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ОглавлениеDer Hausvermesser
(Das Arkham-Sanatorium, 2008)
War es Zufall? Vielleicht hatte ich es geträumt. War alles nur ein Traum, der stetig wiederkehrte? Ein böser und schlechter Traum, den mir der Alb, der während des Schlafes auf meiner Brust wachte, in den Kopf gepflanzt hatte?
Fest stand, wenn ich dies alles wirklich und wahrhaftig erlebt und es mit eigenen Augen gesehen hatte, mir dies wirklich widerfahren war, dann widerlegte es meinen Glauben an jeglichen Gott oder den Glauben an ein Jenseits, gleich welcher Art.
Eine bekannte Immobilienagentur beauftragte mich in einem Brief, ein Haus zu vermessen, das etwas weiter Abseits von Dunwich lag.
»Es ist ein sehr geräumiges und altes Anwesen«, hieß es darin, »schwer zugänglich in den Bergen gelegen, dessen Gesamtwohnfläche kaum geschätzt werden kann. Sie werden sicherlich einige Tage für diese Aufgabe benötigen, weswegen wir Sie dazu einladen, für die gesamte Dauer ihrer Arbeit auf Watheley-Castle bei freier Kost und Logis (neben Ihrem üblichen Honorar) zu wohnen.«
Es war absolut keine Frage, ob ich über dieses Angebot nachdenken musste und so nahm ich den Auftrag dankend an.
Die Fahrt dorthin erwies sich als beschwerlicher als von mir angenommen. Dunwich lag in Massachusetts, in den Vereinigten Staaten. Gleich nach Dean’s Corners, an der Kreuzung des Aylesbury Pike nahm ich eine Abzweigung und erreichte ein mir einsam erscheinendes Land. Die Straße stieg neben kaum bebauten Feldern immerwährend an und die Häuser machten auf mich einen alten, verwahrlosten Eindruck. Ich wagte es nicht, die wenigen, einfältigen Einheimischen zu fragen, ob ich auf dem richtigen Weg sei. Schließlich stieg die Straße noch weiter an, und über tiefen Wäldern konnte ich die Berge sehen, wobei sich in mir gleichzeitig ein Gefühl des Unbehagens breitmachte. Ich überquerte unsichere, morsche Holzbrücken und die Anzahl tiefer Schlaglöcher stieg kontinuierlich. Dann fiel der Weg wieder etwas ab, und ich fuhr lange Zeit, an mir unwirklich erscheinendem Marschland vorbei.
Aufgrund der schwülen Sommerhitze kurbelte ich mein Fenster runter und lauschte somit zwangsläufig dem unbeholfenen allabendlichen Schreien der Ziegenmelker, die sich meinem Sichtfeld entzogen, so als seien sie unsichtbar.
Dann war ich in Dunwich.
Ein beunruhigender Ort.
Die Häuser wirkten verlassen und gleichfalls verfallen, wie jene, die etwas außerhalb des Örtchens lagen. Ich erreichte einen alten, unsorgsam eingerichteten Kaufmannsladen, der mir nur deshalb auffiel, weil er von einer Kirche beherbergt wurde, deren Turm auf wundersame Weise geborsten war. Über alledem lastete ein Geruch von äonenalter Fäulnis und Pestilenz. Anders vermag ich diese Widerwärtigkeit gar nicht zu umschreiben.
Die Aufforderung, hierher zu reisen lag bereits eine Woche zurück und nun fand ich mich in einer Gaststätte ein, wo ich bei einem Glas Wein auf die Ankunft des Dieners wartete, der mich zu dem Anwesen geleiten würde. Der Erwartete erschien erst eine halbe Stunde nach der verabredeten Zeit, und so hatte ich bereits ein weiteres Glas bestellt, was ihn dazu bewog, sich zu mir zu setzen, ebenfalls etwas zu bestellen und ein paar Worte mit mir zu wechseln.
»Sie kommen also aus Arkham, ja?«, begann er das Gespräch, »und waren noch nie in dieser Gegend?«
Ich bedauerte, meinte aber scherzhaft, dass ich es ja nun doch geschafft hätte. Der Diener jedoch, Christopher war sein Name, schien gar nicht so erfreut darüber zu sein.
»Sehen Sie, in unserem Dorf geschehen viele eigenartige Dinge«, sagte er.
»Welcher Art?«, wollte ich wissen.
Er überlegte und es schien mir einen Wimpernschlag lang, als wolle er nicht so gerne darüber reden. Dann erzählte er: »Die Bewohner von Dunwich entstammen nur ein paar wenigen Familien. Niemand ist hier jemals zugereist, allerhöchstens weggezogen. Wer einmal hier lebt, kommt nur schwer fort, doch hierher zu finden ist gar nicht so leicht.«
»Nun, ich habe dieses Örtchen eigentlich sehr schnell gefunden. Immerhin ist es auf der Landkarte verzeichnet.«
»Ich habe es anders gemeint. Ach, Sie verstehen es ja doch nicht.«
Und so zog sich das Gespräch weiter hin. Christopher machte rätselhafte Andeutungen, erzählte dann aber doch nichts. Er war ein seltsamer Kauz, ähnlich den übrigen Bewohnern Dunwichs, von denen sich ebenfalls einige in der Gaststätte eingefunden hatten. Sie alle waren von grenzenloser Hässlichkeit, einem knorrigen Eindruck voll einsiedlerischer Verschrobenheit.
Schließlich hatten wir unsere Gläser ausgetrunken, der Diener beglich die Rechnung und wir machten uns daran, zu Fuß die nahen Berge zu begehen.
»Wir werden ein ganzes Stück laufen müssen«, prophezeite Christopher und half mir mit meinem Gepäck.
Ich wusste ja, dass es sich um unwegsames Gelände handelte, in dem sich das Anwesen befand. Aber wie die Immobilienagentur ein Gebäude zu vermitteln gedachte, dass so weit abgelegen war, wollte mir beim besten Willen nicht in den Sinn kommen.
Fast zwei Stunden waren wir unterwegs. Anfangs passierten wir Felder, die wie unfruchtbar dalagen. Später, als es anfing zu dämmern, steiles Waldgebiet, in dem ganze Wolken von Glühwürmchen aufstiegen. Am Ende kamen wir zu einem Anwesen, bei dessen Anblick mir sofort klar wurde, warum mich meine Auftraggeber dazu einluden, gleich mehrere Tage hier zu verbringen.
Es war riesig. Ein unbeschreiblich großer Bau, der schon diverse Anbauten und Erweiterungen über sich hatte ergehen lassen. Alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten, stellenweise sogar in verschiedenen Epochen erbaut.
Christopher zeigte mir mein Zimmer und wenig später lag ich müde und unbekümmert in einem bequemen Bett. Der Kamin war erloschen und als Lichtquelle diente mir eine alte Petroleumlampe, denn elektrischen Strom oder eine Heizanlage besaß das Anwesen noch nicht. Durch das, aufgrund der Sommerhitze weit geöffnete Fenster, vernahm ich von einem nahe gelegenen Teich den schrillen Gesang von Ochsenfröschen.
Am nächsten Tag machte ich mich, nach einem wohlschmeckenden Frühstück, an meine Arbeit. Ich begann, wie ich es gelernt hatte, in den obersten Stockwerken des Hauptgebäudes. Danach kamen die darunterliegenden Stockwerke und ihre Zimmer an die Reihe und erst, nachdem ich das gesamte Gebäude vermessen hatte, machte ich mich daran, Dachboden und Keller zu erforschen.
Diese Herangehensweise hatte ich mir im Laufe der Jahre, in denen ich den Beruf eines Haus- und Landvermessers nachging, angeeignet. Es hing damit zusammen, dass es eine Leidenschaft von mir war, in alten Dachböden oder Kellern herumzustöbern.
Meistens vergaßen ehemalige – und verstorbene natürlich zwangsweise – Hausbesitzer die unglaublichsten Dinge in eben diesen Bereichen ihres Hauses. Der Vorteil war, dass wenn ich etwas finden sollte, das mir gefiel und der oder die Auftraggeber nichts dagegen hatten, was meist der Fall war, durfte ich das entsprechende Teil behalten. Schätze, die auf diese Art und Weise in meinen Besitz gerieten, waren vielfältig.
Ein alter Globus etwa, der in einem rustikalen aber schönen Holztisch eingearbeitet war, und in dessen Inneren man seine Hausbar unterbringen konnte. Er zierte eine Ecke in meinem Wohnzimmer, ebenso ein antiquierter, schon über hundert Jahre alter Stuhl, der mir sehr ans Herz gewachsen war.
So verging der erste Tag. Außer Christopher schien ich der einzige Bewohner Watheley-Castle’s zu sein, zumindest traf ich niemand weiteren an.
Christopher war eine Art Mädchen für alles. Er bereitete die Mahlzeiten zu, fungierte als Gärtner und besserte die kleineren Beschädigungen des Hauses aus. Abends saßen wir bei gutem Wein, Käse und Brot beisammen und unterhielten uns über die verschiedensten Themen.
So brachte ich einmal das Gespräch zurück auf jene Scheuseligkeiten des Dorfes, von denen er mir berichtet hatte. Doch wie bereits am Tag zuvor, wich Christopher jeder direkten Frage aus.
Nähere Einzelheiten, als alte Gespenstermärchen, von Inzest geprägte Familiengeschichten und mittelalterlich anmutende Sagen brachte ich nicht aus ihm heraus.
Am nächsten Abend - ich schaffte das rechte Nebengebäude, sowie den Verbindungsflur, mitsamt Erkern und bislang unverzeichneten Transportschächten - lenkte ich unser Gespräch wieder zurück auf Dunwich.
Hierbei erfuhr ich von Christopher, dass ein entsetzliches Geschöpf, ein Mitglied der Familie Watheley, die auch dieses Anwesen hier erbauen ließen, ein grausiges Monstrum gewesen sei.
Diese kaum beschreibbare Kreatur solle eines Nachts während eines einzigen Blitzschlages getötet worden sein. Seitdem erfülle dieser schreckliche Gestank die Luft in und um Dunwich.
Ein wütender Sturm sei aufgekommen und habe Bäume, Gras und Gebüsch wie nie zuvor gepeitscht, und danach sei das Laub zu einem kränklichen Gelb-grau verdorben. Auf den Feldern und Wäldern habe es die Kadaver vieler Vögel geregnet.
»Der Gestank war früher noch viel schlimmer«, versicherte mir Christopher, »aber seitdem ist Dunwich nicht mehr, wie es einmal war. Dies alles war vor meiner Zeit, doch jeder Einwohner kann Ihnen die Geschichte bestätigen, insbesondere die Ältesten unter ihnen.«
Ich versicherte ihm, dass er mir diese Geschichte bereits sehr glaubwürdig geschildert hatte und ging, unter dem Vorsatz müde zu sein, vorzeitig zu Bett.
Bei all diesen fremden Geschichten, die sich mit meinen Eindrücken deckten, war mir nicht wohl in meiner Haut. Und so war die Nacht von schauderhaften Alpträumen geprägt.
Tags darauf galt es für mich, das linke Nebengebäude zu vermessen. Es fehlten nur noch die Dachkammern und die Keller des Anwesens. Zum Vermessen benötigte man nicht viel Werkzeug. Zunächst einen Zollstock und ein Winkelmaß, sowie eine spezielle Wasserwaage, mit der man Gefälle zu berechnen vermochte. Diverse Pendel konnten die Berechnungen genauer machen. Eine ausführliche Formelsammlung hatte für einen Hausvermesser bedeutenden Wert, zählten doch die Berechnungen selbst zu den Arbeitsschritten, die mit am längsten dauerten.
Der Stil der Einrichtung im gesamten Watheley-Castle war einheitlich gehalten. Viele Zimmer waren leer und diejenigen, die ein Mobiliar aufweisen konnten, wirkten schäbig, alt und antiquiert. Staub gewischt wurde hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr, erfuhr ich von Christopher und er gehe davon aus, dass der Interessent es nach seiner ersten Besichtigung wohl doch nicht kaufen würde. Wer wollte schon hier, in dieser abstoßenden Einöde freiwillig seinen Ruhestand verbringen?
Es handele sich um einen alten Seefahrer, mehr wusste der Diener auch nicht. Anscheinend habe er die Immobilienfirma beauftragt, für ihn ein großes, herrisches Gebäude aufzutreiben. Da es von dieser Sorte nicht mehr allzu viele gäbe, die nicht von der Regierung, der jeweiligen Gemeinde oder aber irgend einer städtischen Universität genutzt wurde, könnte er eigentlich froh über das Angebot von Watheley-Castle sein.
»Nunja, wir werden sehen«, fügte er resignierend hinzu. »Eigentlich ist es mir ja egal, so lange ich meine Stellung hier behalte.«
»Von wem werden Sie eigentlich bezahlt?«, hakte ich nach.
»Oh, von der Gemeinde Dunwich.«
»Und wann möchte dieser Seefahrer Watheley-Castle besichtigen?«
»In zwei Tagen, wurde mir gesagt. Wenn Sie bis dahin fertig sind, dann können Sie gleich mit mir hinunter gehen, wenn ich ihn abhole.«
»Es sieht so aus, als könnte ich das schaffen. Heute werde ich mit diesem Teil des Gebäudes fertig und dann habe ich nur noch die Keller und die … «
»Die Keller vermessen Sie auch?«, unterbrach mich Christopher.
»Selbstverständlich«, antwortete ich leicht verwundert über seine unerwartet heftige Reaktion.
»In allen drei Gebäudeteilen?«, wollte er nun wissen, was ich wiederum bejahen musste.
»Das ist nicht gut.«
»Wieso sollte das nicht gut sein? Die Immobilienagentur hat mich damit beauftragt, das gesamte Gebäude zu vermessen, und dazu gehören sämtliche Keller und Dachgeschosse.«
Misstrauen machte sich in mir breit und ich nahm mir vor, bereits heute schon mit der Arbeit im Keller fortzufahren.
»Die Keller von Wathebey-Castle sind alt und gefährlich. Manche sind teilweise eingestürzt, und bestimmte Bereiche seit Hunderten von Jahren schon nicht mehr zugänglich. Überlegen Sie es sich gut. Wollen Sie wirklich dort hinuntersteigen? Die Treppenstufen sind ein Quell von Unfallgefahren. Dort unten lauern Fledermäuse und Ratten, bestimmt auch noch weitere Tiere, die nur Unheil anrichten. Ich warne Sie. Lassen Sie die Keller Keller sein.«
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf. Warum nur war Christopher so aufgebracht, als ich die Keller erwähnte? Meine Güte, ich hatte schon gefährlichere Bauwerke vermessen, musste sogar einmal in eine Höhle hinabsteigen, welche als Eisenbahntunnel verwendet werden sollte und hatte auf diese Art und Weise schon schlimmere Gefahren durchlebt, als sie von einem alten Keller jemals ausgehen konnten. Doch bevor ich Christopher zur Rede stellen konnte, war dieser bereits mit seinem Werkzeugkasten durch eine der vielen Türen im Flur verschwunden.
Eindeutig war es ein Versuch, mich davon abzuhalten, auch nur in die Nähe des Kellers zu gelangen, was jedoch nur das Gegenteil bewirkt hatte. Nun wollte ich es wissen, und zwar sofort.
Ich räumte meine Vermessungsgeräte zusammen, und machte mich auf den Weg zum Treppenhaus. Was Watheley-Castle anging, so traf die Bezeichnung Treppenhaus auf jeden Fall zu, denn es befand sich in der Tat jeweils zwischen den Nebengebäuden und dem Hauptgebäude ein Haus, das nichts anderes, als eine Treppe beherbergte.
Die Türe, die ich am Ende der letzten, abwärts führenden Stufe erreichte, war verschlossen, doch ich fand schnell den passenden Schlüssel an dem Bund, den mir Christopher überlassen hatte. Hier war er also unvorsichtig gewesen. Wenn er wirklich versuchen wollte, mich mit allen Mitteln daran zu hindern, nicht in die Kellerräume zu gelangen, so hätte er den entsprechenden Schlüssel nur entfernen müssen. War es Leichtsinn, Unachtsamkeit oder einfach nur fahrlässige Provokation? Am Ende machte er sich vielleicht nur einen Spaß mit mir. Das unheilige Dunwich und dieses pompöse Gemäuer lieferten alleine ja schon Stoff für Hunderte von Schauermärchen. Es war ja beinahe schon zum Volkssport geworden, dass Einwohner gemiedener Orte wie diesem, gerne den Reisenden ihre schaurigen Geschichten erzählten, damit die Einheimischen auch weiterhin ungestört und unter sich sein konnten.
Hinter der Türe erwartete mich ein nahezu endloser Gewölbegang. Es roch nach modriger, feuchter Luft und das wenige Licht, das zu den einzelnen Kellerfenstern hineinkam, blieb vollkommen wirkungslos. Es half alles nichts. Ich musste noch einmal zurückgehen, um mir einige Kerzen oder eine Lampe zu besorgen.
Christopher konnte ich nirgendwo finden. Er war vermutlich in der überschaubaren Parkanlage und jätete Unkraut. So suchte ich selbst nach dem Benötigtem und fand bald in einer Küchenschublade ein kleines Kästchen, in dem sich mehrere Kerzen und Kerzenstummel befanden, sowie zwei Päckchen Streichhölzer. Ich nahm die Schachtel an mich und begab mich wieder zurück in den Keller. Es würde beschwerlich werden, mit den paar Kerzen die einzelnen Räume so zu erhellen, dass es eine einwandfreie Messung ergeben würde.
Ich entschied mich dafür, die Keller nach der üblichen Vorgehensweise zu vermessen und keinen Gedanken an Christophers lächerliche Warnung zu verschwenden, oder gar nach etwas zu suchen, was besser verborgen bleiben sollte. Doch ehe ich mit meiner Arbeit beginnen konnte, hatte ich schon den halben Gewölbegang durchschritten und die angrenzenden Kellerzimmer inspiziert. Natürlich fand ich nichts, was von sonderlicher Bedeutung gewesen wäre.
Ich schalt mich einen Narren und begab mich wieder zu meinen abgestellten Messutensilien, um mit der Aufgabe fortzufahren.
Raum für Raum erhellte ich zunächst mit den Kerzen, baute dann die Geräte auf, trug die Ergebnisse in ein speziell für solche Messungen angefertigtes Formular ein und brachte alles in den nächsten Raum.
Ein Großteil der Kellerabteile war leer. Ein anderer etwas geräumigerer Raum, nahe des rechten Treppenhauses, diente als Weinkeller. Der Vorratskeller befand sich gegenüber. Waschküche, Kohlenkeller und Rumpelkammer waren ebenfalls deutlich als solche zu erkennen. Die übrigen Räume schienen nur als Aufbewahrungsort für Schrott, Scherben und anderen Müll zu dienen. Der überwiegende Anteil der leeren Kellerabteile lagen in der linken Hälfte des gesamten Hauses.
Dort fand ich auch einige eingestürzte und stark baufällige Kammern.
Zudem entdeckte ich mehrere verschlossene und zugemauerte Türen, die offenbar in stollenähnliche Gänge mündeten, welche tief ins Innere der Berge führten. Dies erzählte mir zumindest Christopher, den ich während des Abendessens darauf ansprach.
Der Diener war ein schroffer Kerl. Ich hatte das Gefühl, als empfände er eine immer stärker werdende Abneigung mir gegenüber.
War er am Abend zuvor zwar schon distanziert, aber immerhin freundlich gewesen, so beschimpfte er mich heute, ich solle nicht zu viel Käse nehmen und ein Glas Wein sei genug. Mit seinem unangemessenen Befehlston schüchterte er mich dermaßen ein, dass ich es nicht wagte, zu protestieren. Stattdessen begab ich mich abermals vorzeitig auf mein Zimmer, diesmal jedoch unter dem Vorsatz, dass dort noch Arbeit auf mich wartete.
Und in der Tat hatte ich ausnahmsweise auch wirklich etwas zu erledigen; die Formulare mit den Messdaten mussten noch geprüft und ausgewertet werden.
Sinn und Zweck dieser Prüfung war es, dass einem eine eventuelle Anomalie der Zimmer oder der Mauerstärke auffiel, die nicht zu den Gesamtmaßen des jeweiligen Hauses passten. Diese Überprüfung war bei neueren Bauten unnötig.
Doch gerade in alten Gebäuden war es oft der Fall, dass ganze Stockwerke im Laufe der Jahrhunderte umgebaut oder gar einzelne Zimmer zugemauert wurden, auf dass sie über die Generationen von Hausbesitzern in Vergessenheit gerieten.
Die Kellergemäuer von Watheley-Castle wiesen eine solche Anomalie auf. War es das, was Christopher vor mir verbergen und geheim halten wollte?
Erschwerend kam hinzu, dass der teilweise eingestürzte Bereich der Keller nur schätzbar war, mir jedoch keine genauen Daten zur Verfügung standen.
Abermals träumte ich schlecht.
Im Traum hörte ich das Rasseln von Ketten, das schäbige Knirschen loser Dielenbretter und ich erinnerte mich an die vagen Konturen einer schwarzen Masse, die sich durch die Ritzen meiner Tür wand und mit langen Fühlern eifrig nach mir schnappte. Eine Stimme schien mich aus dem Verborgenen zu rufen, doch ich konnte nicht zu ihr, da sich das pulsierende Dunkel nun vollends durch die Tür gepresst hatte, um sich in seiner ganzen ungeheuerlichen Größe vor mir aufzubauen.
Mir stand kalter Schweiß auf der Stirn, als ich drei Stunden nach Mitternacht ruckartig erwachte. Die ängstlichen Erinnerungen an den Traum von mir abschüttelnd, blieb ich eine Weile orientierungslos im Bett sitzen, nur um alsbald festzustellen, dass an ein weiteres Schlafen nicht mehr zu denken war.
Die Gedankengänge an den vorangegangenen Traum wurden von den Erinnerungen an Messdaten und mathematischen Gleichungen verdrängt. Ich holte meine Mappe mit den Messunterlagen hervor und verglich mehrere Zahlen miteinander, wandte einige geometrische Formeln an und wunderte mich darüber, dass ein solches Wissen in meinem Hirn verankert war.
Es dauerte nicht lange, da hatte ich das Ergebnis und wusste, wo sich die Anomalie des Kellers befand. Es konnte sich eigentlich nur um ein zugemauertes Zimmer im Ostflügel des Kellers handeln. Ich studierte veraltete Baupläne und kontrollierte meinen Verdacht. Dann zog ich mich an, nahm die Messgeräte und eine Lampe, und begab mich wieder hinunter in die Keller. Ich durchquerte ein weiteres Mal den Weinkeller, nahm mir aus einer der Rumpelkammern, die meinen Weg kreuzten, einen kräftigen Spaten und ging weiter, auf die linke Hälfte des Kellers zu.
Einige Male blieb ich stehen, weil ich vermeinte, ein Klopfen zu hören, doch ich irrte mich wohl. Die drückende Schwüle der Sommernacht war in den vermoderten Kammern des Kellers kaum zu spüren. Es erschien mir eher etwas frisch. Nur der Geruch erinnerte mich wieder an warme, stinkende Gase, an Fäulnis und Gedärm. Während des Tages erschien mir jener Geruch nicht so penetrant, doch nun war er allgegenwärtig. Er schien von jedem Gebälk zu tropfen, moderte durch die grob behauenen Wände und kroch aus dem, mit grauen Moosen bewachsenem Boden hervor.
Dann erreichte ich endlich die Wand, hinter der ich meinte, dass sich ein weiteres Zimmer befinden musste. Die Lampe dicht an die Wand haltend, auf jede Unebenheit im Gemäuer achtend, tastete ich mich Zentimeter um Zentimeter an der verputzten Mauer entlang.
Man mochte diese Aktion fanatisch nennen, doch ich wollte um alles in der Welt hinter das Geheimnis der Anomalie in diesem Keller kommen. Doch wie gesagt, vielleicht war dies alles auch nur ein Traum. Ich hatte bereits am Anfang erwähnt, dass dies durchaus der Fall sein konnte. Immerhin träumte ich ja in den vorangegangenen Nächten schon schlecht. Außerdem, so hatte ich erfahren, war es durchaus nichts Ungewöhnliches, während zwei traumreichen Tiefschlafphasen kurz zu erwachen.
Vielleicht lief ich gar schlafwandelnd durch Watheley-Castle?
Ich konnte mich nur wiederholen, ich hatte keinerlei Beweise in der Hand. Die Tatsache, dass ich scheinbar im Keller bewusstlos wurde, und erst Stunden später in meinem Bett von einem Arzt geweckt wurde, sprach alles andere, als für mich. Selbst die unabhängige Prüfungskommission hatte nichts Belastendes in dem alten Anwesen finden können.
Ich fand schließlich eine kaum merkbare Vertiefung unter dem Putz, den ich an manchen Stellen abgeklopft hatte. Dieser Vertiefung folgte ich nun mit meinen Fingerspitzen und legte so eine Art Rahmen fest, in dem sich einmal eine Tür befunden haben musste. Mit Hilfe des Spatens machte ich mich an die Arbeit, auf die Wand innerhalb jenes Rahmens einzuschlagen.
Zu Anfangs sah es so aus, als würde ich auf diese Art nicht weit kommen. Doch schon bald erzielte ich die ersten größeren Fortschritte in meinen Bemühungen und wurde kaum eine halbe Stunde später für meine Anstrengungen belohnt, in dem ich ein erstes winziges Loch durch die Wand gehauen hatte. Zu meinem Bedauern war es jedoch zu klein, als dass ich hätte gleichzeitig hindurchschauen und das Innere des Hohlraumes mit meiner Lampe ausleuchten können.
Nun benutzte ich den Stiel des Spatens als Hebel, rammte ihn in eben dieses Loch und stemmte mit aller Kraft die anderen Steine heraus, sodass sich das Loch rasch vergrößerte. Durch diese Herangehensweise zusätzlich angespornt, stieß ich mit meinen letzten körperlichen Kräften, aber voller Zuversicht, die restlichen Steine in das Loch hinein. Kurze Zeit später war die Öffnung groß genug, dass ich durch sie hindurchklettern konnte.
Zunächst jedoch, sah ich gar nichts. Ich musste den Docht der Lampe weiter aufdrehen, damit es heller wurde. Wer wusste schon, wie viele Jahre in diesen Bereich des Hauses kein Licht mehr gedrungen war?
Und auch das, was ich sah, schien an und für sich nicht besonders entsetzlich gewesen zu sein, und dennoch stellen sich bei mir die Nackenhaare auf, je öfter ich nur an diesen Moment des Erkennens zurückdenke.
Der verborgene Raum war nicht sonderlich groß, er maß in etwa drei mal vier Meter. Die Einrichtung hingegen schien äußerst spektakulär zu sein. Mit Holz verkleidete Wände, ein großer Schreibtisch, Regale mit schweren Büchern, eine ansehnliche Bar und eine hübsche Sitzgruppe, auf deren Lehne ich blickte.
Ich trat tiefer in die Kammer ein, denn ganz deutlich spürte ich die Anwesenheit einer weiteren Person in diesen vier Wänden. Man sagte mir, es sei Christopher gewesen, doch das konnte nicht sein. Der Diener hätte nämlich von hinten kommen müssen, da das eingeschlagene Loch der einzige Zugang zu dem Raum war. Die Gestalt aber, deren Anwesenheit ich so deutlich wahrnahm, sei es aufgrund von Atemgeräuschen oder weil ich eben ein Gespür für solche Dinge hatte, saß eindeutig vor mir auf dem Sofa, dessen Lehne so hoch war, dass ich die Person nicht sehen konnte. Mein Puls raste, als ich langsam auf das Sofa zuging. Mit jedem Schritt, der mich dem Sofa näher brachte, wurde ich unruhiger. Das Blut rauschte mir in den Ohren und abermals fühlte ich kalten Schweiß auf meiner Stirn. Als ich das Sofa erreicht hatte und die Person sah, die sich auf eben diesem lümmelte, traute ich meinen Augen kaum. Und wie die Person mit mir zu reden anfing, musste ich das Bewusstsein verloren haben.
Wie gesagt, den Rest der Geschichte kennt man ja: Ein Arzt weckte mich, ich lag auf dem Bett in meinem Zimmer in Watheley-Castle und redete scheinbar wirres Zeug. Der Keller wurde überprüft, doch es wurde kein Loch in der Mauer und auch keine zugemauerte Tür gefunden. Zudem bestätigten ausgerechnet meine eigenen Messdaten in den Formularen, dass das Anwesen frei von Anomalien jeglicher Art sei.
Doch ich wusste, was ich erlebt und gesehen hatte. Christopher musste es gewesen sein, der den Raum wieder zugemauert und meine Messdaten gefälscht hatte. Es war alles nur eine geniale Verschwörung. Wer einen Grund dazu gehabt hätte, ein solches Komplott aus skrupellosen Täuschungen zu kreieren? Woher sollte ich das wissen? Was wusste ich denn schon vom Jenseits? Hier fragte man wohl besser einen Gott oder einen Priester. Ich konnte lediglich die Ewigkeit beschreiben:
Ich selbst war es, der da auf diesem Sofa saß. Eben jenes Sofa, auf dem ich just in diesem Augenblick sitze. Und ich, der mich dort sitzen sah, ich war Sie und hörte mir zu.
»Verstehen Sie denn nicht?«, schrie ich mich selbst an. »Ich durchlebte immer wieder dieselben Ereignisse, und wenn ich sie heil überstanden hatte, war ich auch noch dazu gezwungen, mir diese selbst zu erzählen. Immer und immer wieder!«
Doch bedenken Sie: Diese Anomalie des Hauses war in Wirklichkeit eine zeitliche. Und dass Zeit nicht ortsgebunden ist, wird Ihnen sicherlich bekannt sein. Die Öffnung wieder zuzumauern hatte nicht das Geringste dagegen bewirken können. Die Zeitanomalie war bereits daraus entfleucht und sie würde sich wie ein Meer giftiger Tentakel ausbreiten und sich bald über unseren gesamten Planeten erstrecken.
Woher ich das weiß?
Ich habe es gemessen.