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5.Das Klavier

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Lara Sailor


Nach seinem Einzug hatte der neue Nachbar zu spielen begonnen. Sanfte Töne, die vollendet durch die Wände hallten und Iris’ Körper ins Schwingen brachten, bis jede Zelle zu vibrieren schien.

Schon nach Tagen gab es keinen Ort in ihrer Wohnung mehr, in dem ihre geschärften Sinne nicht Tonleitern und Fingerübungen erkannten. Selbst wenn sie schlief, träumte sie von sanften Melodien und wunderschönen Elegien.

Doch es gab keinen Grund zur Beschwerde, »J. Anderson« hielt sich an die Regeln und selbst die zänkische Frau Meyer von unten liebte ihn. Genau wie alle Nachbarn berichtete die Alte davon, wie nett der junge Mann war, wie einfühlsam.

Iris jedoch schien er aus dem Weg zu gehen, blieb eine Spukgestalt, die sich hinter Noten und verführerischen Liedern verbarg. Nach zwei Wochen begann Iris ihn zu hassen und zu fürchten, zu lieben und zu verehren.

Seine Musik verfolgte und bedrängte sie. Sie schlich sich in ihre Gedanken und Sehnsüchte. Immer wieder trafen die Spielarten Iris unvermutet und ohne jede Deckung.

Wie Samstagabend im warmen Bad. Schwermütig und verführerisch verlockte die Musik sie dazu, sich hinzugeben. Iris ertappte sich dabei, wie ihre Finger den Rhythmus aufnahmen und auf ihrem Körper spielten. Dabei, wie sie sich die geübten Finger des Musikers auf ihrer weißen Haut vorstellte – und in ihren schwarzen Locken. Weibliche Klavierseiten, die unter gekonnten Berührungen und den sanften, aber bestimmten Fingern meisterhaft gespielt wurden. Er würde ihr Töne entlocken, wie es nur ein wahrhaftiger Künstler konnte.

Sie sank tiefer in das Wasser und nutzte die Melodie, um ihre Hände über ihre Haut gleiten zu lassen, den Rhythmus, um sich zu fingern, und den Takt, um sich tiefer und tiefer in die selbstversunkene Hingabe fallen zu lassen, bis sie eins wurde mit der Musik, der spielerischen Hingabe und der vollkommenen Selbstauflösung in den allumfassenden Noten.

»Du bist verrückt!«, behauptete Nina, als Iris ihren besten Freundinnen beim wöchentlichen Kaffeeklatsch von ihren Fantasien erzählte. Dann lauschten sie der verlockenden Musik, die an diesem Sonntagnachmittag das Haus erfüllte.

Als die Töne abrupt verstummten, maulte Judith: »Und deswegen haben wir uns hier getroffen, statt die halbe Stunde im Café Belagios zu nutzen, um Jorge zu bewundern?«

»Jorge, immer nur Jorge…«, murmelte Iris. Träume von ihm hatte sie schon vor Monaten aufgegeben. Doch erst seit es den neuen Nachbarn gab, fiel es ihr nicht mehr schwer, den gut aussehenden Mittvierziger zu verdrängen. Schließlich hatte er sie nie beachtetet, kannte nach all den Jahren nicht einmal ihren Namen, obwohl sie jeden Sonntag um 16 Uhr mit ihren Freundinnen in sein Café kam. Und jeden Sonntag eine Waffel mit Eis und Kirschen und einen Latte Macchiato bestellte.

Der schöne Jorge … Iris’ Gedanken schweiften ab. Plötzlich waren es Jorges Finger, die sich auf ihrer Haut bewegten, seine Elegien, die sie verzauberten, seine Musik, die sie verführte und sein Rhythmus, der sie zum Schreien brachte.

Entschlossen schüttelte Iris den Kopf und den Tagtraum von Jorge, seinem perfekten Körper, dem perfekten Mund und dem perfekten Sex ab. Schließlich flirtete er mit jeder Frau, nur sie ignorierte er. Wahrscheinlich war Iris ihm nicht schlank genug oder zu durchschnittlich.

»Lade deinen Nachbarn doch zum Kaffee ein«, schlug Nina vor und riss Iris aus ihren Gedanken.

»Jetzt?« Iris sah an sich hinab und musste lachen. Ihr gemütlicher Hausanzug lud wahrlich zu vielem ein – flirten zählte nicht dazu. Auch wusste sie, dass sie ohne Makeup, mit nachlässig zurückgebundenen Haaren eher kuschelig als hübsch aussah.

Für ihren ehrlichen Blick erntete sie einen Ratschlag: »Wenn ein Mann dich mag, dann immer und auch so wie jetzt!«

Gut gelaunt brachte Iris ihre Freundinnen zur Tür, wünschte ihnen Glück mit Jorge und sah ihnen nach. Als plötzlich die Tür der Nachbarwohnung aufgerissen wurde, erschrak sie und drehte sich zur Flucht.

»Ist heute nicht Sonntag?« Die angenehme Stimme und die Frage, die sie nicht in einen Zusammenhang bringen konnte, irritierte Iris genug, um dem Mann einen Blick zu gönnen.

Jorge! Gut aussehend wie immer.

Als er ihre Verwirrung erkannte, ergänzte er: »Du wirst mir untreu kleine Blume?!«

Iris wurde rot, begriff aber nicht, wovon Jorge sprach.

»Ihr seid doch heute immer im Café…«, er musterte sie eingehend, »…oder bist du krank, Blume?«

Die merkwürdige Enttäuschung darüber, dass ausgerechnet Jorge ihr traumhaft-verführerischer Klavierspieler sein sollte und sie nun auch noch abwertend musterte, ließ Iris fauchen: »Wenn du mich so nicht magst, ist das dein Problem!« Sie drehte sich um und stapfte zu ihrer Wohnungstür zurück. »Außerdem habe ich einen Namen!«

»Iris!« Jorges entschuldigende Stimmlage und die Tatsache, dass er ihren Namen kannte, ließen Iris zurückblicken.

Verunsichert fragte er: »Du kommst heute gar nicht?« Er sah an sich hinab und machte eine hilflose Geste, mit der er ihr zu verstehen gab, dass er sich nur wegen ihr so schick machte.

Iris blinzelte und ihre verführerischen Gedanken kamen zurück. – Alle.

»Vielleicht kannst du mir bei mir meinen Sonntagskaffee servieren?«, schlug sie vor und fügte schelmisch hinzu: »Und Klavierspielen?!«

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