter, als der Aufzug uns in ein verdrecktes, stinkiges Stockwerk entließ. Vom Treppenhaus aus gelangte man auf einen Gang, über den man insgesamt vier Wohnungen erreichen konnte.

Der Traumsucher schob seinen Einkaufswagen zur hintersten der vier Wohnungstüren, sperrte auf und verschwand im Inneren seiner Behausung.

Ich folgte ihm und ließ alle Hoffnungen fahren, als die Tür sich mit einem leichten Seufzen hinter mir schloss. Das Zentrum seines schwarz gestrichenen Appartements bildete ein götzengleicher Schreibtisch. Auf diesem befand sich neben einer alten Schreibmaschine ein Blätterbaum aus verschiedensten Manuskripten. Oder war es ein einziges Manuskript?

»Sie schreiben?«, fragte ich.

»Ja, doch finde ich die richtigen Worte nicht«, sagte er. Carter beschäftigte sich irgendwo hinter meinem Rücken in einem Nebenraum mit dem Inhalt seines Einkaufswagens.

Mein Blick schweifte weiter durch den Raum, der außer dem Schreibtisch und seinem Stuhl kein Möbelstück beherbergen wollte. Bücher stapelten sich in unterschiedlicher Höhe zu Türmen, die mit ihrem Einsturz drohten. Sicherlich waren sie nach einem bestimmten System geordnet, doch war es mir nicht möglich, dieses zu bestimmen, genauso wie ich kaum die Titel in Augenschein nehmen konnte, da es schlichtweg zu dunkel dafür war.

Selbst wenn draußen noch die Sonne geschienen hätte, so wäre sie nur schwerlich durch die schwarzen Vorhänge durchgedrungen. Und hätte ich dann noch den Mut gehabt, diese aufzuziehen, so würde die schwarze Wandfarbe das eintretende Licht schlicht und ergreifend verschlucken.

Eine einsame Kerze erhellte das Chaos auf dem Schreibtisch und sorgte dafür, dass mir das restliche Inventar des Zimmers nicht verborgen blieb.

»Haben Sie etwas gegen Licht?«

»Im Gegenteil«, drang Carters Stimme aus dem Hintergrund zu mir. »Licht ist wichtig und schön. Nur versuche ich, den Fokus auf eine Sache zu lenken. Ich möchte Ablenkung vermeiden. Daher die einsame Kerze.«

»Wo sind sie?« Ich drehte mich im Kreis und suchte meinen Gastgeber, konnte ihn aber nirgendwo im Dunkeln des Zimmers ausmachen.

»Hier«, sagte er.

»Wo?«

»Wollen Sie etwas trinken?«

»Gerne«, antwortete ich in die Schwärze hinein.

»Was halten Sie von Martini?«, schoss Carters Stimme von hinten an mich heran. »Während ich die Gläser fülle, können Sie ja mal zur Abwechslung etwas von sich erzählen.«

»Na schön«, sagte ich und fügte mich endgültig meinem Schicksal. »Ich möchte mich Ihnen kurz vorstellen, wobei mein Name nichts zur Sache trägt. Gerne würde ich anonym bleiben.«

»Anonym? Weshalb?«

»Das tut nichts zur Sache. Nennen Sie mich einfach K.«

»Kaa?«

»Wie der Konsonant«, bestätigte ich. »Ich bin das, was man einen Literaturkritiker nennen könnte. Jedoch trifft es das nicht im geringsten. Ich selbst halte mich für einen Forscher. Mit Literaturkritik fing es lediglich an. Meine Forschungen haben ein zentrales Thema, wovon ein wichtiger Bestandteil die Entschlüsselung des lovecraftschen Codes ist. Ich bin überzeugt davon, dass seine Schriften eine geheime Botschaft vermitteln, und dies bringt mich unter anderem zu der Überzeugung von der Existenz gewisser Wesen oder parallelen Universen. Aus diesem Grund binich mir sicher, dass es sich bei Ihren Erzählungen über die Traumlande entweder um eine Lüge handeln muss, oder aber um die Bestätigung, dass Lovecrafts Fantastereien keine waren, sondern authentische Berichte einer sensiblen Seele. Ist Ihnen Lovecraft bekannt, Carter?«

»Ich kenne keinen Loveshaft oder wie Ihr Freund heißt«, schallte seine Stimme durch das Dunkel.

»Wissen Sie«, fuhr ich fort, »in einigen seiner Geschichten gibt es einen Protagonisten, der denselben Namen trägt, wie Sie. Glauben Sie an Zufälle?«

»Ich glaube an Traumbilder und deren Verkörperung in unserem Selbst. Die Niedertracht der Seele, wenn Sie so wollen. Ich glaube daran, dass die Welt vor die Hunde geht, weil wir es verlernt haben, zu träumen.«

»Ist es das, was Sie erforschen, Carter?«

Mein Gastgeber erschien unversehens neben mir und reichte mir ein vorbildlich gemixtes Glas Martini. Nachdem er sich mit seinem Glas und der Flasche mir gegenübergesetzt hatte, sagte er: »Ich erforsche das Konzept von Wissen und Macht, den magischen Strom, der - überwacht vom menschlichen Geist - jeden ihn umgebenden Partikel kontrolliert. Wie bei einem alchemistischen Labor, in dem die Substanzen fließen, sich trennen und in zehn Inkarnationen wiederkehren. Was auch immer geschieht, K., am Ende steht immer das Gold.«

»Sind Sie Alchemist?«

»Ich bin Träumer und Realist zugleich«, sagte er.

»Demnach ein Fantast?«

»Das könnte man meinen, ja. Meine Träume sind relativ zu sehen«, antwortete Carter.

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Relativ eben, wie Einsteins Theorie.«

»Was bitteschön mag die Relativitätstheorie mit Ihren Träumen zu tun haben?« Die Frage war ernst gemeint. Carter seufzte.

»Was heißt denn relativ?«, begann er. »Relativ gesehen zu Ihren Träumen mögen die meinigen regelrecht kosmisch anmuten. Meine Träume sind tiefer, als das dämmernde Etwas, das man Schlaf getauft hat. Ist das ein Vergleich, der Ihnen gelegen kommt, K.?«

Ich war mir nicht sicher, weswegen ich es vorzog, nichts zu sagen.

»Die Relativität ist ein Problem. Letztlich bezieht sich die Relativität immer auf irgendetwas - nur in unserem Fall ist der Traum relativ zum Erlebtem. Das macht die Sache kompliziert und führt letztlich zu der Erkenntnis, dass Einstein wohl oder übel doch nicht recht gehabt hat.«

Ich verstand kein Wort, willigte jedoch in Carters Ausführungen ein. »Da mögen Sie recht haben«, sagte ich und ärgerte mich zugleich über meine allumfassende Unkenntnis solcher Dinge betreffend.

»Es ist wie die Sache mit der Krähe«, fuhr er unbeeindruckt und mit monotoner Stimmlage fort. »Einerseits ist sie Symbol für Weisheit und Prophezeiungen. Ebenso symbolisieren sie jedoch das Böse, da Krähen bekannt dafür sind, Aas zu fressen. Sie warten auf den Tod des Gehenkten, um dann Fleischstücke aus dem Körper zu picken. Eine trostlose Vorstellung. Finden Sie nicht?«

Wortlos nippte ich von meinem Martini.

»Die Wahrheit aber ist«, führte Carter weiter aus, »dass ich gar nicht gerne von Träumen spreche. In Wirklichkeit ist es nämlich so, dass ich gar nicht träume.«

»Aber soeben sagten Sie doch … «

»Ganz recht«, unterbrach er mich. »Und natürlich treffen Sie mit Ihrem Einwand voll ins Schwarze. Aber bedenken Sie: Wenn ich einschlafe, träume ich mich in eine andere Welt. Diese ist real. Insofern kann von einem Traum nicht mehr die Rede sein.«


Auf diese Art und Weise füllten Carters Worte meinen Abend, der sich ansonsten wohl bedeutend langweiliger gestaltet hätte. Die philosophische Exegese des Traumreisenden zog mich in seinen Bann, dem ich mich alsbald nicht mehr entziehen konnte. Deutlicher Höhepunkt des Abends war das Fundstück, das er aus dem ihm nunmehr wohlbekannten Kadath mitgebracht hatte.

Zunächst erwähnte er es eher beiläufig, als er sich darüber erging, die Ebenen, die dem unbekannten Kadath vorausliegen, zu beschreiben.

»Ich stand also in dieser Einöde«, sagte er, »und sah in weiter Ferne jenen gewaltigen Koloss von Berg, der mich magisch zu sich rief. Immer näher eilte ich zu ihm, doch er schien unentwegt gleich weit entfernt zu sein. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Anhöhe stolperte und zu Boden fiel. Als ich nachforschte, was mich zu Fall gebracht hatte, entdeckte ich einen schwarzen Stein, den ich mitnahm. Ich rappelte mich wieder auf und lief weiter, dem unbekannten Kadath entgegen.«

»Ist dieser Stein noch in Ihrem Besitz?«, fragte ich.

Carter musterte mich sichtlich irritiert.

Lag es daran, dass ich mein Schweigen brach, oder hatte der alte Mann meine Gegenwart vergessen gehabt? Vielleicht ist er es gewohnt, sich selbst allabendlich dieselbe Geschichte zu erzählen und nun verstimmt ihn die Gegenwart eines physischen Zuhörers.

Forsch blickte er mich an.

»Sagte ich denn nicht, dass ich ihn mitnahm?«

Ich hatte kaum Gelegenheit zu antworten, da fuhr er mich an: »Selbstverständlich ist der Stein noch in meinem Besitz. Was denken Sie denn? Es ist mit das Wertvollste, das ich habe.«

»Möchten Sie ihn mir zeigen?«

Carters Augen wurden groß, so als wollten sie herausfallen. Wenn ich auch nicht viel sah, ob des schalen Kerzenlichtes, so reflektierte das Weiß in Carters Augen eben dieses auf nahezu erhellende Art.

Seufzend sagte er: »Ich bin mir nicht sicher. Was sollte es bringen, Ihnen den Stein zu zeigen?«

»Ich weiß nicht«, entgegnete ich salopp. »Wirklich. Es war nur so ein Gedanke. Vielleicht hege ich die Hoffnung, auch einmal etwas aus dem Land der Träume erblicken zu können. Selbst werde ich doch nie dorthin gelangen.«

Carter nickte und dachte wohl über mein Ersuchen nach. Seine Stirn hatte sich in grüblerische Runzeln verformt.

Schwermütig trank er von seinem Martiniglas, leerte es und schenkte uns beiden nach.

»Also gut«, willigte er ein. »Ich zeige es Ihnen. Aber bedenken Sie, Fremder. Berühren Sie den Stein nicht. Ganz gleich, wie reizvoll Ihnen der Gedanke vorkommt. Fassen Sie ihn nicht an!«

»Damit habe ich kein Problem«, sagte ich. »Allerdings würde ich gerne über die Gründe Bescheidwissen.«

»Diese sind ganz einfach«, antwortete Carter. »Ich kann keine Garantie darüber erheben, was eine Berührung in Ihnen auslösen wird.«

»Was soll denn schon ausgelöst werden durch die alberne Berührung eines harmlosen Steines?«

»Harmlos?« Er lachte.

Ein bellendes, exzentrisches Lachen.

Als er sich wieder unter Kontrolle hatte, erhob er sich wankend von seinem Stuhl und schlappte an mir vorüber.

»Dauert ’nen Augenblick«, hörte ich ihn murmeln, während er sich aus dem Raum entfernte und dorthin ging, wo er seinen Einkaufswagen aufbewahrte.

Wie aus weiter Ferne hörte ich es von dort rumpeln.

Einmal mehr blickte ich mich währenddessen in dem Raum um.

Der Schreibtisch vor mir, mit seinen unzähligen Manuskriptseiten, der Schreibmaschine, den Martini-Gläsern und der entsprechenden Flasche war jedoch das Einzige, was mir der Schein der Kerze preisgab.

Carter war noch immer im Hintergrund mit der Bergung seines wertvollsten Schatzes beschäftigt. Gleichzeitig konnte ich der Versuchung nicht widerstehen.

Vorsichtig erhob ich mich und nahm das oberste Blatt Papier von dem gut dreißig Zentimeter hohen Konvolut.

Was ich las, lies mir das Blut in den Adern gefrieren:


DASISTNICHTTOTWASEWIGLIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

ISTDASNICHTTOTWASEWIGLIEGT

DASISTNICHTTOTWASEWIGLIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

ISTDASNICHTTOTWASEWIGLIEGT

DASISTNICHTTOTWASEWIGLIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

BISDASDIEZEITDENTODBESIEGT

ISTDASNICHTTOTWASEWIGLIEGT

Fassungslos hob ich die nächste Manuskriptseite auf. Es war derselbe Inhalt. Ich nahm einen ganzen Stapel und besah mir das nächste aufgedeckte Blatt, das ich zu fassen bekam, nur um festzustellen, dass sie allesamt denselben Inhalt hatten. Nichts als dieses kryptische Zitat, aus dem kein Mensch schlau wurde. Zumindest ich nicht. Nicht hier. Nicht in dieser Situation. Nicht in Carters Welt.

Plötzlich polterte es.

Carter kam zurück.

Rasch sorgte ich dafür, dass die einzelnen Seiten sich wieder an der gewohnten Stelle zu oberst auf dem Manuskriptstapel befanden, setzte mich zurück und trank von meinem Martini. Schweiß stand mir auf der Stirn, wie ich bemerkte.

»So, mein Freund. Hier ist das gute Stück«, sagte Carter und legte auf den Schreibtisch einen schwarzfarbenen Klumpen, von der Größe eines menschlichen Schädels.

Nur war das schwarze Ding weitaus unförmiger, hatte hier Ausbuchtungen und wies dort Einkerbungen auf. Beulen und seltsame Wölbungen waren asymmetrisch über den grob an eine ovale Form erinnernden Stein verteilt. Instinktiv beugte ich mich vor, um das Ding zu berühren, doch Carter gebot mir rechtzeitig Einhalt.

»Sehen Sie her!«, brüllte er mich an. »Selbst ich trage Handschuhe zu meiner eigenen Sicherheit. Aber nicht einmal mit diesen Dingern sollten Sie es wagen, den Stein zu berühren.«

Er streifte sich die weißen Handschuhe ab und warf sie mir in den Schoß.

»Weshalb?«, wollte ich wissen.

»Ich war bereits dort. Sie nicht. Deshalb; und Ende der Diskussion.«

Nickend gab ich zu verstehen, dass ich seine unmissverständliche Ansage akzeptieren würde. Dennoch fragte ich: »Was denken Sie denn, was passieren könnte?«

Carter zuckte mit den Schultern.

»Ich bin davon überzeugt, dass es etwas mit Ihren Träumen machen würde. Ich rate Ihnen daher davon ab, den Stein zu berühren. Wenn Sie sich meiner Anweisung wiedersetzen wollen, bitte.« Er deutete mit geöffneten Handflächen auf das schwarze Objekt. »Tun Sie sich keinen Zwang an, aber ich will verdammt sein, wenn ich Sie nicht gewarnt hätte. Also hüten Sie Ihre Finger!«

»Verstanden«, sagte ich, um seinen Wutausbruch ein wenig abzumildern, und Carter grunzte zufrieden.

Schweigend betrachteten wir den finsteren Brocken vor uns.

Vergeblich versuchte ich, etwas in seiner unförmigen Struktur auszumachen. Gleichzeitig zog mich das Gebilde unweigerlich in seinen Bann. Da war etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Etwas, das ich nicht verstand. Etwas Lebendiges?

Mochte es sein, dass der Stein lebte?

Beherbergte er gar ein lebendiges Ding in seinem Inneren?

Da!

Hatte er nicht soeben leicht pulsiert?

Diese wie mit Pulver beschichtete Erhebung an der rechten Seite. Sie schien mir fast organisch zu sein.

»Der Stein ist massiv«, sagte Carter plötzlich, als ob er meine Gedanken hätte lesen können. »Massiv und gefährlich.«

»Und Sie haben ihn einfach so mitgenommen?«, fragte ich leicht fassungslos.

»Ich habe ihn eingepackt, nachdem ich über ihn gestolpert bin«, sagte Carter. »Beinahe wäre er mir weggerollt. Ich befand mich auf einer steilen Erhebung. Mit beiden Händen umklammerte ich das Ding und … erwachte.«

»Sie wollen mir sagen, Sie haben das Ding im Traum eingesteckt und sind hier in Ihrem Bett aufgewacht und es war bei Ihnen?«

»Das klingt unvorstellbar, ich weiß«, sagte Carter. »Aber ich schwöre, dass dem so gewesen ist. Ein Freund von mir hat Ähnliches durchlebt. Warten Sie. Ich suche seinen letzten Brief heraus. Er hat das Geschehnis darin sehr eindringlich beschrieben.«

Wieder erhob sich Randolph Carter und steuerte ein mir unbekanntes Ziel in seiner Wohnung an. Während Carter irgendwo im Hintergrund nach etwas kramte, tat ich es: Ich berührte den Stein.

Einfach so. Nur ganz kurz.

Mit der Fingerspitze meines rechten Zeigefingers. Er fühlte sich völlig normal an. So, wie sich ein Stein eben anfühlt. Und es geschah … Nichts. Rein gar nichts. Carter kam zurück, und hielt einen handgeschriebenen Brief in Händen, aus dem er mir die nächste Viertelstunde vorlas. Und auch während dessen geschah nichts. Ich war mir mit einem Mal sicher, einem Betrüger auf den Leim gegangen zu sein. Ein offenkundig verrückter Kerl, der die Fähigkeit besaß, einen naiven Idioten wie mich aufs authentischste mit seinen Geschichten zu überzeugen. Auch wenn ich keinen Sinn darin entdecken konnte, so führte ich mir vor Augen, dass jeglicher Wahnsinn keines Motives bedarf. So gab ich mich Carters Erzählungen hin und genoss den Martini, der trocken meinen Gaumen umschmeichelte.


Als ich Carters schwarzgetünchte Wohnung zu mitternächtlicher Stunde verließ, war es außen mindestens ebenso dunkel. Die Straßenlaternen waren nicht heller als die einsame Kerze, die auf Carters Schreibtisch geflackert hatte.

Ich lief durch die Straßen Kingsports und dachte über die Begegnung nach. Carter schien mir ein verstörter Mann zu sein. Ein harmloser Soziopath, der sich selbst in eine traumgleiche Parallelwelt hineinträumte. Kadath.

So ein Schwachsinn!

Ich umrundete die altgotische Kirche, die sich schwarz vom Mondlicht abhob, als ich der Schatten gewahr wurde.

Schwarze Schatten in einer ebenso schwarzen Welt.

Zunächst hielt ich es nur für farblose Fantasiegespinste, die vermutlich durch Carters Fabulierkunst gepaart mit dem Genuss des Alkohols in mir aufstiegen. Und ebenso wie die Fantasie mir mit den sich bewegenden Schatten Streiche spielte, hatte ich mich mit dem Mann, der sich Randolph Carter nannte, in etwas verrannt. Andererseits passten die Rahmenbedingungen nahezu perfekt. Sein Name, seine Erzählungen, Kadath … all die wundersamen Parallelen zu Lovecrafts Schriften, deren Entschlüsselung ich mir zur Aufgabe gemacht hatte.

Dabei war es ohnehin ein Wunder, dass ich Kingsport gefunden hatte. Nahm man doch gemeinhin an, es handele sich um eine Erfindung des schreibenden Einsiedlers aus Providence. War es Einbildung oder krochen die Schatten näher? Ich lief ein wenig schneller und stellte unter einer verbogen wirkenden Straßenlaterne fest, dass sie ihr milchig trübes Licht über schwarze Pflastersteine ergoss. Ich meinte, dasselbe Schwarz zu erkennen, wie jener geheimnisvolle Stein, von dem Carter behauptete, ihn aus Kadath mitgebracht zu haben.

Rasch eilte ich weiter.

Bei Tag wirkte Kingsport nicht anders als andere Küstenstädte. Es gab nichts Außergewöhnliches an diesem Ort. Nichts, was einen Reisenden hierher lotsen würde.

Und dennoch hatte es mich ausgerechnet nach Kingsport verschlagen. In dieser vorsintflutlich wirkenden Abgeschiedenheit, in der sich nur Fischer, Seeleute und ebenso faules Künstlerpack wohlfühlen können.

Kingsport war nicht so wie Arkham, dass mit seinen moosgrünen Walmdächern regelrecht modern auf mich wirkte. Kingsport war die altersgraue Niedertracht eines verödeten Ortes. Der stinkende Ozean klatschte hier schäumend gegen die Klippen. Dunstig stieg das salzige Wasser in dichten, dampfenden Wogen auf, zog sich die Kais entlang, waberte in das Gewirr aus eng verwinkelten Gassen hinein, bis der Nebel hinauf zu den Schornsteinen stieg, die sich über grotesk verlängerte Dachgiebel beugten.

Und obwohl wir in modernen Zeiten lebten, hatte man bei Nacht das Gefühl, einen Zeitsprung in die Vergangenheit verpasst zu haben. Denn plötzlich bemerkte ich vor mir die Heimeligkeit einer rußenden Ölfunzel, die ein altes Mütterchen wankend über die Straße trug. Ich blieb stehen und beobachtete die Frau, wie sie hustend in einem Hauseingang verschwand. Kurz darauf wurden hinter den Fenstern Kerzen entzündet. Gerne wäre ich eingetreten, in die wohlige Wärme ihrer karg eingerichteten Wohnung. Doch Derartiges gehörte sich nicht.

Also schleppte ich mich weiter, die Dunkelheit im Nacken und mich ächzend windend, da die Beine mich kaum noch tragen wollten. Der Abend war lang gewesen und ich entsprechend müde. Irgendwo musste mein Hotel sein, hoffte ich. Und dann waren da die finsteren Schatten, die sich an meine Fersen geheftet hatten. Schatten, die schmatzende Geräusche von sich gaben.

Ängstlich schielte ich in die abzweigenden Gassen, während ich an ihnen vorübereilte; immer in der Hoffnung, dass sich kein nächtliches Schauerwesen darin verbarg.

An einer Kreuzung blieb ich kurz stehen. Hektisch begutachtete ich alle vier abgehenden Straßenzüge. Doch das Licht der Straßenlampen war dunstig und trüb. Man konnte nicht weit genug sehen und so riskierte ich es weiterzulaufen. Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sich mein Hotel befand.

Dann plötzlich ein scharrendes Geräusch, das mir aus der Dunkelheit vor mir entgegenschlug. Meine Augen weiteten sich, konnten aber noch immer nichts ausmachen. Ein weiteres Geräusch, dicht hinter mir. Ganz nah schon.

Ich wirbelte herum und floh in irgendeine Richtung. Ganz egal. Nur weg von den Dingen, die dort in der Nacht lauerten. Ich rannte über schwarzen Asphalt. Nur nicht stehen bleiben. Das Flattern und Schmatzen hinter mir wurde lauter. Ich konzentrierte mich auf meine Geschwindigkeit. Nicht aus dem Tempo kommen. Immer weiter. Nur fort.

Doch einen Ausgang aus Kingsport gab es nicht. Nicht bei Nacht. Die Stadt unterteilte sich in sieben Stadtteile, wobei eines labyrinthischer erschien als das andere. Und ich hatte ohnehin keine Ahnung, wo genau ich mich derzeit befand.

Irgendwann bog ich rechts ab und erreichte einen stinkenden Hinterhof. Dabei wollte ich Sackgassen tunlichst vermeiden. Mein Blick eilte gehetzt über die brüchigen Gebäudefassaden und blieb an einem schwarzbraunen Schuppen hängen.

Mit letzter Kraft rannte ich dort hinüber, zog das quietschende Holztor auf. Ich spürte, wie sich ein Spreißel tief in einen meiner Finger schob, ignorierte aber den Schmerz. Rasch, die Türe zugezogen.

Dunkel. Schwarz. Undurchdringlich.

Ich kauerte mich in eine Ecke, ein Astloch ermöglichte mir die Sicht nach draußen. Nur nicht zu laut keuchen, ermahnte ich mich. Bloß keinen Lärm.

Schon sah ich, wie meine Verfolger den Hinterhof erreichten. Die Geschöpfe der Nacht mit ihren feucht schmatzenden Tretern, die glänzende Schlieren auf dem schwarzen Asphalt hinterließen. Augenlose Fühler durchsuchten den Hinterhof, tasteten sich mit schleimigen Schnauzen an Mauervorsprüngen entlang und wanden sich über Pflastersteine.

Ich hielt die Luft an. Lauschte der gottlosen Geräuschkulisse jener namenlosen Kreaturen dort draußen.

Bildete ich mir das nur ein? Oder waren jene wimmelnden und sich übereinander windenden Scheußlichkeiten realer Bestandteil dieser Welt?

Ich versuchte mich an den Kirchturm zu erinnern, an den ich vor gut einer halben Stunde vorbeigeschritten war. Dort, wo ich das erste Mal festgestellt hatte, dass ich verfolgt wurde. Hatte ich auf das Ziffernblatt gesehen? Wenn ja, wie viel Uhr war es gewesen? Wie lange würde es noch dauern, bis die Sonne aufgeht? Bis die Dinger dort draußen sich in die Schatten zurückzogen, oder wo auch immer sie herkommen mochten.

Plötzlich wurde das Guckloch, durch das ich mit einem Auge angestrengt nach draußen starrte, schwarz. Spielerisch neckte mich etwas an meinem Augenlid. Tastete sich leckend voran. Hauchfein und speichelsanft erforschte es mein Gesicht, während ich versuchte, davor zurückzuweichen.

Einem dünnen Etwas gelang der Einlass durch das Astloch und ertastete, was sich hinter dem Loch verbarg. Das nackte Grauen überkam mich ob dieser Erkenntnis und ich konnte nicht mehr an mich halten.

Lautstark schrie ich los. Angst und Entsetzen machten sich in einem wirren Kreischen Luft.

Irritiert erkannte ich unverzüglich meinen Fehler, als ich spürte, wie sich die Fühler in meine aufgerissene Mundhöhle schoben. In einem Anfall panischer Hysterie biss ich zu.

Saft spritzte, und glibberig rann etwas an meinen Mundwinkeln hinab. In mir selbst machte sich ein erstickend fahler Geschmack breit, den ich kaum zuordnen konnte. Ekel überkam mich, ich würgte und spuckte, bis auch noch mein Magen kapitulierte und ich mich in der Dunkelheit des Schuppens auf den Boden erbrach. Es roch nach Magensäure und Pestilenz. Irgendetwas klatschte in der Pfütze vor mir herum. Ich hatte eine Vision von zappelnden Fischen. Hastig wandte ich mich ab und kroch in entgegengesetzter Richtung durch die Hütte. Mehrmals stieß ich mit dem Kopf gegen Inventar und musste die Richtung ändern. Orientieren konnte ich mich in der absoluten Dunkelheit überhaupt nicht. Das Einzige, was meine Fluchtrichtung bestimmte, waren die zappelnden, knackenden und saugend-schmatzenden Geräusche, die sich irgendwo hinter mir im Schuppen ausbreiteten. Wieder rempelte ich gegen irgendetwas in der Dunkelheit. Es schepperte und etwas stürzte um. Laut krachend entkam ich nur knapp dem Tod durch Erschlagen. Doch ein solcher wäre besser gewesen, als dem wuselnden Grauen ausgeliefert zu sein, dass sich den Geräuschen nach zu urteilen zunehmend im Inneren des Schuppens ausbreitete. Weiter krabbelte ich, auf allen vieren durch das Dunkel, bis mich etwas packte und ich fortgerissen wurde. Irgendetwas oder -jemand zog mich über den feuchten Dielenbretterboden. Die Geschwindigkeit nahm spürbar zu. Nur sehen konnte ich nichts. Dann tat sich etwas auf und Licht flutete mir entgegen, umgab mich und doch sah ich nichts, da es viel zu hell war für meine, nunmehr an das Dunkel gewohnten Augen. Mit einem letzten Lidflackern blickte ich zurück in den Schuppen, in dem ich mich befunden hatte, und erkannte, vor was ich davon gekrochen war. Mit der Erkenntnis traf mich die Ohnmacht wie ein kalter Schlag, der mir die Besinnung raubte.


Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in meinem Hotelzimmer. Jemand musste mich noch in der Nacht hierher gebracht, mich entkleidet und ins Bett gelegt haben. Nur wer? Carter? Ich wusste es nicht, und dass es der Alte war, der mich gerettet hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Ich fühlte mich leicht benommen und betastete meine Wunden. Viele gab es zu meiner Überraschung nicht. Der Spreißel in meinem Zeigefinger steckte noch immer fest in meinem Fleisch. Hinzu kamen einige blaue Flecke und eine schmerzende Beule am Hinterkopf. Als ich wenig später mit einer Pinzette beschäftigt war, den Spreißel zu ziehen, fiel mir ein, dass dieser an genau derselben Stelle steckte, wo ich jenen Stein aus Kadath berührt hatte.

War es diese Berührung gewesen, die die schrecklichen Begebenheiten der vergangenen Nacht heraufbeschworen hatte?

Vom Zimmerservice ließ ich mir warme Suppe und Tee bringen und verbrachte die übrige Zeit des Tages auf dem Zimmer, um über die Rätsel der vergangenen Ereignisse nachzugrübeln. Nachts ließ ich die Lichter brennen und träumte einen traumlosen Schlaf, wie ich meinte.

Am nächsten Tag suchte ich Carters Wohnung auf, in der Absicht, ihn zur Rede zu stellen. Doch er war nicht da. Dabei war ich mir sicher, dass mir der alte Mann etwas in den Martini gemixt hatte. Anders konnte ich mir die schrecklichen Halluzinationen nicht erklären.

Und mein anonymer Retter? Auch ihn fand ich nicht. Weder erhielt ich einen Hinweis, noch fand ich den Hinterhof mit seinem Schuppen wieder, um vor Ort auf Spurensuche zu gehen. Was war also dran, an Carters Geschichte über Kadath, an dem Stein, den ich berührt hatte, an der Synchronizität zu Lovecrafts Schriften, deren Erforschung mich ja erst hierher, an diesen grauenvollen Ort geführt hatte? Kingsport wirkte bei Tageslicht unverändert. Es war ein Ort, wie jeder andere.

Nur was die Pflastersteine anging, war ich mir nicht sicher. Sie waren schwarz. Mir drängte sich die Erkenntnis auf, dass die schwarzen Pflastersteine aus demselben Material sein könnten, wie der Stein, den Carter mir zeigte. Und damit einhergehend plagte ich mich mit weiteren Überlegungen. Etwa der, dass es in Kingsport gar keinen Weg in die Traumlande gab. Jedoch musste Carter einen Weg gefunden haben, die Welt der Träume nach Kingsport zu holen. Kingsport verwandelt sich.

Kingsport ist Kadath!

Als ich meine Koffer packte, die offenen Rechnungen beglich und Kingsport verlassen wollte, stieß ich auf eine Reihe bedrohlicher Hindernisse. Ich hatte Kingsport mit dem Zug erreicht, doch die Geleise seien aufgrund einer eingestürzten Brücke nicht befahrbar, weswegen bis auf weiteres der Zugverkehr entfallen würde, wie man mir mitteilte.

Kein Taxifahrer erklärte sich bereit, mich aus der Stadt herauszubringen. Ein Fußmarsch über die Stadtgrenzen wurde vereitelt, da ich diese nicht finden konnte. Es schien, als liefe ich unentwegt im Kreis herum. Ständig verirrte ich mich in den trostlosen Gassen der Randbezirke Kingsports. Oder Kadaths. Ich glaube immer mehr daran, dass es sich so verhält, wie ich es bereits gemutmaßt habe.

Als ich einen kleinen Jungen traf und ihn fragte, wie ich hier aus der Stadt herauskommen würde, sagte mir dieser ins Gesicht: »Gar nicht. Es gibt keinen Ausgang. Man ist hier gefangen. Für immer.«

»Ach ja?«, sagte ich, als seine Mutter aus dem Haus gerannt kam und rief: »Hören Sie nicht auf den Bengel. Er redet nur Blödsinn.«

Sie gab ihrem Jungen eine Ohrfeige und dieser machte sich mit seinem Fußball von dannen.

»Vielleicht könnten Sie mir verraten, wie ich aus Kingsport herausfinde.«

»Versuchen Sie es über den Seeweg«, sagte sie und verschwand wieder im Haus.

Ich beherzigte ihren Ratschlag und begab mich zum Hafen. Doch betrübt musste ich feststellen, dass es keinen Fährverkehr gab. Ich lief am Kai entlang, um die Fischer und Seeleute zu befragen, doch keiner schien bereit, mich für ein noch so stattliches Entgelt mit seinem Boot zu transportieren. Als die Dämmerung einsetzte, kehrte ich entmutigt zu meinem Hotel zurück. Aber auch hier hatte ich keinen Erfolg. Das Zimmer, das ich heute Morgen geräumt hatte, sei anderweitig vergeben worden. Ein freies Zimmer gäbe es momentan nicht. Und es sei das einzige Hotel der Stadt. Ich war fassungslos. Man hielt mich in der Stadt gefangen und verwehrte mir nun auch noch jegliche Form einer sicheren Zuflucht. Wo sollte ich hin, wenn die Nacht hereinbricht, und die grässlichen und abscheulichen Dinge kommen, die dort in den Schatten lauern und schmatzen und kichern und stöhnen und näherkommen … kriechend näherkommen, um mich zu betasten, zu umschlingen, zu packen und …


Schließlich wird mir klar: Es gibt keinen Silberschlüssel, mit dem man den Ort des Grauens verlassen könnte. Keinen Physischen zumindest. Stattdessen glaube ich an die Theorie, dass Carter selbst der Schlüssel ist, der einem die Türen in die Traumlande öffnet. Seit jener Nacht suche ich ihn, denn ich beabsichtige keineswegs, fortan hierzubleiben. Im Gegenteil. Ich möchte fliehen. Diesem Wahnsinn entrinnen, bevor er von mir Besitz ergreift.

Ich muss Carter finden.

Doch einen solchen gibt es nicht in der Stadt, wird mir gesagt, gleich, wen ich nach dem Verbleib Randolph Carters befrage. Einen Randolph Carter hat es in Kingsport angeblich nie gegeben.

Die Dunkelheit kommt.

Ich renne durch die Straßen und Gassen mit ihren schwarzen Pflastersteinen. Dichter Nebel wabert mir entgegen und ich verfluche ihn, da ich deswegen noch weniger im Dunkel ausmachen kann, als es ohnehin schon möglich ist.

Mein Gepäck habe ich bereits aufgegeben. Es liegt irgendwo am Straßenrand. Wenn es jemand findet, wird er sich an meinen Kleidungstücken nebst einigen Büchern erfreuen.

Während ich durch die Gassen Kingsports irre, hoffe ich unentwegt darauf, jenes Plattenbaugebäude mit Carters Wohnung darin zu erreichen.

In meiner Fantasie sehe ich mich, wie ich mit beiden Fäusten gegen Carters Wohnungstür hämmere. Die Tür wird aufgerissen und der alte Mann packt mich am Arm und zieht mich ins Innere seiner schwarzen aber sicheren Höhle. Dort hält er mir zunächst eine Standpauke: »Sehen Sie! Ich habe Sie doch gewarnt! Solche Dinge passieren eben, wenn man alle Warnungen in den Wind schlägt. Weshalb nur haben Sie den Stein berührt? Wieso?«

Die Wirklichkeit aber sieht anders aus: Nie erreiche ich Carters Wohnung. Genauso wenig, wie ich den Hinterhof erreiche, aus dem mich ein Unbekannter in letzter Sekunde errettete.

Stattdessen renne ich über den Stadtpark, wo ich vor wenigen Tagen neben Carter herlief, der seinen Einkaufswagen geschoben hatte. Ich befinde mich im relativen Zentrum des Parks, drehe mich im Kreis und beobachte, wie aus allen Richtungen die schwarzen Schatten auf mich zukriechen.

Keiner wird mich retten.

Es sei denn, das kriechende Chaos ist die Rettung.

Meine Erlösung.

Mit etwas Glück nimmt mich dieses Ding mit, in sein Onyxschloss, das sich hoch oben auf dem unbekannten Kadath befindet, irgendwo in einer kalten Einöde, fern dessen, was wir als Wachzustand und Realität bezeichnen.

Nyarlathothep wird mich erretten.

Leben Sie wohl, Carter. Leben Sie wohl.

Leben Sie …

Schauer der Vorwelt

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