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1. Kapitel: Eine neue Klientin

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Tom Packard bezeichnete sich dieser Tage als der glücklichste Junge ganz Londons. Er hatte eine Freundin, in die er total verliebt war. Was gab es wohl Wichtigeres und Schöneres im Leben eines Fünfzehnjährigen? Ihm fiel die Antwort leicht: nichts. Er hatte nur noch Blicke und Gedanken für Vanessa Sutton.

Große blaue Augen, langes blondes Haar, gertenschlank und genau die richtige Größe, um sie perfekt zu küssen. Sie schmeckte wunderbar, der absolute Wahnsinn!

»Ich bin schon ganz gespannt, deinen Onkel kennenzulernen«, säuselte Vanessa gerade. Sie schlurfte ein paar Schritte vor ihm auf dem Gehsteig her, die Hände in die Hosentaschen gestopft. Tom sah ihr voller Begeisterung zu. War sie nicht wunder-wunderschön, so richtig cool? Oh ja, auf dem ganzen Planeten gab es kein schöneres Mädchen.

Tom war im Lauf des letzten Jahres um einiges gewachsen, und konnte jetzt die meisten seiner Mitschüler von oben betrachten. Er war stolz, dass sich Vanessa ausgerechnet ihn als neuen Freund ausgesucht hatte. Das begehrteste Mädchen der Schule wollte nur mit ihm gehen, einem rotblonden, sommersprossenübersäten Teenager.

»Er ist nicht mein Onkel, eigentlich ist er gar nicht mit mir verwandt. Er ist mein Pate, das ist was ganz anderes«, erklärte er ihr lachend, zum wohl einhundertsten Mal. Vanessa vergaß eben schnell, aber das machte ihm nichts aus – sie sollte es ruhig wieder vergessen – so konnte er es ihr erneut erklären.

»Ist doch egal. Wie bist du überhaupt zu ihm gekommen? Ich hab gehört, er soll ein rechter Spinner sein, dein Onkel«, meinte sie, schwang sich um einen Laternenpfahl und wartete dann, bis er zu ihr aufgeschlossen hatte.

»Naja, es war nach dem Tod meiner Eltern und nachdem mich Priscilla – meine Tante – hat sitzen lassen. Sie ist einfach abgehauen, stell dir das vor! Meine Mutter hatte Veyron im Testament zu meinem Vormund bestimmt. Seitdem kümmert er sich um mich. Das war …«

Er sah sich um. Die meisten Bäume hatten schon gar kein Laub mehr, Straßen und Bürgersteig waren voll mit roten, gelben und braunen Blättern, die bei jedem Schritt raschelten. Die Sonne sandte ihr warmes, goldenes Licht auf die Erde. Oktober, es war Mitte Oktober. Das wurde ihm jetzt wieder bewusst.

»Seit letzten Sommer. Wow, das ist jetzt über ein Jahr. Kam mir gar nicht so lang vor«, stellte er fest.

Vanessa lachte. Es war das entzückendste Lachen der ganzen Welt. Tom strahlte von einem Ohr zum anderen.

»Mann, du bist ja ganz schön durch den Wind, Tommy«, sagte sie, schwang wieder um den Laternenpfahl und hakte sich unter seinen Arm. Gemeinsam schlenderten sie die Wisteria Road hinauf. Die Nachbarn, die in ihren Gärten Hecken schnitten, oder den Rasen mähten, beachteten sie nicht weiter.

»Mit Veyron ist es nicht immer einfach«, gestand Tom. Mehr konnte er nicht sagen, denn die Wahrheit war zu unglaublich, um Vanessa darin einzuweihen.

Veyron Swift arbeitete als Berater und Detektiv. Allerdings jagte er keine Ehebrecher, Trickbetrüger oder Heiratsschwindler, sondern er half seinen Klienten bei übernatürlichen Angelegenheiten. Veyron Swift kämpfte gegen freche Kobolde, blutdurstige Vampire und hin und wieder auch gegen rüpelhafte Trolle. Sogar dunkle Magier waren vor Toms Paten nicht gefeit. Das war nicht irgendeine Spinnerei, Tom hatte es selbst schon miterlebt.

Vanessa konnte er davon jedoch nichts erzählen – niemals. Nicht bevor sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie würde ihn ansonsten für einen Verrückten halten und nie wieder ein Wort mit ihm reden. Nein, Tom durfte ihre junge, wundervolle Beziehung nicht leichtfertig zerstören. Er musste sehr vorsichtig sein, wie er Vanessa seinem Patenonkel vorstellen sollte.

Veyron wusste nichts von Toms Freundin, er nahm überhaupt nur sehr wenig Anteil an Toms Privatleben. Das war zwar irgendwie locker und cool, aber andererseits auch störend. Manchmal kam sich Tom sehr einsam vor.

Natürlich waren da noch Veyrons ganze Animositäten, über die sich Tom inzwischen schon gar nicht mehr weiter beschwerte. Weder über die Tatsache, dass mitten in der Nacht plötzlich die Musik anging und dröhnend laut Paganini oder Mozart durch die ganze Nachbarschaft hallten, noch darüber, dass Veyron so gefühlskalt und unmenschlich war wie eine Maschine. Tatsächlich betrachtete sein Pate Gefühle, gleich welcher Art, als gefährliche Ablenkung für die Leistungsfähigkeit seines Gehirns – und die war beachtlich. Veyron nahm Dinge wahr, die andere niemals sahen, oder erst nach Stunden oder Tagen. Selbst die allerkleinsten Kleinigkeiten entgingen seinen Adleraugen nicht. Kein Mensch der Welt konnte schneller und präziser analysieren.

Anstatt seine besonderen Talente allerdings irgendwie nützlich zu verwenden, sei es um Kriminelle dingfest zu machen, oder wenigstens Reichtümer zu scheffeln (Geld konnte man dieser Tage immer gut gebrauchen), verschwendete Veyron seine Fähigkeit allein für seine eigenen, kauzigen Zwecke.

Der Gedanke an das, was unweigerlich auf ihn zukommen musste, dämpfte Toms Glücksgefühle schlagartig.

»Hör zu, Vanessa. Ich sollte dich vor Veyron warnen. Du hast schon recht, er ist ein wenig seltsam. Ich mach mir wirklich Sorgen um ihn«, gestand er.

Vanessa lächelte ihn mitfühlend an.

»Ja, ich kenn das. Meine Mutter tickt auch ständig wegen irgendeiner Kleinigkeit aus, und mein Dad ist ein echter Spinner, der seltsame Sachen in seiner Garage zusammenbaut«, flötete sie und brachte Tom damit wieder zum Lachen.

»Nein, nein. Mit Veyron ist das anders. Er hat einen einzigartigen Job, weißt du. Aber seit seinem letzten Fall…«

»Ist er Detektiv? Cool.«

»Eher so eine Art Berater. Sein letzter Fall war nicht der Hit, das hat ihm schwer zugesetzt. Das ganze Jahr über war er auf der Suche nach einem Neuen. Er nimmt nur ganz ausgewählte Fälle an, musst du wissen. Doch Fehlanzeige, alles Flops. Er ist praktisch schon seit Monaten arbeitslos.«

Er kam sich unendlich schlau vor, wie elegant er das umschrieben hatte. Wie sollte er ihr auch sagen, dass sich seit ihrem letzten großen Abenteuer nicht ein einziger Vampir, kein einziger Troll, ja nicht einmal ein Kobold hatte blicken lassen. Zwar wurde Veyron immer wieder von Leuten angerufen, die glaubten, Geister im Haus zu haben oder andere übernatürliche Heimsuchungen. Doch jedes Mal hatte sich die Angelegenheit bloß als die krankhafte Einbildung seiner Klienten herausgestellt. Veyron war deswegen richtig frustriert. In dieser Laune war er nahezu unerträglich für seine Mitmenschen.

»Besonders schlimm ist es in den letzten zwei Wochen geworden. Er hat die Rollläden in seinem Zimmer nicht mehr hochgezogen, lässt sich Frühstück, Mittagessen und Abendessen hinauf bringen. Ich hab ihn nur einmal gesehen – ungewaschen. Er stinkt, um es kurz zu sagen, er stinkt entsetzlich. Ich glaub, es ist keine gute Idee, dass wir heute da hingehen. Vielleicht sollten wir…«, fuhr er fort, nur um von Vanessas Zeigefinger unterbrochen zu werden, der seine Lippen berührte. Sie schenkte ihm ein herausforderndes Lächeln und wickelte verführerisch eine lange, blonde Locke um ihren Zeigefinger.

»Ach, komm schon, Tommy. Ich will unbedingt sehen, wie du so lebst. So schlimm kann dein Onkel schon nicht sein, bestimmt nicht schlimmer als meine Alten. Weißt du was? Wir sagen ihm kurz Hallo und verziehen uns dann auf dein Zimmer. Wenn er wirklich so stinkt, wie du sagst, machen wir ein Foto und stellen es bei Facebook rein. Das wird echt cool.«

Tom seufzte. Dieser zuckersüßen Stimme konnte er nichts abschlagen, selbst wenn sich alles in seinem Inneren dagegen sträubte. Geh nicht dahin! Geh mit ihr ins Kino, in den nächsten Park, von mir aus zu Fuß bis nach Kenia, aber nicht zu Veyron Swift, warnte ihn sein Verstand im Stillen, doch der Rausch, den Vanessa in seinem Inneren auslöste, ließ ihn alle Warnungen in den Wind schlagen.

Was könnte Veyron schon dagegen haben, wenn ich meine Freundin anschleppe? Außerdem geht es ihn sowieso nichts an, entschied er.

»Okay, lass uns gehen. Aber eines muss ich dir noch sagen: Er ist nicht mein Onkel, er ist überhaupt nicht mit mir verwandt. Er ist nur mein Pate«, sagte er zum ungezählten Male.

Es dauerte nicht lange, dann standen sie in der 111 Wisteria Road, Toms Zuhause, der Festung von Veyron Swift.

Das große Backsteingebäude stand auf erhöhtem Grund, zum Gehsteig durch eine kleine Mauer abgegrenzt. Einige Stufen führten zur Haustür hinauf, von wo man einen guten Einblick in den weitflächigen Garten hatte, der mit Hunderten Sträuchern und einigen großen Bäumen überwuchert war, die sich dicht ans Haus drängten.

Tom sperrte auf und sie traten ein. Es war absolut ruhig im Flur, aus keinem der angrenzenden Räume kam ein Geräusch. Tom warf einen Blick in die Küche. Die Reste eines Frühstücks standen auf dem kleinen Tisch, eine zerfledderte Zeitung lag am Boden.

Wie es aussah, hatte Veyron tatsächlich sein Zimmer verlassen. Vielleicht war er sogar ausgegangen, denn so still war es selten im Haus. Meistens hörte man ihn in seinem Zimmer auf- und abschreiten, manchmal auch eine Rugbynuss gegen die Wände werfen – stundenlang.

Jetzt war es still, totenstill. Tom trat zurück in den Flur, warf einen Blick die Treppe hinauf. Dort oben waren Veyrons Schlafzimmer, das Bad und auch sein kleiner Arbeitsraum. Die Tür stand sperrangelweit offen, von seinem Paten war nicht das Geringste zu sehen. Dafür aber die vielen unordentlich über den Boden verstreuten Büchertürme, Zeitungsausschnitte, Landkarten und allerhand nutzloser Krimskrams.

»Was macht dein Onkel gleich wieder von Beruf«, fragte Vanessa verunsichert.

Tom spürte, wie ihm die Farbe ins Gesicht schoss. In der Schule hatte er erzählt, Veyron arbeite als Privatdetektiv, denn die Wahrheit konnte er ja unmöglich preisgeben. Außerdem war es ja nicht vollkommen gelogen. Er hatte eben nur ein kleines Detail weggelassen. Doch dass Vanessa jetzt die ganze Unordnung zu Gesicht bekam (da waren doch tatsächlich mehrere angebissene und vertrocknete Apfelstücke zwischen dem ganzen Papierwust zu sehen), das war echt peinlich.

»Er deckt die Wahrheit auf, Miss Sutton«, antwortete eine dunkle, strenge Stimme hinter ihnen. Tom blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, erging es Vanessa ähnlich.

Veyron Swift, fast zwei Meter groß, von schlaksiger Gestalt, mit einem strengen, kantigen Gesicht, dünnen Lippen und einer schmalen Raubvogelnase, stand in einem weiten, weinroten Morgenmantel hinter ihnen. Seine baren Füße steckten in grässlichen senfgelben Filzschlappen. Von einem hing bereits die Sohle herunter. Die schwarzen Haare ein einziges Chaos, aber zumindest war er rasiert. Er roch jedoch derart penetrant nach altem Schweiß, dass Vanessa unmittelbar zurückwich und Tom einen verzweifelten Blick zuwarf. Wie peinlich das war! Veyron blamierte ihn gerade bis auf die Knochen.

Unsicher lächelnd hob Vanessa die Hand und winkte. »Hi, ich bin Vanessa, Tommys Freundin. Wow, Sie sind also sein Onkel? Wo sind Sie so plötzlich hergekommen? Ich hab gar nichts mitbekommen.«

Veyron zwang sich sichtlich zu einem Lächeln. Es hielt etwa drei Sekunden, danach wurde seine Miene wieder ernst.

»Ich fürchte, Sie sind nicht Toms Freundin«, sagte er bestimmt. »Halt, ich muss mich korrigieren. Besser sollte ich sagen: Sie sind nicht nur Toms Freundin. In dieser Eigenschaft kommen Sie ganz nach Ihrem Vater. Nein, nicht Joshua Sutton, sondern Ihrem leiblichen Vater, dem Automechaniker aus der 78a Tallham Road, Carl Groves. Immer eine Freundin an der Hand, manchmal auch mehrere – je nachdem, wie viel er im Monat durch das Fälschen von Tachometern verdient. Ein Lächeln hier, eine Geste dort, ein Kompliment da, ein naiver Augenaufschlag und ein verheißungsvolles Schürzen der Lippen. Gratulation, die Verführung liegt Ihnen im Blut, Miss Sutton.

Leider weiß Tom gar nicht, wie erfolgreich Sie damit sind. Gleich drei Jungs zur selben Zeit, und alle sind Ihnen hörig. Da ist einmal Tom Packard, frisch verliebt und gegenüber dem Offensichtlichen so blind wie ein Maulwurf. Natürlich will ich Stevie Rodgers nicht vergessen, der Rugby-Meister aus der Parallelklasse und Bob Saunders. Der ist ein Jahr älter als Sie und macht derzeit eine Mechanikerausbildung bei Groves. Ein leichtes Opfer. Stevie Rodgers dagegen ist so eingebildet und eitel, dass er nicht einmal auf die Idee käme, Sie würden ein doppeltes – Verzeihung – dreifaches Spiel mit ihm treiben.«

Tom blieb die Luft weg, Vanessa ebenfalls. Er konnte sehen, wie ihr Kopf abwechselnd leichenblass und anschließend wieder knallrot wurde.

»Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Woher wissen Sie das?«, keuchte sie und wich zurück. Veyron behielt sie mit seinen stechenden, eisblauen Augen jedoch im Visier.

»Ich weiß alles, Miss Sutton, ich weiß einfach alles«, gab er zurück und wirbelte auf den Absätzen herum. Mit schnellen Schritten verschwand er im Wohnzimmer. Tom wollte es nicht glauben, er konnte das alles nicht fassen. Ungläubig starrte er Vanessa an, hoffte auf ein Wort von ihr, das Veyrons gemeine Anschuldigungen widerlegte. Stattdessen brachte sie nur einen gellenden Schrei hervor, stürzte zur Haustür und war verschwunden.

Tom blieb noch eine Weile an Ort und Stelle stehen, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Hitze stieg in ihm hoch, kochend heiß wie Lava. Er stürmte zur Haustür, riss sie auf und sprang die Stufen hinunter zur Straße. Er sah Vanessa, die heulend an der nächsten Straßenlaterne stand, die Hände vors Gesicht geschlagen. Verzweiflung würgte ihn, aber er näherte sich.

»Stimmt das? Vanessa, bitte sag mir, dass das nicht stimmt«, jammerte er. Das durfte doch alles nicht wahr sein. Seine große Liebe, eine elende Lügnerin? Veyron musste sich einfach irren.

Vanessa blickte auf, Tränen rannen ihr über die Wangen.

»Hau ab!«, giftete sie ihn an. »Scher dich zurück zu deinem psychopathischen Onkel! Er ist der Teufel! Ja genau, der Teufel ist er! Lass mich bloß in Ruhe! Ihr seid beide absolute Spinner!«

Bevor er noch etwas sagen konnte, rannte sie davon. Die Nachbarn in den Gärten sahen ihr hinterher und schüttelten missbilligend den Kopf, bevor sie sich wieder um ihre Hecken und Rosensträucher kümmerten.

Toms Verzweiflung wurde zu kalter Wut.

»Ja, lauf nur! Lauf zu Stevie oder zu Bob Saunders oder zu sonst wem! Du hast ja offenbar genug Lover bei denen du dich ausheulen kannst, du dämliche Zicke! Ich will dich hier nie wieder sehen«, brüllte er ihr hinterher. Er gab dem Laternenmast einen so heftigen Tritt, dass ihm der ganze Fuß schmerzte. Grollend stampfte er zurück ins Haus und schmiss die Tür zu. Zugleich war ihm zum Heulen zumute. Was hatte er getan? Und wer war schuld an der ganzen Misere? Veyron Swift! Er hatte gerade seine Freundin verscheucht und seine große Liebe zerstört!

Wutentbrannt stürmte Tom ins Wohnzimmer und fand seinen Paten entspannt im großen Ohrensessel lümmeln, die Beine ausgestreckt und die Arme zufrieden hinter dem Kopf verschränkt. Veyron grinste von einem Ohr zum anderen und schien seine abscheuliche Boshaftigkeit auch noch genüsslich auszukosten.

»Was haben Sie da getan? Sie haben Vanessa verjagt! Nie wieder wird sie ein Wort mit mir reden! Sie Unmensch, Sie sind doch echt irre! Warum zum Teufel haben Sie das getan?«

Tom hielt sich nicht mehr zurück. Eine ganze Menge übelster Schimpfwörter lagen ihm auf der Zunge, nur im allerletzten Moment beherrschte er sich, sie loszulassen. Er mochte es selbst nicht, wenn er ausfallend wurde.

Veyron grinste noch immer, sagte nichts, saß nur mit geschlossenen Augen da. Es verging ein Moment ehe er antwortete und seine Züge wieder ernsthaft wurden.

»Eigentlich solltest du mir dankbar sein, ich habe dich aus einer misslichen Lage befreit. Du warst diesem Mädchen hoffnungslos verfallen, das konnte ich nicht länger zulassen. Nachdem ich herausgefunden hatte, wie es um ihre moralische Gesinnung steht, musste ich diese Beziehung beenden. Das war nicht weiter schwer, wenn man sich einmal mit Carl Groves beschäftigt und herausfindet wie vielen Leuten er unnötige Ersatzteile andreht. Oder all die Tachometer, die er manipuliert hat. Ganz zu schweigen von all den Frauen, die er zu Müttern machte. Der Mann ist ein gewissenloser Verführer. Seine Tochter hat dieses Talent von ihm geerbt, ebenso wie seine braune, leicht ins Gelbe gehende Augenfarbe, recht einzigartig in dieser Gegend. Dazu hat sie seine Wangenknochen und die Nase mitbekommen. Ich brauche keinen DNS-Test, um dir zu sagen, dass sie Carl Groves Tochter ist. Sie weiß es auch, ebenso wie ihre Mutter. Rücksichtslos lassen die beiden den armen Joshua Sutton im Unklaren. Ein armer, aber glücklicher Mann, der Frau und Tochter abgöttisch liebt. Darum bleibt er auch besser unwissend.

Woher weiß ich nun von Vanessa Suttons ausschweifendem Liebesleben? Ruf dir ihren Hals in Erinnerung. Da waren einige deutliche hypobare Sugillationen zu erkennen. Ich weiß, du nimmst an, du wärst der Verursacher, aber dem ist nicht so.«

Tom sackte die Kinnlade runter. »Hypo…wie? Von was zum Henker reden Sie da?«

»Von Knutschflecken, Tom, von Knutschflecken«, seufzte Veyron. »Sie hat sie mit Schminke unsichtbar zu machen versucht, doch meinen Augen entgeht nichts. Da waren zwei Flecken unterhalb des rechten Ohrs. Ihr Winkel deutet darauf hin, dass der Küssende fünfeinhalb Zentimeter größer gewesen sein muss, als du. Ein anderer Fleck am linken Halsansatz, kaum von ihrem Pullover verdeckt, verrät uns einen Liebhaber, der etwa vier Zentimeter kleiner ist als sie und außerdem breitere Lippen besitzt als du. Die Tatsache, dass Vanessa viel Zeit in der Werkstatt ihres leiblichen Vaters verbringt, aber nur wenig Zeit mit Daddy Groves, dass sie sich heimlich mit der Clique von Rodgers trifft, wenn sie nicht gerade mit dir durch die Straßen turtelt, lässt keine anderen Schlüsse zu: Der kleine Bob Saunders küsst sie in der Garage ihres Vaters, der hoch aufgeschossene Stevie dagegen in den Sträuchern des Parks. Nur sie konnten die jeweiligen Sugillationen verursachen, ihre Körpergrößen ergeben perfekte Übereinstimmungen.«

Tom dachte kurz über alles nach und kam zu einer erschreckenden Schlussfolgerung.

»Sie haben sie ausspioniert? Nicht zu fassen! Sie haben Vanessa ausspioniert! Geht’s Ihnen noch gut? Warum tun Sie so was, Mann?«, rief er voller Abscheu. Veyron war ja noch schlimmer als sonst, ein richtiges Ekel.

»Deine Mutter hat mich zu deinem Schutzbefohlenem ernannt. Ich habe vor, diese Aufgabe mit bestem Wissen und Gewissen und all meinem Können auszufüllen. Darum spioniere ich deine Freunde aus, wenn ich es für nötig halte. Ich kenne jeden deiner Mitschüler, alle deine Lehrer, ich weiß alles über deren Familien, Freunde und über ihre Haustiere und Lieblingshobbys. Das ist Teil meiner Verantwortung.«

»Pah! Sie sind ein echter Psycho! Wissen Sie was? Ich hau ab, mir reicht‘s! Noch heute Abend verschwinde ich, für immer!«

»Schon wieder leere Drohungen? Hatten wir das nicht schon zur Genüge?«

»Diesmal mach ich ernst!«

Veyron blickte Tom nachdenklich an, legte die Fingerspitzen aneinander und dachte über irgendetwas nach. Tom ballte die Fäuste, sein ganzer Körper bebte vor Zorn. Es gab so viel, das er Veyron an den Kopf werfen wollte. Jede Menge Beleidigungen und am liebsten auch ein paar der losen Gegenstände im Fernsehregal.

Gerade wollte er etwas sagen, als das Klingeln der Haustür ihn aus der Zornesstarre riss. Vielleicht war es Vanessa, die kam um sich zu entschuldigen?

Ohne auf Veyrons Reaktion zu warten, stürmte er zur Haustür und riss sie auf. Seine Aufregung schlug sofort in Enttäuschung und schließlich Überraschung um. Mehrere Leute standen vor der Tür: ein hagerer Priester mit schlohweißem Scheitel, ein rundlicher, gemütlich dreinschauender Inspektor von der Polizei und zwei uniformierte Constables. Unten auf der Straße standen zwei Dienstfahrzeuge. Tom seufzte enttäuscht. Vanessa hatte ihre Chance vertan. Was jetzt kommen würde, war Arbeit für Veyron – vielleicht auch ein wenig Ärger. Insgeheim hoffte er vor allem auf Letzteres.

Der Inspektor hob seine Dienstmarke und stellte sich als John Moore vor.

»Dürfen wir hereinkommen?«

Tom bedeutete den Herren einzutreten, doch nur der Inspektor und der Priester kamen ins Haus. Die Constables blieben draußen. Tom warf ihnen einen neugierigen Blick zu. Er erkannte, dass noch jemand in einem der Autos saß. Wegen der abgedunkelten Scheiben konnte er jedoch nicht mehr erkennen. Er schloss die Tür und brachte die beiden ins Wohnzimmer, wo Veyron Swift schon auf sie wartete. Er lümmelte immer noch im Sessel, hatte die Fingerspitzen aneinander gepresst und die Augen geschlossen.

»Kommen Sie herein, Gentlemen. Ich habe Sie bereits erwartet. Unser Telefonat heute Morgen verhieß ja eine spannende Geschichte. Also bitte, setzen Sie sich und schildern Sie mir Ihr Problem ohne Zögern, oder Zurückhaltung. Zeit ist kostbar und ich will so wenig wie möglich davon verlieren. Lassen Sie kein Detail aus, alles ist wichtig, selbst die allerkleinste Kleinigkeit«, begrüßte er seine Gäste, indem er auf die gegenüberliegende Couch deutete.

Die Federn quietschten, als die beiden Männer in die plüschigen Polster einsanken. Sie legten offenbar Wert darauf, möglichst großen Abstand zu Veyron zu wahren. Zumindest schlussfolgerte Tom das aus dem Zucken ihrer Nasenflügel.

»Ich bin Inspektor Moore, das ist Pater Thomas Felton, wir kommen in einer sehr… nun, in einer vielleicht etwas seltsamen… eigentlich ist es mir schon fast peinlich, aber mein Kollege, Bill Gregson… er meinte, ich solle mich an Sie wenden. Er kennt Sie recht gut… hat ja schon ein paar Mal mit Ihnen zusammengearbeitet und deshalb …«, stammelte der Inspektor herum. Er machte einen verlegenen, fast schon beschämten Eindruck. In Pater Feltons Gesicht konnte man ähnliche Empfindungen lesen. Tom spürte förmlich, wie unangenehm ihnen das alles war. Schließlich traf ihn der Blick aus den kleinen runden Augen des Inspektors.

»Vielleicht sollte der Junge lieber rausgehen«, meinte Moore.

Veyron riss die Augen auf und lehnte das mit kraftvoller und entschiedener Stimme ab.

»Tom Packard ist mein persönlicher Assistent. Sie können vor ihm so frei reden wie vor mir, sofern Sie überhaupt dazu in der Lage sind, Mr. Moore. Falls ja, würde ich es sehr begrüßen, wenn Sie mir endlich erzählen, was Sie hierher geführt hat.«

Moore atmete kurz tief durch, und warf einen forschenden Blick durch die altmodische Wohnzimmereinrichtung, dann begann er, von Neuem zu erzählen.

»Also, Gregson und ich, wir sind alte Freunde. Wir haben uns auf einem Fortbildungskurs kennengelernt. Ich hatte mal mit der Überlegung gespielt, zum CID zu wechseln, aber es dann doch sein lassen. Die harten Sachen, die sind nichts für mich. Ständig Mord und überall Leichen. Mir reichen die kleinen Einbrüche, die Ehedramen und die verwahrlosten Kinder zur Genüge. Aber dieser eine Fall, nun, der lässt mich einfach nicht mehr los. So etwas Ergreifendes und zugleich Bedrückendes habe ich noch nie erlebt. Ich meine, ich bin vollkommen hilflos. Wir, das heißt der Pater und ich, wir wissen uns einfach keinen Rat mehr. Natürlich wäre eine Nervenklinik eine Möglichkeit, aber das würde mir das Herz zerreißen. Dieses arme Mädchen, vermutlich von irgendeiner Anstalt geflohen. Jetzt weiß sie nicht mehr, wie sie zurückkehren soll. Sie hat überhaupt keine Ahnung wo sie ist, oder woher sie kam. Sie wartet unten im Wagen. Pater Felton kümmert sich um sie, darum habe ich ihn mitgebracht.«

Veyron schnaubte ungehalten und brachte Moore mit einer Geste zum Schweigen.

»Hören Sie mit diesem zusammenhangslosen Gequatsche auf, Moore! Erstatten Sie mir einen präzisen Bericht, bitte ohne Sentimentalitäten, wie Sie es gegenüber Ihrem Chefinspektor auch täten.«

Tom biss sich auf die Lippe. Es war Moore anzusehen, dass er die Zurechtweisungen Veyrons nicht mehr lange hinnehmen würde.

»Wie Sie meinen«, entgegnete der Inspektor, jetzt schon deutlich unfreundlicher im Ton. Pater Felton rutschte verlegen von einer Gesäßhälfte auf die andere.

»Vor zwei Wochen wurde eine junge Frau ins örtliche Krankenhaus gebracht. Es war draußen auf der Smalton Road, bei Congleton, wo diese durch ein Waldstück führt. Die junge Frau, sie nennt sich Julia - vermutlich osteuropäisch, so wie sie ihren Namen ausspricht – Iulia – ist aus diesem Wald aufgetaucht und einfach auf die Straße gerannt. Das war mitten in der Nacht, so gegen elf Uhr. Unglücklicher Weise war zum gleichen Zeitpunkt Roger Wetherlay mit seinem Auto unterwegs. Er hat sie noch rechtzeitig gesehen und eine Vollbremsung hingelegt, aber sie dennoch erwischt und sich eine Beule im Kotflügel eingefangen. Sie hat kurz nach dem Zusammenstoß das Bewusstsein verloren. Nachdem Wetherlay sofort den Rettungsdienst und die Polizei alarmiert hatte, wurde die junge Frau ins örtliche Krankenhaus gebracht und behandelt. Zum Glück nur ein paar Prellungen, nichts Ernstes«, berichtete Moore, nicht zur Gänze Veyrons Bitte entsprechend. Er wischte sich mit einem Taschentuch die schweißglänzende Stirn ab und fuhr dann fort.

»Wetherlay war vorbildlich langsam unterwegs, hat in allen Belangen richtig reagiert und die Unfallstelle ist aufgrund des dichten Strauchbewuchses am Straßenrand auch sehr unübersichtlich. Zudem war er sehr rührig und ehrlich betroffen. Es gibt für mich keinen Grund, gegen den armen Mann Anzeige zu erstatten.«

Veyron zuckte nur mit den Schultern. »Das ist alles ziemlich uninteressant und belanglos«, sagte er. »Warum sind Sie nun eigentlich hier? Der Weg von Congleton nach London ist ja kein Katzensprung und die Preise im Starrington Panorama Hotel sind nicht gerade billig.«

Moore schnappte überrascht nach Luft. »Wie können Sie wissen, dass wir dort unsere Zimmer haben?«, fragte er.

Veyron gestattete sich für einen Sekundenbruchteil ein triumphierendes Lächeln. »Ihr Taschentuch ist mit dem Logo der Starrington Panorama-Kette bedruckt. Da Sie durchgehend schwitzen – selbst jetzt – liegt es auf der Hand, dass Sie einen enormen Taschentuschverschleiß haben. Folglich kann das aktuelle Tuch nur aus dem Starrington Panorama London kommen, da es nirgendwo zwischen London und Edinburgh ein anderes Starrington Panorama gibt. Sie haben Ihren letzten Urlaub, der erst kurz zurückliegt, allerdings nicht in Schottland verbracht, sondern im Süden, Spanien oder Portugal würde ich sagen. Das erkenne ich an der Bräunung Ihrer Haut, besonders stark im Gesicht und im Nacken. Folglich bleibt nur das Hotel in London übrig.«

Moore warf einen fast schon schockierten Blick auf das Taschentuch und steckte es rasch in die Hosentasche. Er brauchte einen Moment, um den Faden wieder aufzunehmen.

»Das ist ja erstaunlich, nein wirklich. Echt erstaunlich. Nun ja, der Fall ist eigentlich dieser: Die junge Frau redet nur wirres Zeug. Sie fantasiert die ganze Zeit. Offenbar liegt dem ein schweres Trauma zugrunde. Darum hat das Krankenhaus Pater Felton hinzugezogen. Er arbeitet dort als Seelsorger.«

Nun ergriff der weißhaarige Pater das Wort.

»Auch ich konnte der jungen Frau nicht weiterhelfen. Wir wissen nicht, woher sie kommt. Sie ist furchtbar aufgeregt, hat fast vor allem Angst, selbst vor Straßenlaternen oder Fahrrädern. Sie hat sich vor den Ärzten auf den Boden geworfen, als wären sie der leibhaftige Messias. Auf der Straße hält sie sich die Ohren zu, im Krankenhausgebäude versteckt sie sich unter dem Bett, wenn ein Flugzeug über uns hinwegfliegt. Ich fürchte, sie hat den Verstand verloren. Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als sie in eine Anstalt zu bringen, wo man ihr helfen …«

»Kein einziges Irrenhaus in Großbritannien vermisst eine Frau, auf die ihre Beschreibung passt, es liegt nirgendwo eine Vermisstenanzeige vor, sie taucht auf keiner Fahndungsliste auf«, schaltete sich Moore wieder ein und würgte damit die Worte des Paters ab, der ihn daraufhin mit einem vorwurfsvollen Blick strafte.

»Deswegen hatte ich mit Gregson telefoniert. Sie wissen ja, die meisten Irren kommen aus Berlin oder Paris. Vielleicht war sie Opfer einer Entführung, ein Mädchenhandel vielleicht. Gregson weiß über solche Dinge eigentlich immer Bescheid. Ihr in London seid näher am Puls der Welt als wir oben in Congleton. Natürlich wollte Gregson mehr über den Fall erfahren, also schilderte ich ihm alles und …«

Nun gab der Pater das Kompliment zurück und fiel dem Inspektor ins Wort.

»Es gibt ein paar auffällige Wörter, welche unsere arme Miss ständig wiederholt: Simanui und Maresia. Sie sagt das immer wieder. Sie kommt aus Maresia und muss zu den Simanui«, versuchte er sein altes Thema wieder aufzugreifen.

Moore räusperte sich und musterte den Geistlichen scharf.

»Ist ja gut, Pater«, raunte er ungehalten. Er wandte sich wieder Veyron zu, der nicht nun nicht länger gelangweilt im Sessel lümmelte, sondern aufrecht und voller Anspannung dasaß. Tom erkannte, dass Veyrons Gehirn gerade zu Höchstleistungen warmlief.

»Als Gregson das hörte, schlug er vor, dass ich mich mit Ihnen treffen soll. Sie könnten mir weiterhelfen. Also, wie sehen Sie die Lage? Glauben Sie, Sie können dieses Mysterium aufklären?«, endete Moore und warf dem Monster-Ermittler einen ratlosen Blick zu.

Veyron legte die Fingerspitzen aneinander und schloss kurz die Augen. Blitzartig sprang er aus dem Sessel und begann hastig im Wohnzimmer auf und ab zu gehen.

»Zwei Wochen! Da haben Sie tatsächlich ganze zwei Wochen vertrödelt, ehe Sie zu mir kamen? Du liebe Zeit, nur selten habe ich solche Nachlässigkeit erlebt«, hielt er den beiden Herren in strengem Tonfall vor.

»Ich nehme an, die Lady befindet sich in Ihrer Begleitung? Lassen Sie sie bitte hereinrufen. Ich muss mich mit ihr unterhalten. Dann werde ich Ihnen sagen, woher sie kommt und wer sie ist.«

Moore zückte ein Funkgerät und gab den beiden Constables Anweisungen durch. Nur kurze Zeit später klingelte es erneut an der Haustür. Tom eilte los. Sein Zorn auf Veyron war für den Moment verraucht. Die Aussicht, wieder in ein spannendes Abenteuer gezogen zu werden, ließ ihn vor Aufregung und Freude fast in die Luft springen. Er eilte den Flur hinunter, öffnete die Haustür und ließ die beiden Constables eintreten. In ihrer Begleitung befand sich eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig, relativ schlank und wie Tom fand, auch recht hübsch. Sie hatte eine auffallend helle Haut trotz ihrer südländischen Herkunft. Zumindest ließen ihn das ihre dunklen Augen und das ebenso dunkle Haar vermuten. Sie trug es in einer altmodisch wirkenden Frisur aus winzigen Locken, am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Ihr Blick wirkte jedoch sehr verstört. Sie zuckte zusammen, als die Constables sie ins Haus schoben. Tom hatte sofort Mitleid mit ihr und begann, sich zu fragen, was für schreckliche Erlebnisse die arme Frau plagten. Hoffentlich konnte Veyron ihr helfen.

Er führte die Polizisten und die Frau ins Wohnzimmer und bedeutete ihnen, auf der Couch Platz zu nehmen. Aber die Constables bevorzugten es zu stehen. Sie nahmen Positionen am Fenster und an der Tür ein. Fürchteten sie etwa, die junge Frau könnte fliehen? Tom verstand dieses Misstrauen nicht. Ratlos, was sie tun sollte und was man mit ihr vorhatte, setzte sich die Frau auf das Sofa. Sie erschrak, als ein paar alte Federn in der Sitzauflage quietschten.

Veyron Swift wirbelte zu ihr herum, als hätte ihn eine Wespe gestochen und musterte sie einen Moment eingehend. Dann wandte er sich an Pater Felton und Inspektor Moore.

»Was haben Sie in den vergangenen zwei Wochen mit der jungen Miss gemacht«, fragte er. Seine Stimme klang kalt und emotionslos, nur auf Wissen aus und enthielt keinerlei Anschuldigung.

»Nach dem Unfall blieb sie zunächst ein paar Tage im Krankenhaus, in der geschlossenen Abteilung und unter Bewachung. Ein paar Mal hat sie versucht zu fliehen, kam aber nicht weit. Draußen auf der Straße ist sie sofort wieder umgekehrt und ins Krankenhaus zurückgerannt. Der Verkehr machte ihr noch größere Angst, als Spritzen und Bandagen. Man hat sie mit Beruhigungsmitteln versorgt und ich habe zwei erfahrene Constables abgestellt, falls sie wieder zu fliehen versuchte. Ich werde sie einweisen lassen müssen, wenn wir nicht bald mehr über sie erfahren«, erklärte Moore.

»Sie behauptet, eine Art Prinzessin zu sein, die Tochter eines Cäsars, eine Nobilissima. Ich fürchte, um ihren Verstand ist es geschehen, vielleicht wegen des Unfalls. So was soll es doch durchaus geben«, mischte sich Felton wieder ein.

Veyron brachte beide Männer mit einem Handzeichen zum Schweigen.

»Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Gentlemen«, sagte er. »Ihre Annahmen sind zutreffend – von Ihrem Standpunkt aus. Natürlich standen Ihnen nicht die Informationen zur Verfügung, über die ich verfüge. Anderenfalls hätten Sie beide Ihren Fehler sofort begriffen und erst gar nicht der Suggestion Inspektor Gregsons bedurft, um den Weg zu mir zu finden. Nun lassen Sie mich die Identität unseres Schützlings lüften.«

Er trat vor Iulia und verbeugte sich knapp. »Ich würde gerne einen Blick auf Eure Füße und Hände werfen, wenn Ihr es gestattet. Habt keine Angst, diese Untersuchung dient nur zu Demonstrationszwecken.«

Die junge Frau rümpfte die Nase, weil Veyron so nahe vor ihr stand, aber sie nickte dennoch.

»Ita«, sagte sie.

»Das ist Latein und heißt ja«, glaubte Felton kundtun zu müssen. »Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, dass sie lateinisch spricht, wenn sie schimpft oder betet, was sie oft tut. Sie bittet immer wieder Jupiter und Minerva um Beistand, vollkommen lächerlich. Ansonsten spricht sie ein sehr gutes Englisch, wenngleich mit einem Akzent, vielleicht südländischer Herkunft.«

Veyron bückte sich, nahm ihr rechtes Bein in seine Hände, schob die Hose zurück und schnüffelte an der glatten Haut auf. Er wiederholte das an ihren Händen und Unterarmen. Jeder konnte es hören. Tom war das oberpeinlich, wie auch allen anderen Anwesenden. Veyron trat zurück, erhob sich wieder und bedankte sich mit einem ehrfurchtsvollen Nicken bei der jungen Frau. Mit einem triumphierenden Lächeln wandte er sich wieder seinen anderen Gästen zu.

»Ganz eindeutig. Die junge Frau ist eine echte Prinzessin«, schlussfolgerte er.

Moore und Felton sprangen zugleich auf und protestierten.

»Das ist lächerlich! Woher wollen Sie so was wissen?«

Veyron seufzte. Er setzte sich wieder in seinen alten Ohrensessel und warf den beiden Gentlemen vorwurfsvolle Blicke zu. Etwas beschämt ob ihres Ausbruchs, setzten sie sich wieder.

»Sie übersehen die Fakten, Inspektor, Sie ebenso, mein lieber Pater. Zunächst einmal sind da ihre Hände. Perfekt manikürte Fingernägel, die Handflächen weich, keine Narben, fast keine Hornhaut, keine Schwielen. Diese Hände tun nicht viel, es sind keine Arbeiterhände. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass unsere Klientin seit ihrer Jugend noch nie viel arbeiten musste. Außerdem hat sie zahlreiche helle Stellen an den Fingern, die auf das Tragen von Ringen hindeuten, großen und teuren Ringen. Sie stammt also aus bestem Hause, wurde seit jeher mit Schmuck verwöhnt, den sie gewohnt ist, ständig zu tragen. Wo ist der Schmuck abgeblieben?«

»Sie trug keinen Schmuck, als sie gefunden wurde«, ergänzte Moore.

Veyron nickte.

»Also hat sie ihn abgenommen, um ihre Identität zu verschleiern. Anhand des Schmucks hätte man sie ansonsten zu leicht identifizieren können. Das deutet nicht nur auf Kostbarkeiten hin, sondern auch auf Siegel- und Zeremonienringe. Sie muss also eine Person von herausragender Stellung sein – da wo sie herkommt, versteht sich.

Nun zu ihren Füßen. Dasselbe wie an den Händen. Sehr weiche Sohlen, kaum Hornhaut, manikürte Zehennägel. Ihre Füße tragen für gewöhnlich weiche Schuhe und Sandalen, keine engen Stiefel, auch keine Turnschuhe. Ihre Beine sind schlank, die Muskulatur weich. Sie betreibt also nur wenig Sport und überhaupt bewegt sie sich nicht allzu viel. Sie ist Reiterin; seit Kindheitstagen. Das verrät mir die O-Formung ihrer Beine, aber keine Sport- oder Jagdreiterin, wegen der etwas schwachen Muskulatur. Also benutzt sie ihr Pferd nur gelegentlich als Reisemittel, um von A nach B zu kommen. Diesen Luxus können sich nur Personen in gehobener Stellung leisten.

Zuletzt noch eine Analyse ihrer Haut. Sie ist sehr weich und sauber. Obwohl das meiste inzwischen abgewaschen wurde, konnte ich noch leichte Spuren von Honig und verschiedenen Duftölen ausmachen, die bei uns absolut unüblich sind. Auch das ein eigentlich unübersehbarer Hinweis darauf, dass Lady Iulia aus allerbestem Hause kommt. Sie ist eine Prinzessin, normalerweise von einer ganzen Schar Diener umschwärmt, die ihr alle Lasten abnehmen.

Ach ja, ich hatte Maresia vergessen. Nun, dieses Land können Sie gar nicht kennen, Pater. Es ist auf keiner Landkarte zu finden und auch in keinem Lexikon. Das Imperium Maresium liegt nämlich in Elderwelt.«

Moore und Felton sahen sich ratlos an. Ihren Mienen nach zu urteilen, waren sie sich darüber einig, dass Veyron sie zum Narren hielt. Moore sprach es auch aus.

Veyron zischte ungehalten und drückte mit den Fingern seine Augenlider zu.

»Halten Sie Inspektor Gregson für einen Idioten?«, fragte er Moore unwirsch.

»Natürlich nicht! Bill ist ein guter Mann. Der weiß, was er tut.«

»Halten Sie sich selbst für einen Idioten?«

»Jetzt werden Sie aber unverschämt!«

»Ja oder nein?«, Veyrons Strenge duldete kein Widerwort.

»Nein, natürlich nicht«, grummelte Moore.

»Wenn also Gregson kein Idiot ist und Sie auch nicht, wieso denken Sie dann, er hätte Sie zu einem Idioten geschickt?«

Moore schnappte nach Luft, doch er wusste nichts, was er darauf antworten könnte. Veyron sprang zornig aus seinem Sessel und marschierte mit forschem Schritt durchs Wohnzimmer.

»Gentlemen, ich muss Sie bitten, mir vollkommen zu vertrauen. Elderwelt ist ein Reich, das für die Augen der Menschen unsichtbar ist. Dennoch existiert es und ist keine Fantasie. Ich bin selbst schon dort gewesen und Tom ebenso. Wenn Sie immer noch Zweifel haben, rufen Sie Inspektor Gregson an und fragen sie ihn. Er wird es bestätigen.«

Moore und Felton waren ganz kleinlaut geworden. Tom empfand eine gewisse Genugtuung, denn natürlich sprach sein Pate die Wahrheit.

Veyron hatte sich inzwischen wieder Iulia zugewandt und überließ die beiden Gentlemen ihren eigenen Gedanken.

»Prinzessin, entschuldigt, dass ich mich erst jetzt vorstelle. Ich bin Veyron Swift, Berater für ungewöhnliche Fälle. Ich bin ein Freund der Elbenkönigin Girian und ebenso des Zaubererordens der Simanui. Ihr müsst mir erzählen, was Euch hierher gebracht hat und warum Ihr die Simanui so verzweifelt sucht.«

Veyron setzte sich wieder in seinen Sessel.

Prinzessin Iulia, offenbar überglücklich, dass ihr endlich jemand Glauben schenkte, begann vor Freude fast zu weinen. Mit einem Schlag wich alle Verzweiflung aus ihrem Gesicht. Sie fiel auf die Knie und dankte den Göttern, dass ihre Gebete endlich erhört wurden. Die Polizisten und der Priester sahen sich nur überrascht an. Veyron lächelte vielsagend, Tom dagegen vor Erleichterung. Es brauchte ein paar Augenblicke, ehe Iulia sich wieder fasste, hinsetzte und mit ihrer Geschichte begann.

Veyron Swift und der Orden der Medusa

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