Читать книгу Veyron Swift und der Orden der Medusa - Tobias Fischer - Страница 5

3. Kapitel: Flucht aus London

Оглавление

Die Haustür war kaum ins Schloss gefallen, als Veyron Swift regelrecht in hektischer Aktivität explodierte. Er sprang mit einem gewaltigen Satz über die Couch, nahm sich ein Buch aus dem nächsten Regal und blätterte es durch. Dabei huschte er mit rasenden Schritten von einem Ende des Wohnzimmers zum Anderen. Plötzlich stieß er einen lauten Jubelschrei aus und warf Tom das Buch zu.

»Ein perfektes Match, Tom! Absolut perfekt! Wir haben einen neuen Fall, mein Lieber. Endlich ist sie um, die Zeit der Lethargie und Langeweile.«

Tom fing das Buch überrascht auf, blickte auf den Einband. Tacitus – Annalen, klassische Literatur. Englisch/Latein. Eindeutig nicht sein Fall.

»Ich versteh nicht, was das mit diesem alten Wälzer zu tun hat«, gestand er mit einem Schulterzucken und legte das Buch auf den Tisch. Veyron machte eine flehende Geste zur Zimmerdecke.

»Weißt du denn gar nichts von der Welt? Tacitus ist der Schlüssel! Seine Geschichte über die frühen Cäsaren. Tiberius, Claudius und Nero. Wir haben ein perfektes Match. Jemand in Elderwelt benutzt Tacitus als Anleitung um die hiesige Cäsarenfamilie auszulöschen, verstehst du das denn nicht?«

»Nein.«

Veyron drückte sich mit einem Seufzen die Augenlider mit den Fingern zu, seine übliche Geste, wenn er sich über die scheinbare Begriffsstutzigkeit seiner Gesprächspartner ärgerte.

»Vergiss es wieder, glaub mir einfach, dass es genauso ist. Wir sind wieder im Spiel und haben einen neuen Fall! Das wird die herbe Enttäuschung unseres letzten Abenteuers aufwiegen«, sagte er.

Tom erinnerte sich sofort wieder an diese Tommerberry-Sache, ein richtiger Flop. Die Leiche eines Buchhändlers war spurlos verschwunden, vor den Augen der Polizei. Veyron konnte jedoch blitzschnell die Wahrheit herausfinden: Der alte Tommerberry hatte seinen Tod lediglich fingiert. Nicht Magisches, keine Zauberei, keine Unwesen. Veyron war so demoralisiert gewesen, dass er sich tagelang in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und nichts anderes getan hatte, als aus dem Fenster zu starren.

Nun schien diese depressive Phase endlich ein Ende zu haben. Lebendig wie eh und je, jagte Veyron hinauf in sein kleines Arbeitszimmer, begann in seinen Akten und Papierstapeln zu wühlen. Tom folgte ihm, denn er wollte natürlich wissen, was sein Pate als nächstes plante.

Über der Eingangstür hing das einzige Mitbringsel ihres ersten Besuchs in Elderwelt: das Daring-Schwert, festgehalten von ein paar krummen Nägeln. Tom staunte jedes Mal, wenn er die elegante Waffe sah. Es war ein Rapier, mit einem sehr kunstvoll gestalten Korb, die lange, schmale Klinge mit einem Muster aus blauen Juwelen beschlagen. Tom erinnerte sich noch genau, wie ihnen dieses Schwert einige Male wertvolle Dienste geleistet hatte. Es war eine Zauberwaffe, mit vielen erstaunlichen Fähigkeiten. Es konnte sich in Nichts auflösen, wenn man es nicht brauchte und rief man den Geist an, der in dieser Waffe steckte, so erschien sie ebenso wie aus dem Nichts. Zudem war sie federleicht und scharf wie geschliffene Diamanten. Er seufzte, als er daran dachte.

»Werden wir Elderwelt wieder besuchen? Ich würde gerne dorthin zurückkehren«, sagte er.

Veyron hielt inne. Er sah Tom für einen Moment streng an, nur um letztlich den Kopf zu schütteln.

»Im Moment wird das nicht notwendig sein. Meine Mission besteht eigentlich nur darin, diese Prinzessin heil nach Elderwelt zurückzuschicken, dafür muss ich nicht extra dorthin reisen. Iulia Livia ist ein Störfaktor und eine Schwachstelle, die ich abstellen muss, um mich dann dem wahren Problem ungestört widmen zu können«, erklärte er.

»Ein Störfaktor, eine Schwachstelle? Geht’s noch? Diese Frau hat ihr Leben riskiert um hierher zu kommen und Sie wollen sie einfach loswerden?«

Tom war entrüstet, stemmte sich die Fäuste in die Hüften. Beindrucken konnte er Veyron damit allerdings nicht.

»Kurz gesagt: ja. Das eigentliche Problem ist ganz ein anderes. Ich bin an einer gefährlichen Sache dran. Zunächst hielt ich sie für trivial, aber nun weiß ich, dass dem nicht so ist. Medusa-Morde, Tom! Versteinerte Mordopfer, das hat man nicht alle Tage. Auf so einen Fall warte ich schon seit neun Jahren.«

»Das ist ja wieder einmal typisch! Sie interessieren sich lieber für versteinerte Leichen, als für Menschen, die in Not geraten sind!«

Veyron schaute Tom voller Verständnislosigkeit an.

»Was sonst sollte mich an diesem Fall interessieren?«

»Die betroffenen Menschen zum Beispiel? Die arme Iulia, die von Fenrissen verfolgt wurde? Oder was ist mit den beiden Brüdern, die in diesem Gefängnis verhungern müssen? Aber Ihnen sind die Belange Ihrer Mitmenschen vollkommen egal. Ich erinnere Sie an Weihnachten, wo wir oben in Schottland im Schnee standen und irgendwelchen Trollen nachgespürt haben, Trolle die es gar nicht gab!«

Veyron verdrehte die Augen und winkte ab. »Das war in der Tat ein vollkommener Reinfall. Wenigstens haben wir was gelernt: Vertraue niemals deiner Urteilskraft wenn du verzweifelt einen Fall suchst.«

»Meinen Geburtstag haben Sie auch vergessen!«

Veyron zeigte sich nun regelrecht erstaunt, als er diesen Vorwurf an den Kopf geschleudert bekam. Er blinzelte überrascht und betrachtete Tom voller Skepsis.

»Wann hättest du Geburtstag gehabt?«

»Am Dritten Januar!«

Veyron zuckte mit den Schultern. »Na, so wichtig kann der nicht gewesen sein. Ansonsten hätte mich sicher jemand daran erinnert.«

Jetzt platzte Tom endgültig der Kragen. Er spürte wie sein Gesicht blutrot anlief, er musste die Fäuste ballen, um nicht einfach auf diesen Mann loszugehen.

»Nicht wichtig? Ich bin fünfzehn geworden! Und wissen Sie was? Sechzehn werde ich auch noch, aber bestimmt nicht in diesem Haus! Ich hau ab! Jetzt sofort! Sie sind ein Unmensch, hier bleib ich keine weitere Nacht!«

Er stampfte die Treppen hinauf in sein Dachbodenzimmer. Es war groß und geräumig. Das einzige, riesige Fenster bot einen Überblick über die halbe Nachbarschaft. Schnell stopfte er ein paar Sachen in seinen Rucksack und eilte wieder nach unten. Ohne sich zu verabschieden, nahm er den direktesten Weg zur Haustür. Veyron war weit und breit nicht zu sehen. Dafür erklang das angenehme Rauschen der Dusche. Sein Pate tat einfach so, als wäre alles ganz normal! Toms Wut steigerte sich noch weiter. Er ließ die Tür extra laut ins Schloss fallen, sprang die Stufen zum Gartentor hinunter und stürmte hinaus auf die Straße.

Sein Zorn war immer noch heiß, als er die Wisteria Road entlang eilte. Erst acht Straßenlaternen später gelang es ihm, sich halbwegs zu beruhigen.

Dieser elende, herzlose, grausame Mistkerl! Warum musste ich ausgerechnet bei ihm landen? Konnten meine Eltern nicht einen netteren Menschen als Paten aussuchen? Warum um alles in der Welt ausgerechnet er? ging es ihm durch den Kopf. Er war wild entschlossen diesmal nicht so schnell nachhause zurückzukehren, jedenfalls nicht mehr diese Woche. Nur: wo sollte er bis dahin unterkommen? Tom hatte ein paar Freunde an der Schule, aber deren Eltern würden es sicher nicht erlauben, dass er bei denen länger als eine Nacht untertauchte. Er konnte ja schlecht jeden Tag aufs Neue umziehen. Jane wäre dann noch eine Möglichkeit.

Jane Willkins war Polizistin, sie hatte sich um ihn gekümmert, nachdem ihn seine Tante damals allein zurückgelassen hatte. Jane war eine echte Freundin und das Beste: sie konnte Veyron auch nicht besonders gut leiden. Zu ihr war Veyron auch jedes Mal recht gemein, wenn sie miteinander zu tun hatten. Darum also zu Jane.

Tom ging bis zur nächsten Bushaltestelle und wartete. Dabei fiel ihm ein Mann auf, der ganz in der Nähe an einem Laternenpfahl lehnte und telefonierte. Immer wieder schaute der Herr zu ihm herüber. Als Tom den Blick erwiderte, drehte sich der Mann um und sprach leise in sein Telefon. Das kam ihm seltsam vor, ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Mit diesem Kerl war irgendetwas nicht in Ordnung, das sagte ihm seine Intuition.

»Sei nicht albern«, ermahnte er sich, »was sollte irgendwer von dir wollen, Tom Packard? Wahrscheinlich ist es einfach nur ein Spinner.« Trotzdem wollte er die Augen offenhalten.

Mit einem typisch knallroten Londoner Stadtbus ging es zur nächsten Underground-Station. Einige Haltestellen später war er endlich in Ealing. Den komischen Kerl hatte er im Bus nicht abschütteln können und auch in der Tube nicht. Er stieg sogar in den nächsten Bus ein, der Tom in die Reigate Street brachte. Wurde er tatsächlich verfolgt? Das Verhalten dieses Mannes kam ihm jedenfalls sehr verdächtig vor. Die Geschichte der Prinzessin kam ihm wieder in den Sinn, wie sie tagelang von Medusa verfolgt wurde. Erging es ihm hier ähnlich? Hatten Iulias Feinde sie etwa auch bis nach London verfolgt? Vielleicht war es aber auch irgendein verrückter Stalker. Als sein neuer Schatten diesmal jedoch nicht ausstieg sondern weiterfuhr, verflüchtigten sich Toms Sorgen wieder.

»Offenbar werde ich langsam paranoid. Es leben acht Millionen Menschen in der Stadt und der Typ war ja nicht der Einzige, der mit dem gleichen Bus und der Tube gefahren ist«, sagte er sich.

Jane Willkins Wohnung lag im vierten Stock von 270b Reigate Street, einem schmucklosen Wohnturm aus den Siebzigern. Dort lebte sie mit ihrem aktuellen Freund, Alex Finchley. Tom kannte ihn nicht besonders gut, denn er arbeitete sehr viel, war nur wenig zu Hause. Die Wahrscheinlichkeit lag daher hoch, dass er Jane allein antraf. Sie würde bestimmt nichts dagegen haben, wenn er übers Wochenende bei ihr blieb.

Er trat zur Eingangstür, klingelte. Es verging ungewöhnlich viel Zeit, ehe sich Janes helle Stimme an der Sprechanlage meldete.

»Ja?«

»Ich bin’s, Tom. Kann ich reinkommen?«

»Tom! Warum … ach, egal. Komm rauf.«

Die Haustür summte und Tom drückte sie auf. Das Treppenhaus war stockfinster, nur zögerlich sprangen die Bewegungsmelder an, eine Lampe nach der anderen begann zu glühen. Es roch nach Putzmittel und altem Schimmel.

Tom nahm den Lift, eine Klaustrophobie hervorrufende, enge Kabine mit billiger Holzimitat-Vertäfelung. Sie ruckelte fürchterlich und er war heilfroh, als er endlich oben ankam.

Jane stand in der offenen Wohnungstür, nur in einen Bademantel gewickelt. Ihre dunklen Haare waren noch feucht und sie hatte sie hochgesteckt. Offenbar kam sie gerade aus der Dusche.

Ein atemberaubender Anblick, wie es Tom durch den Kopf schoss. Jane war von bewundernswerter Schönheit, obwohl sie ziemlich genau doppelt so alt war wie er. Ihre großen, dunklen Augen musterten ihn skeptisch.

»Was machst du denn hier? Es wird gleich dunkel, solltest du nicht längst zu Hause sein?«, begrüßte sie ihn und bat ihn, in die Wohnung zu kommen.

»Ich hab Stress mit Veyron«, lautete seine knappe Antwort. Er schlüpfte an ihr vorbei, ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die alte Couch fallen. Sie war so durchgesessen, dass er hart auf dem Gestell aufschlug. Den kurzen Schmerz ignorierte er, verfluchte das alte Ding jedoch heimlich.

»Ist Alex nicht da?«

»Er musste übers Wochenende auf ein Seminar, rüber auf den Kontinent. Mainz, glaube ich. Du weißt ja, er arbeitet fürs Fernsehen.«

»Als Kabeltechniker. Ist er auf einem Kabelkongress?«, warf Tom sofort ein.

Jane presste die Lippen zusammen, ihr Blick verriet ihm, dass es um ihre Beziehung nicht zum Besten stand.

»Tut mir leid, ich wollte nicht fies sein«, entschuldigte er sich sofort.

Jane winkte ab und ließ ihn wissen, dass er sich in der Küche was zum Trinken holen konnte. Sie wollte sich nur noch schnell was anziehen und schon verschwand sie im Schlafzimmer.

Wenig später kam sie zurück, in Jeans und weißer Bluse und setzte sich zu ihm. Natürlich hatte er sich nichts zum Trinken geholt, sondern die ganze Zeit einfach nur die Decke angestarrt. Sie war total vergilbt.

»Du musst wirklich mit dem Rauchen aufhören. Wir müssen das Zimmer ja schon wieder streichen«, meinte er seufzend. Erst im Frühjahr hatte er bei der Renovierung geholfen.

Jane lachte und schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich glaub, ich würde im Moment ohne Zigaretten sterben. Sie helfen mir, mich zu beruhigen, wenn ich mich aufregen muss – und das muss ich oft. Nicht nur wegen Alex, sondern auch im Job. Irgendwie wird mir momentan alles ein bisschen zu viel. Also, was ist schon wieder zwischen euch vorgefallen? Ich dachte, dir gefällt’s bei ihm.«

»Naja, schon. Wir kommen eigentlich prima aus, aber seit einiger Zeit ist er richtig durchgeknallt. Er sperrt sich laufend in sein Zimmer ein, oder stellt irgendwelche verrückten Sachen an. Er hat Fliegen gezüchtet, weißt du? Ganze Fliegenschwärme, aus purer Langeweile. Stubenfliegen, Schmeißfliegen, und diese richtig großen, ekligen Fleischfliegen. Er war davon besessen das Summen der verschiedenen Arten voneinander unterscheiden zu können. Mrs. Fuller und ich haben ganze zwei Wochen gebraucht, diese Plage wieder loszuwerden.

Dann hat er angefangen sich nicht mehr zu waschen. Mann, er riecht wie ein Stinktier! Jetzt hat er auch noch meine Freundin bloßgestellt. Die wird nie wieder ein Wort mit mir reden! Er ist so gehässig wie nie zuvor, ein richtiger Arsch, ich hasse ihn!«

»Und, wer ist die Glückliche?«

Tom wurde ein wenig rot vor Scham. Vielleicht hätte er das besser nicht erzählen sollen. Als er Jane damals kennenlernte, war er ein klein wenig in sie verliebt gewesen. Inzwischen war er zwar über diese Phase hinweg, aber irgendwie war es ihm unangenehm, mit ihr über solche Sachen zu reden.

»Vanessa Sutton – aber das ist schon wieder aus. Sie war ein echtes Miststück. Stell dir vor: sie ist zur gleichen Zeit noch mit zwei anderen Jungs gegangen.«

Jane lachte. »Wow, das ging aber schnell. Woher willst du das wissen?«

»Veyron hat’s herausgefunden. Er spioniert mir hinterher. Ich sagte dir ja, dass er vollkommen durchgeknallt ist. Ich halt’s einfach nicht mehr aus. Dich stört’s doch nicht, wenn ich ein paar Nächte hierbleibe, oder? Nur übers Wochenende? Vielleicht kommt er ja dann zur Besinnung.«

Jane wollte gerade etwas erwidern, als es plötzlich an der Wohnungstür klopfte. Die beiden sahen sich verdutzt an. Warum klingelte der Jemand nicht? Jane stand auf, ging zur Tür, öffnete sie jedoch nicht.

»Wer ist da? Wozu gibt es Klingeln?«

»Tut mir leid, aber draußen ist es stockfinster, ich kann den Knopf nicht finden. Sie können ruhig aufmachen, Willkins. Ich bin’s, Swift.«

Jane öffnete die Tür. Tatsächlich: Draußen stand Veyron Swift, gewaschen und rasiert und anstelle des obligatorischen Morgenmantels trug er jetzt ein blaues Hemd und eine teure Stoffhose. Er winkte Tom, der sofort aufsprang.

Was wollte der denn hier?

»Ich muss mich bei dir entschuldigen, Tom. Ich weiß, dass ich nicht immer sehr einfühlsam bin. Also habe ich beschlossen, dass wir deinen Geburtstag nachholen. Etwas spät vielleicht, aber besser als nie. Wir fahren morgen nach der Schule nach Elderwelt, als nachträgliches Geschenk sozusagen«, verkündete Veyron, als er eintrat.

Willkins schloss sofort die Tür, damit keine neugierigen Ohren draußen auf dem Flur etwas davon mitbekamen.

Tom kämpfte mit sich. Eigentlich wollte er Veyron sagen wie egal ihm das war – allein um ihn zu ärgern. Aber eine neue Reise nach Elderwelt? Das war schon seit über einem Jahr sein sehnlichster Wunsch.

»Naja, wenn’s unbedingt sein muss«, brummte er, seine wahre Begeisterung niederkämpfend. Er wollte Veyron unbedingt ärgern, aber sein Pate zeigte nur seinen üblichen, stoischen Gesichtsausdruck. Ganz klar: er hatte Tom schon längst durchschaut.

Willkins trat energisch zwischen die beiden.

»Moment!«, protestierte sie, »Sie können nicht einfach so mit Tom in diese seltsame Zauberwelt aufbrechen. Er hat am Montag wieder Schule, es sind keine Ferien!«

Veyron warf ihr einen amüsanten Blick zu.

»Natürlich kann ich das, Willkins. Wir bleiben auch nicht lange, keinesfalls länger als einen Monat. Die Schule wird das schon verkraften«, konterte er mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen.

Jane fand das alles andere als lustig. »Sie bringen Tom nur wieder in Schwierigkeiten. Ich werde das nicht noch einmal zulassen, Swift! Das letzte Mal wärt ihr beide fast draufgegangen!«

»Wir bringen nur schnell eine Prinzessin nach Elderwelt zurück, das ist alles. Oder, Veyron?«, warf Tom ein.

Jane schenkte ihm einen zornigen Blick. Sie schaute wieder zu Veyron. Sein süffisantes, herablassendes Lächeln auf den schmalen Lippen forderte sie frech heraus. Tom spürte, dass es jeden Moment zu einer fürchterlichen Auseinandersetzung kommen würde, nicht lautstark, aber verbal verletzend. Jane konnte ziemlich derb werden, wenn sie wütend war – und Veyron grausam direkt.

»Vielleicht kann Jane mitkommen? Dann könnte sie dafür sorgen, dass wir schnell wieder zurückkehren. Ein kurzer, schneller Ausflug, nur übers Wochenende. Jane, du bist doch sowieso noch im Urlaub. Was meinst du?«

Jane war vollkommen sprachlos. Noch bevor sie ein Wort sagen konnte – die Ablehnung stand ihr ins Gesicht geschrieben – gab Veyron ganz unverhofft sein Einverständnis.

»Wenn du das unbedingt willst, darf Willkins uns natürlich begleiten. Es ist dein Geburtstagsgeschenk. Sagen Sie mir, Willkins, haben Sie England eigentlich jemals verlassen?«

Jane musste erneut tief durchatmen, um ruhig zu bleiben.

»Ich muss Ihnen ganz sicher nicht erzählen, wohin ich schon überall in den Urlaub gefahren bin. Ich glaube, ich hab schon mehr von der Welt gesehen als Sie«, zischte sie.

Veyron schmunzelte amüsiert in sich hinein. Sie weitete überrascht die Augen, als sie seine vermeintlichen Absichten zu durchschauen glaubte.

»Ach so ist das«, meinte sie verärgert. »Sie wollen mich provozieren! Sie meinen, ich würde mich nicht trauen. Da haben Sie sich aber geschnitten. Also gut, ich bin dabei! Wann wollen Sie losstarten?«

Veyron hob in einer kleinwenig überraschten Geste die Augenbrauen. Tom war ganz stolz auf Jane, weil sie es zum ersten Mal geschafft hatte, das sein Pate wirklich sprachlos dastand. Lange hielt dieser Zustand jedoch nicht an. Veyron war sofort wieder bei der Sache.

»Morgen Mittag, sobald Tom von der Schule nach Hause kommt. Packen Sie schon einmal Ihren Rucksack. Ich empfehle auf jeden Fall festes Schuhwerk und eine sehr warme Jacke, wenn’s geht wasserdicht. Ich muss zuvor noch ein paar Kleinigkeiten erledigen, wir sehen uns also morgen. Halten Sie sich bereit, seien Sie auf alles gefasst. Möglicherweise werden wir sehr rasch aufbrechen müssen«, erklärte er.

Jane war einverstanden, Stimme und Gestik voller Trotz. Veyron ignorierte ihr Gebaren einfach, verabschiedete sich mit halbwegs freundlichen Worten und verschwand wieder in das finstere Treppenhaus. Jane warf die Tür zu. Mit der Faust hieb sie gegen das Türblatt.

»Warum muss er mich andauernd provozieren? Er ist ein richtiges Aas, dein Patenonkel«, schimpfte sie.

Tom zuckte mit den Schultern. »Manchmal schon. Ich bin sicher, dass er dich eigentlich recht gern mag. Er kann es nur nicht so zeigen«, versuchte er Veyron in Schutz nehmen. Jetzt, wo er ihn endlich wieder nach Elderwelt mitnehmen würde, wollte er Veyron das unmögliche Verhalten der letzten Wochen nachsehen. Jane war jedoch anderer Meinung.

»Nein, der einzige Mensch, der Platz in seinem Herzen hat, ist er selbst – und vielleicht du noch. Mich kann er nicht ausstehen, das kannst du mir glauben. Ich hoffe nur, wir bringen uns nicht gegenseitig um.«

Tom sagte darauf lieber nichts. Er hoffte, seinen Paten in dieser Sache besser zu kennen als Jane, anderenfalls würde das kein sonderlich angenehmer Ausflug werden.

Eine halbe Stunde später trat Veyron Swift durch den Eingang von Galvin at Windows, dem sagenhaften Restaurant im 28. Stockwerk des Londoner Hilton Hotels an der Park Lane. Hier oben, von wo man einen fantastischen 360 Grad Blick über ganz London hatte, würde sich ein weiteres Puzzlestück finden, das mit seinem aktuellen Fall in Zusammenhang stand.

Tom wusste nichts davon, er ahnte es nicht einmal. Veyron hatte den Jungen für cleverer gehalten, aber vielleicht war es auch besser so. Immerhin war er erst fünfzehn Jahre alt und für Geschäfte dieser Art eindeutig zu jung. Sicherlich würde er mit Panik reagieren. Das war etwas, das Veyron überhaupt nicht brauchen konnte.

Er setzte kaum den Fuß durch die Eingangstür, als auch schon ein Kellner seinen Weg kreuzte und freundlich fragte, wie ihm weiterzuhelfen sei. Veyron hatte sein bestes Hemd angezogen, dunkelblau, nur ganz selten getragen, dazu seine feinste Hose und den teuersten Satz Schuhe, den er auftreiben konnte. Geschniegelte Geschäftsessen waren nicht seine Art. Er bevorzugte es, seine Klienten – und auch seine Feinde – in der Wisteria Road zu empfangen. In diesem Fall wollte er jedoch eine Ausnahme machen. Sein jetziger Gegenspieler war ihm in den letzten zwei Wochen nahe genug gekommen.

»Ich werde erwartet, Veyron Swift«, ließ er den Kellner wissen. Der nickte sofort und deutete nach hinten zu den Fenstern. Von dort hatte man einen großartigen Blick auf das gewaltige, blau beleuchtete London Eye und auf die dahinter liegende Waterloo Station.

Veyron bedankte sich mit einem Nicken und setzte sich in Bewegung, wurde aber plötzlich von einem Gast angerempelt – nur ganz kurz. Der Mann entschuldigte sich sofort. Veyron aber spürte, wie blitzschnelle Finger seine Hosentaschen abtasteten, seine Brust streiften und sogar sein Hinterteil. Im Nu war die Begegnung vorbei. Ohne sich umzusehen setzte er den Weg fort.

Selbstverständlich ist mein Gesprächspartner nicht allein gekommen, dachte er mit einem Schmunzeln. Er hat ein paar Helfer mitgebracht und natürlich wurde ich professionell gefilzt. Alles andere wäre auch eine Enttäuschung gewesen.

Am besagten Tisch saß ein Mann, gut zehn Jahre älter als Veyron, das schwarze Haar mit reichlich Gel nach hinten geschleckt, die Gesichtszüge ausdruckslos und ohne markante Eigenheiten. Charles Fellows. Bisher hatte Veyron nur indirekt mit ihm zu tun gehabt, kannte ihn nur von Beschreibungen. Das, was er von diesem Mann jedoch wusste, ließ Abscheu in ihm aufkeimen.

Fellows brachte reiche Finanziers und mittellose Terrororganisationen zusammen, organisierte Waffenschmuggel, plante Überfälle und Anschläge, Entführungen und Erpressungen. Einen skrupelloseren Menschen gab es wahrscheinlich nirgendwo auf der ganzen Welt. Jetzt saß er vor ihm, gekleidet in einem maßgeschneiderten Anzug, viele tausend Pfund wert, und bedachte ihn mit einem kalten Lächeln. Veyron setzte sich.

»Ihre Männer sind sehr gründlich. Haben Sie Angst, ich bringe eine Waffe mit, oder ein Abhörgerät? Sie kennen offenbar meine Methoden nicht«, begrüßte er Fellows mit dem freundlichsten Lächeln, zu dem er imstande war.

Fellows erwiderte die Geste beiläufig. »Reine Routine, Mr. Swift. Keine Sorge, meine Männer haben diesen Ort untersucht und infiltriert, seit ich ihn in meiner Email als Treffpunkt angab.«

Ein Kellner kam, servierte jedem eine Tasse Kaffee, dazu Gebäck. Fellows nickte dem Mann bestätigend zu, kühl, fast maschinell. Veyron achtete genau auf die Reaktion des Kellners. Sie fiel ebenso kühl aus. Noch einer von Fellows Männern? Sehr wahrscheinlich, Fellows überließ sicher nichts dem Zufall.

»Französischer Kaffee, der beste der Welt. Ich hoffe, Sie sind damit einverstanden?«, fragte Fellows und klang dabei so gelassen, als wäre dies hier nur ein gemütliches Plauderstündchen.

»Eine vortreffliche Wahl. Sie arbeiten hochprofessionell, das war mir von Anfang an klar. Ihre Söldner beobachten mein Haus jetzt schon seit zwei Wochen, recht unauffällig, getarnt als Handwerker, welche die 120 Wisteria Road renovieren, ein leerstehendes Haus. Perfekte Tarnung, aber nicht, wenn man es mit Veyron Swift zu tun hat«, sagte Veyron. Er schnappte sich die beiden Zuckerpäckchen am Tassenrand.

Fellows gestattete sich ein geschäftsmäßiges Lächeln in seinem weichen, nichtssagenden Gesicht.

»Alle Achtung, nicht schlecht für einen Provinzdetektiv aus Harrow. Ist das der Anlass, warum Sie gerade jetzt um dieses Treffen baten? Ich nehme an, Sie wissen sehr wohl, warum Sie in mein Zielvisier geraten sind?«

»Selbstverständlich. Es geht um Prinzessin Iulia aus Maresia und Ihre sichere Heimkehr nach Elderwelt. Schauen Sie nicht so verblüfft drein, Sie wissen ganz genau was ich meine«, erwiderte Veyron und riss die Zuckerpäckchen auf. Ungeschickt ließ er eines fallen. Der ganze Zucker verteilte sich über die Tischdecke. Veyron entschuldigte sich und wischte das Malheur weg. Seine Hände zitterten, er räusperte sich und ballte kurz die Faust. Ein flüchtiger Moment der Konzentration, ein langes Ausatmen. Das Zittern hörte auf. Er schenkte Fellows ein verlegenes Lächeln, riss anschließend das zweite Zuckerpäckchen auf und schüttete es in seine Tasse.

Fellows quittierte die Nervosität seines Gegenspielers mit eisiger Genugtuung.

»Mein Auftraggeber macht sich große Sorgen um die Prinzessin. Ehrlich gesagt, ich verstehe das Warum nicht so ganz. Eigentlich ist es in meinen Augen eine Lappalie. Aber Geschäft ist Geschäft«, meinte er.

Veyron rieb sich die Hände und nickte zustimmend.

»Nur, das diesmal Ihr Auftraggeber nicht den Namen H.G.W. Morgan benutzt, oder sollte ich besser sagen: Lord Nemesis? Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Klient den Namen Consilian trägt? Also, was genau erwartet Mr. Consilian nun von mir?«

Das herablassende Lächeln auf Fellows Lippen verschwand augenblicklich. Sein eh schon recht blasses Antlitz wurde noch um eine Stufe bleicher. Wortlos starrte er Veyron einige Sekunden an, dann schien er seine Fassung zurückgewonnen zu haben.

»Auf der ganzen Welt gibt es niemanden, der davon weiß«, raunte er, unterschwelligen Zorn in der Stimme, und auch einen Hauch von Furcht.

Veyron gestattete sich ein kurzes Triumphgefühl.

»Ich schon, Mr. Fellows, ich schon. Also, zurück zu Ihrem Klienten, den ehrenwerten Mr. Consilian.«

Fellows atmete tief durch, der Spaß war ihm vergangen.

»Mein Klient erwartet, dass Sie sich vollkommen aus der weiteren Entwicklung der Ereignisse heraushalten – ganz besonders die Prinzessin betreffend. Die Geschehnisse in Gloria Maresia sind nicht Ihre Sache, so soll ich es Ihnen ausrichten. Ach ja, ich soll zudem sicherstellen, dass Sie unter gar keinen Umständen Ihr sonst übliches Chaos anrichten. Die Sicherheit eines ganzen Imperiums steht auf dem Spiel.«

»Sie meinten wohl, die Sicherheit einer ganzen Welt. Ich fürchte, es ist zu spät. Ich habe der Prinzessin bereits zugesagt, mich ihres kleinen Problems anzunehmen.«

Fellows rührte einen Moment lang mit dem Löffel den Kaffee um.

»Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung, mit wem Sie sich hier anlegen, Mr. Swift«, warnte er, nun um einen deutlich bedrohlicheren Tonfall bemüht.

Veyron schüttelte mit einer Geste der Enttäuschung den Kopf. »Ich fürchte, Sie sind derjenige, der nicht die geringste Ahnung hat, mit wem er sich anlegt.«

Er maß den Blick mit Fellows. Sein Gesicht nahm einen Schein von Belustigung an, als er über Veyrons Worte nachdachte. In der Tat: Mit jemand seines Kalibers hatte es Fellows in seiner ganzen Karriere wohl noch nie zu tun. Veyron konnte erkennen, dass sie beide zu vollkommen gegensätzlichen Einschätzungen bezüglich seiner Fähigkeiten gelangt waren. Für Fellows war Veyron nichts weiter, als ein Spinner; ein wenig größenwahnsinnig und unberechenbar vielleicht, aber im Grunde nur ein harmloser Wicht.

»Mich interessiert nur die Summe, die man mir auf den Tisch legt. Alle meine Klienten bezahlen gut, Morgan ebenso wie jetzt Consilian. Vielleicht werfen Sie einmal einen Blick auf das hier«, sagte er und legte einige Fotos von Tom auf den Tisch; aufgenommen auf dem Schulweg.

»Mein Klient meinte bereits, dass Sie sich nicht so leicht einschüchtern lassen. Aber Sie sollten immer daran denken, dass es bei Zuwiderhandlung nicht zuerst Sie erwischen wird, sondern Ihre Freunde, Ihre Nachbarn. Einfach jeden, nur nicht Sie

Er drohte mit einem derartig kaltschnäuzigen Ton, dass Veyron sich ernsthaft zu fragen begann wie viel von Fellows Menschlichkeit noch übrig war.

»Ich weiß nicht, ob Sie wirklich richtig ticken, Mr. Swift, aber vielleicht sollten Sie anfangen es herauszufinden. Wie viel bedeutet Ihnen Toms Sicherheit, wie viel empfinden Sie für Ihre Freunde bei der Polizei, zum Beispiel diese nette Miss Willkins? Sie hat Probleme mit ihrem Freund, wussten Sie das? Vielleicht sollte ich sie von dieser Qual befreien, was meinen Sie? Oder Ihre rührige Nachbarin, wie war doch wieder ihr Name … Sarah Fuller, nicht wahr? Glauben Sie, es würde ihr gefallen, mit zwei gebrochenen Beinen im Krankenhaus aufzuwachen«, fragte er im gemütlichsten Plauderton, freche Lachfältchen um die Augen.

Veyron sagte dazu gar nichts, nickte nur, griff nach vorne und nahm Fellows Kaffeetasse in Hand. Demonstrativ trank einen er einen Schluck daraus. Sein Gegenspieler war ob dieses Misstrauens ehrlich amüsiert. Er lachte verhalten, nahm seinerseits Veyrons Tasse und nahm einen kräftigen Schluck. Dann stellte er die Tasse wieder ab und zuckte mit den Schultern.

»Kein Gift, sehen Sie? Machen Sie sich nicht in die Hosen, Swift. Ich habe nicht vor, Sie auszuschalten – zumindest jetzt noch nicht«, versicherte er. »Wie lautet also jetzt Ihre Entscheidung?«

Unbewegt saß Veyron da, ebenso berechnend wie Fellows. Alle möglichen Szenarien geisterten durch seinen Verstand, Pläne und Schachzüge, die er allesamt wieder verwarf. Es gab kein Zurück mehr, die Schlachtlinien waren gezogen. Das Spiel hatte begonnen, jetzt war Veyron am Zug.

»Bei einer finanziellen Entschädigung könnte ich mir ein Stillsitzen durchaus vorstellen. Geben Sie mir vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit«, sagte er, sichtlich bedrückt ob der chancenlosen Alternativen.

Fellows schien endlich zufrieden. Er hob noch einmal Veyrons Tasse an, der die Geste unwillig erwiderte. Sie stießen an, jeder nahm noch einen kräftigen Schluck.

»Goodbye, Mr. Swift. Ich denke, wir sehen uns bald wieder«, meinte Fellows. Er stand auf und schickte sich zum Gehen.

»Nein, werden wir nicht«, erwiderte Veyron finster. Das entlockte seinem Gegner ein weiteres, amüsiertes Lächeln. Veyron wartete, bis Fellows verschwunden war, dann bezahlte er die Rechnung. Fellows würde zuschlagen, genau wie befürchtet. Er würde ihm keine vierundzwanzig Stunden lassen.

Der Schulgong konnte gar nicht früh genug kommen. Endlich Freitagmittag, endlich Wochenende, endlich zurück nach Elderwelt. Blitzschnell hatte Tom seine Sachen zusammengepackt. Rasch verabschiedete er sich noch von seinen Freunden, dann flitzte er auch schon hinaus auf die Straße.

Er stopfte sich die kleinen Kopfhörer seines Smartphones in die Ohren und aktivierte die Musikdateien, so wie jeden Tag. Gangnam Style, zurzeit sein absoluter Favorit. Der Nachhauseweg führte die Straße runter, vorbei an ein paar gepflegten Gärten und alten Backsteingebäuden, bis zur nächsten Bushaltestelle. Von dort schnurstracks in die Wisteria Road, alles in allem etwa zwanzig Minuten – zwanzig Minuten, die ihn noch von Elderwelt trennten.

Er bog gerade um die Ecke in die High Street, als er für einen Moment nicht aufpasste und mit drei anderen Jugendlichen zusammenprallte. Sie waren ungefähr ein bis zwei Jahre älter als er, einer von ihnen auch bedeutend größer.

»Hey, hast du Penner keine Augen im Kopf?«, herrschte ihn der Große an und stieß ihn grob in den alten Maschendrahtzaun gegenüber. Tom zuckte vor Schmerz zusammen und wich zurück.

»Hast ja ein nettes Telefon. So eins will ich auch«, meinte der Große. Seine beiden Kumpels lachten. Sie begannen Tom einzukreisen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich in ernsten Schwierigkeiten befand. Vor ihm standen drei schulbekannte Schläger – und er hatte nicht aufgepasst. Weglaufen war jedoch schon lange nicht mehr sein Vorgehen, nicht mehr seit seinem Elderwelt-Besuch. Dort hatte er sich mit schlimmeren Kreaturen geprügelt, als es diese drei je sein könnten. Er ballte die Fäuste, bereit seine Haut teuer zu verkaufen.

Plötzlich übertönte Veyrons Stimme den Gangam Style in den Ohrstöpseln.

»Greif nach hinten in deinen Rucksack«, wies er ihn streng an.

Toms Gedanken schwirrten wirr herum. Wie um alles in der Welt kam Veyron in seine Musikdateien? Was sollte er mit seinem Rucksack?

»Nun greif schon nach hinten, oder die drei nehmen dich auseinander«, drängte die Stimme. Tom befolgte die Anweisung instinktiv. Tatsächlich spürte er plötzlich einen kühlen, runden Griff. Etwas steckte in seinem Rucksack, unsichtbar, aber zweifellos vorhanden. Er erkannte diesen Griff, spürte, wie er unter seinen Fingern wärmer wurde. Er fühlte den verschnörkelten, metallenen Schutzkorb drum herum. Das Daring-Schwert, das Zauberschwert aus Elderwelt!

»He, Kleiner, ich rede mit dir«, grölte der Große wütend. »Hörst du mir nicht zu? Rück dein Telefon raus! Ich will’s haben!«

»Das da kannst du haben!«, gab Tom zurück und zog den Griff aus seinem Rucksack. Vor den Augen der verblüfften Schläger wuchs eine fast ein Meter lange, funkelnde Schwertklinge aus dem Griff, beschlagen mit blauen Juwelen.

»Scheiße! Nichts wie weg! Der Typ ist ja krank!«, schrien die drei Banditen um die Wette und rannten davon. Tom wollte nachsetzen und ihnen die Hosen aufschlitzen, besann sich aber sofort wieder. Erstaunt starrte er das Zauberschwert an. Wie um alles in der Welt, war es überhaupt in seinen Rucksack gekommen?

»Gut gemacht, die bist du los. Aber jetzt ist Eile angesagt. Steck das Schwert weg und sieh dich um. Etwa zwanzig Meter entfernt siehst du ein schwarzes Auto, einen brandneuen Jaguar. Der folgt dir schon, seit du das Schulgebäude verlassen hast. Siehst du ihn?«, dröhnte Veyrons Stimme in seinen Ohren.

Tom steckte das Schwert in den Gürtel. Ohne Vorwarnung löste es sich in Nichts auf. Für einen Moment war er verblüfft, doch das war Teil jenes Zaubers, der auf dieser Waffe lag. Er drehte sich um und entdeckte die besagte Limousine.

»Siehst du die beiden Fahrer?«, fragte Veyrons Stimme.

»Ja, zwei Anzugträger, sehen wichtig aus. Was ist mit denen?«

»Sie sind hier um dich zu entführen. Eventuell sogar um dich zu foltern, im schlimmsten Fall um dich zu töten. Lauf um dein Leben! Lauf, lauf, lauf!«

Toms Herz schlug bis zum Hals. So schnell er konnte, warf er sich herum und rannte. Hinter ihm wurde ein Motor gestartet, er hörte ihn aufbrüllen. Sie waren wirklich hinter ihm her!

»Verfluchter Mist, verfluchter Mist, verfluchter Mist.«

Er rannte noch schneller, immer noch die Häuserzeile entlang. Wo sollte er hin? Zur Bushaltestelle, oder zurück zur Schule?

»Stopp! Da ist ein Fahrrad an dem Haus da drüben, silbergrau mit rotem Lenker. Siehst du es? Schnapp es dir«, gab ihm Veyron neue Anweisungen.

Tom entdeckte das Fahrrad, ein altes Mountainbike. »Das ist Diebstahl«, schnappte er keuchend.

»Unfug! Das Rad habe ich dort abstellen lassen. Los jetzt, tritt in die Pedale! Du überquerst die Straße und fährst in die entgegengesetzte Richtung.«

Tom packte besagtes Fahrrad, schwang sich auf den Sattel und tat wie Veyron ihm geheißen. Ohne nachzudenken oder hinzuschauen, jagte er quer über die Straße, wurde vom Kühlergrill seiner Verfolger nur knapp verfehlt. So schnell er konnte, radelte er die Straße zurück, wieder in Richtung Schule.

»Bieg links ab, dann die Waldron Road runter, bis zur nächsten Kreuzung.«

Tom musste eine Vollbremsung hinlegen, um die Kurve noch zu schaffen, seine Verfolger fuhren hinter ihm geradeaus weiter. Er hörte Reifen quietschen. Schon sauste er die Straße entlang, vorbei an eng geparkten Autos und Motorrollern. Obwohl er selbstmörderisch schnell war, trat er weiter mit aller Kraft in die Pedale. Er hörte wie sein Atem vor Anstrengung rasselte. Seine Kidnapper waren wieder dicht hinter ihm.

»Auf den Bürgersteig, Tom, schnell!«, dröhnte Veyrons Anweisung in den Ohrstöpseln.

Tom riss das Fahrrad zur Seite, mit einem Satz war er auf dem Bürgersteig, raste weiter die Straße entlang – vorbei an den direkt angrenzenden Hausfassaden und empörten Einwohnern, die im letzten Moment zur Seite sprangen.

»Gleich kommt ein großes Tor, es steht offen. Dort siehst du Mr. Puttner, ein älterer Mann mit Glatze. Fahr dort hinein und auf der anderen Seite wieder raus. Wenn du ihn siehst, winke ihm mal kurz.«

Tom glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Er radelte hier um sein Leben und Veyron war zu Späßen aufgelegt? Ohne dem alten Mann, der dort tatsächlich stand, zu winken, schoss er in die große Hofeinfahrt. Im Nu befand er sich auf der anderen Seite des Grundstücks, wo ein weiteres, kleines Tor wieder auf die Straße führte. Auch dieses stand offen. Seine Verfolger schien er abgehängt zu haben.

»Du hättest ihm wirklich winken sollen. Das war sehr unhöflich von dir«, beschwerte sich Veyrons Stimme. Tom stieß einen lauten Fluch aus.

»Schön, dann eben nicht. Du bist jetzt in der Crown Street, fahr sie rauf bis zum Kreisverkehr, wo sie mit der Weststreet zusammentrifft. Sie sind wieder hinter dir! Gib Gas!«

Tom warf einen Blick zurück. Schon tauchte der schwarze Jaguar in seinem Blickfeld auf und beschleunigte. Tom stieg in die Pedale, spürte wie sich all seine Muskeln zu verkrampfen begannen. Er fürchtete schon, er würde jeden Moment zusammenbrechen. Aber die Furcht um sein Leben, verlieh ihm schier übermenschliche Kräfte. Wie eine Rakete jagte er die Straße entlang, selbst ein Rennradprofi wäre beeindruckt gewesen.

Tom achtete gar nicht auf die Menschen, die ihm auf dem Bürgersteig hinterher starrten. Er ignorierte auch die alte Lady, die vor ihm mit ihrem Rollator am Straßenrand stand. Es war ein altes, krummes Hausmütterchen mit Kopftuch und selbstgestrickter Jacke. Gerade wollte sie die Straße überqueren. Erschrocken sprang sie mit einem gellenden Aufschrei zurück – in letzter Sekunde. Tom wäre fast mit ihr zusammengeprallt.

»Ihr jungen Rowdies!«, hörte er sie wütend schimpfen. Tom wollte sie gerade verfluchen und drehte leicht den Kopf nach hinten. Die Alte schob ihren Rollator auf die Straße. Er hielt die Luft an. Der schwarze Jaguar kam mit brüllendem Motor herangeschossen. Reifen quietschten, ein gellender Aufschrei folgte.

Der Aufprall war entsetzlich, ein Knall wie bei einer Explosion. Der Rollator, oder besser gesagt, seine Einzelteile, flogen in alle Richtungen davon. Der Jaguar kam zwanzig Meter weiter zum Stehen, der linke Scheinwerfer kaputt, der Kotflügel eingedrückt, die Windschutzscheibe gesprungen. Von der alten Lady war nichts mehr zu sehen.

»Mein Gott, sie haben sie umgebracht! Sie haben sie einfach über den Haufen gefahren«, schrie Tom schockiert.

Dies wurde wohl gerade auch den beiden Fahrern bewusst. Er sah sie fluchend und wild gestikulierend streiten. Dann öffnete der Fahrer die Tür, um auszusteigen. Tom glaubte zu sehen, wie er unter sein schwarzes Sakko griff – zweifellos um dort eine Pistole herauszuziehen.

Auf einmal stand die alte Lady in der Tür, in der Hand eine Spraydose. Noch ehe der verblüffte Fahrer reagieren konnte, verpasste sie ihm eine Ladung Reizgas mitten ins Gesicht. Das schmerzerfüllte Gebrüll des Mannes ließ Tom regelrecht zusammenfahren. Der Typ krallte sich mit beiden Händen ins Gesicht, warf sich heulend hin und her, stürzte aus dem Fahrzeug. Der Beifahrer zog fluchend seine Waffe, doch die Lady war schon wieder verschwunden.

Tom wollte sich die Augen reiben, er verstand nicht, was da überhaupt geschah. Plötzlich war die alte Schachtel wieder da, diesmal auf der anderen Seite des Wagens. Sie riss die Tür auf, packte den Waffenarm des Beifahrers, drehte ihn mit einem schaurigen Knacken herum, entwand dem Mann die Waffe. Sie zog den brüllenden Mistkerl aus dem Wagen und hieb ihm den Kopf heftig gegen das Wagendach. Ohne weiteren Widerstand brach der Mann zusammen. Wie aus dem Nichts hielt die Lady plötzlich zwei Handschellen in der Hand, fesselte dem Mann die Arme an seine Beinknöchel; überkreuz. Danach huschte sie blitzschnell um das Auto herum und verfuhr mit dem Boden liegenden, vor Schmerz heulenden Fahrer genauso. Sie zog den Mann hoch und stieß ihn hinüber zu seinem bewusstlosen Kameraden.

Tom hörte bereits Polizeisirenen und das prägnante Heulen eines Krankenwagen. Die alte Lady, die gerade zwei gemeingefährliche Verbrecher ausgeschaltet hatte, kümmerte das nicht weiter. Sie setzte sich hinter das Steuer des Jaguars, machte die Türen zu und fuhr los. War das zu fassen? Die Alte klaute gerade das Auto der Schurken!

»Ich glaub, ich bin im falschen Film«, japste Tom fassungslos.

Der Wagen hielt neben ihm, die Lady öffnete die Beifahrertür.

»Einsteigen, junger Mann, sonst gibt’s den Hosenboden voll!«, krächzte sie ihn herrisch an. Tom fielen fast die Augen aus dem Kopf.

Unter dem albernen, violetten Lidschatten und dem knallroten Lippenstift, weiß geschminkt, übersät mit Altersflecken und der zottligen grauen Perücke, hätte er sie fast gar nicht erkannt.

Die wehrhafte Dame war niemand anderes als sein Patenonkel, Veyron Swift!

Tom sprang sofort ins Auto, schnallte sich an und Veyron fuhr los.

»Was ist da eben passiert? Was soll das alles? Warum sind Sie als Großmutter verkleidet«, fragte Tom. »Was wollten diese Typen überhaupt von mir?«

»Von dir? Gar nichts. Sie wollten etwas von mir. Wegen Prinzessin Iulia. Ich sagte ja bereits, dass sich die junge Dame in Gefahr befindet. Ich fürchte, wir wurden in diese Sache gegen unseren Willen hineingezogen. Aber ich habe alles genauestes geplant«, erklärte Veyron. Tom schaute durch die Heckscheibe hinaus. Zahlreiche Passanten hatten sich nun um die ausgeschalteten Kidnapper versammelt, Polizei und Krankenwagen waren auch schon da. Veyron bog in eine Seitenstraße ab.

»Gregsons Männer. Zum ersten Mal pünktlich. Der Mann macht sich noch«, sagte er und beschleunigte.

»Wo wollen Sie überhaupt hin?«, wollte Tom wissen.

»Nach Elderwelt. Aber jetzt müssen wir erst einmal Willkins abholen. Die Sache ist noch nicht gänzlich ausgestanden, Tom.«

Zwanzig Minuten später hielten sie vor 270b Reigate Street. Tom und Veyron stiegen aus und klingelten. Willkins ließ die beiden ein. Mit dem Lift fuhren sie hoch in den vierten Stock, wo Jane sie bereits erwartete. Sie trug wieder nur Jeans und Bluse, an den Füßen Turnschuhe. Neben ihr stand ein mächtig bepackter Rucksack, an dem ein Paar Bergschuhe und eine dicke Jacke baumelten. Jane fiel die Kinnlade nach unten, als sie Veyron in seinem Großmutter-Aufzug erkannte. Sie begann zu lachen, wundervoll hell und befreit.

»Wollen Sie kleine Kinder erschrecken? Halloween ist doch erst in drei Wochen«, kicherte sie.

Veyron zog sich die staubige Perücke vom Kopf, warf sie ihr entgegen. Sie fing sie auf und musste nur noch lauter lachen. Ohne darauf einzugehen, packte er den Rucksack und schleppte ihn zum Aufzug.

»Sie sind albern, Willkins! Dabei sind Sie gar keine siebzehn mehr. Los jetzt, kommen Sie schon in den Lift, wir haben keine Zeit zu verlieren«, rief er ihr zu.

Ratlos schenkte sie Tom einen fragenden Blick, doch der konnte nur mit den Schultern zucken.

»Wir haben es eilig, ein paar Typen sind hinter uns her«, klärte er sie auf.

Jane schloss sofort die Tür und sperrte ab.

»Ich hoffe, ich hab‘ nichts abzuschalten vergessen. Wenn meine Bude abfackelt, zieh ich bei euch beiden ein. Dann müsst ihr mich monatelang aushalten«, beschwerte sie sich und stieg zusammen mit Tom in den Lift.

Unten auf der Straße schlug Jane sofort den Weg zu ihrem alten, feuerroten VW Golf ein, doch Veyron packte sie am Handgelenk, zog sie zu dem schwarzen Jaguar. Ohne weitere Worte warf er ihren Rucksack in den Kofferraum.

»Warum nehmen wir nicht meinen Wagen? Wo haben Sie überhaupt dieses Auto her? Sie besitzen doch gar keines.«

Veyron machte ihr die Beifahrertür auf und ließ sie einsteigen. Tom musste auf der Rückbank Platz nehmen, was ihm gar nicht passte (für gewöhnlich saß er lieber vorne). Veyron stieg ein und startete den Motor.

»Ihr Wagen ist verwanzt«, sagte er mit finsterem Ernst.

Jane schaute ihn skeptisch an. »Woher wissen Sie das? Was ist denn überhaupt los?«

Veyron deutete auf die andere Straßenseite, wo ein schmutziger Van mit verwaschener, blauer Firmenaufschrift stand.

»Ist Ihnen der Vauxhall gegenüber noch nicht aufgefallen? Der parkt seit gestern Nacht da, seit Tom bei Ihnen übernachtet hat. Drinnen sitzen zwei Männer, die den Auftrag haben, ihn zu entführen. Ich bin sicher, die würden nicht zögern, Sie zu töten. Das sind Profis, Söldner und Berufskiller. Gerade eben versuchen sie mit ihrem Auftraggeber Kontakt aufzunehmen, da unser unerwartetes Auftauchen, noch dazu in diesem Wagen, nicht zu ihrem Plan gehört.«

Jane machte große Augen. Sie beobachtete den Lieferwagen jetzt mit professionellem Interesse. Die Polizistin in ihr war geweckt.

»Okay. Was haben Sie vor?«

»Ganz einfach: Ich warte.«

»Warten? Worauf?«

Er deutete auf die Straße, wo sich ein alter Sportwagen näherte, aus dem lauter Rap zu hören war. Drinnen saßen vier Jugendliche, mit dicken Muskeln bepackt, überall tätowiert und Sonnenbrillen auf den Nasen.

»Darauf. Pünktlich wie bestellt.«

Die vier Jungs parkten ihren Wagen direkt neben dem Van.

Endlich fuhr Veyron los. So schnell es der Motor des verbeulten Jaguars zuließ, raste er die Straße hinunter, dann bog er in Richtung Innenstadt ab. Tom und Jane beobachteten den Sportwagen durch die Heckscheibe. Er blockierte immer noch den Weg des Lieferwagens. Zwei Männer stiegen aus und beschwerten sich, doch die Jugendlichen im Sportwagen weigerten sich wegzufahren.

»Simon Woods und seine Jungs. Üble Burschen, aber sie schuldeten mir wegen des Trolls von Woking, der drei aus ihrer Gang aufgefressen hat, noch einen Gefallen«, erklärte Veyron mit einem amüsierten Lächeln.

Jane wirkte alles andere als begeistert.

»Sie lassen sich mit diesen Typen ein? Das sind Gangster, Veyron. Typen von der allerschlimmsten Sorte.«

»Irrtum, Willkins. Diese Jungs und ihre Familien werden in Ghettos angesiedelt, erhalten keine vernünftige Bildung und keine ordentlichen Jobs. Man lässt sie einfach links liegen, nur um dann noch kräftig auf sie draufzuhauen, wenn mal was schiefläuft. Niemand ist da, um diesen Menschen einen Weg in die Zukunft zu zeigen. Es ist unsere Gesellschaft, die von der allerschlimmsten Sorte ist«, konterte er mit ungewöhnlich scharfem Ton.

Jane war sofort wieder still und blickte verlegen aus dem Fenster. Tom wagte auch nichts zu sagen. Irgendwie saß er hier zwischen den Stühlen.

»Wo geht‘s jetzt eigentlich hin? Wir können ja nicht ewig mit einem gestohlenen Wagen rumfahren«, wechselte er das Thema.

Jane wäre am liebsten durch die Decke gegangen. »Was? Der Wagen ist gestohlen? Swift, Sie haben den Verstand verloren!«

»Ganz im Gegenteil. Ich habe dieses Fahrzeug Toms Fast-Entführern entwendet. Die sitzen jetzt bei Gregson auf dem Revier und werden sich ausschweigen. Niemand wird uns verfolgen, also bleiben Sie ganz entspannt. Ich fahre auch bloß bis King’s Cross, dort steigen wir in den Zug nach Milton Keynes um. Karten habe ich bereits gekauft.«

»Warum mit dem Zug?«

»Wegen möglicher Verfolger. Da Zugfahren heutzutage fast anachronistisch ist, werden unsere Gegner es am wenigsten erwarten. Bis die wissen, wo wir hin sind, genießen wir bereits die Freuden Elderwelts.«

Veyron versprach nicht zu viel. Er ließ den verbeulten Jaguar einfach am Straßenrand stehen und sie marschierten in den riesigen Bahnhof. Freitagmittag gingen sie im Getümmel Londons komplett unter. Dennoch wanderten Toms Blicke überall hin. Jede Person, die ihm irgendwie seltsam vorkam, beobachtete er genau. Erst als sie in den Zug eingestiegen waren, wurde er etwas ruhiger.

Veyron besetzte ein Abteil und warf Janes Rucksack auf die Gepäckablage. Er selbst hatte nur eine alte, karierte Reisetasche aus Filz dabei, die perfekt zu dem altmodischen Rock und der albernen selbstgestrickten Jacke passte. Danach verschwand er auf der nächsten Toilette. Jane, wachsam aber aufgeregt, blieb in der Tür des Abteils stehen und spähte in alle Richtungen. Sie bedauerte es mehrmals, dass sie ihre Dienstwaffe nicht eingepackt hatte

»Ich hab das Gefühl, die werden wir noch brauchen. Mein Gott, worauf habe ich mich da nur eingelassen?«, murmelte sie und klopfte mit den Fingern nervös gegen den metallenen Türrahmen.

Nach einer Viertelstunde kehrte Veyron zurück, jetzt wieder ganz er selbst, das schwarze Haar zerzaust, ein breites, schelmisches Grinsen in seinem hageren, falkenhaften Gesicht. Anstatt des modrigen Großmutteraufzugs trug er jetzt Hemd, Hose und eine Anzugweste.

Er könnte glatt als seriöser Geschäftsmann durchgehen, dachte Tom. Aber nur, wenn man ihn nicht besser kennt!

»Setzen Sie sich endlich, Willkins. Unsere Verfolger sind wir los und wir werden wohl auch nicht weiter von ihnen behelligt werden«, sagte Veyron und schob die junge Polizistin ins Abteil. Eher widerwillig ließ sie sich in einen der Sitze fallen, während Veyron sich entspannt hinlümmelte und die Beine übereinander schlug.

»Der ganze Ärger begann vor ziemlich genau zwei Wochen. Ich bekam Emails mit wenig freundlichem Inhalt. Ganz offen wurde mir gedroht. Zunächst nur per Text, später folgten dann Fotos von Tom, aufgenommen auf der Straße, vor der Schule und auch vor Ihrer Wohnung. Sofort war mir klar, dass es jemand ziemlich ernst meinte«, erklärte er.

Jane schüttelte erschrocken den Kopf.

»Sie hätten uns informieren sollen. Die Polizei besteht nicht nur aus Idioten, wissen Sie? Inspektor Gregson hätte sicher was unternehmen können«, meinte sie.

»Sehr pflichtbewusst, Constable, sehr pflichtbewusst. Aber leider blieb mir dieser Weg versperrt. Ich bekam auch Fotos von Ihnen, von Gregson und von jedem anderem aus dem Revier. Ein falscher Schritt von mir und Sie hätten auf eine Kollegenbeerdigung gehen können – eventuell auch auf Ihre eigene. Das musste ich verhindern. Zurück zu meinem neuen Feind. Seine Textnachrichten ließen erkennen, dass ich mich um jeden Preis aus gewissen Angelegenheiten heraushalten sollte. Mir war nur nicht klar, aus welchen. Seit dem Tommerberry-Desaster, oder den Schneetroll-Flop in Schottland, hatte ich eigentlich gar nichts mehr zu tun. An meinem Fliegenprojekt – das von Tom und Mrs. Fuller massiv sabotiert wurde, nur um das noch anzumerken – konnte mein Feind ja wohl kaum Anstoß genommen haben.

Also bat ich meinen unbekannten Gegner um eine Unterredung. Ich antwortete einfach auf seine Emails. Mir war natürlich klar, dass die Absender gefälscht waren, aber ebenso rechnete ich damit, dass mein Feind eine Möglichkeit besaß, um meine Antworten zu erhalten.

Schließlich wurden mir Adresse und ein Termin genannt, mit sehr präziser Uhrzeit. Das verriet meinen Feind als meisterhaften Planer und obendrein vielbeschäftigt, außergewöhnlich wohlhabend und sehr gut bezahlt. Mein Gegner hoffte wohl, mich damit überraschen zu können.

Es wäre ihm wohl auch gelungen, wäre ich nur irgendein Hinterhofdetektiv, ein Amateur, der sich auf das Verlegen von Abhöranlagen versteht und untreuen Ehemännern hinterher spioniert. Mir war natürlich sehr schnell aufgefallen, dass in den letzten zwei Wochen etwas nicht stimmte. Ich kenne jeden Bewohner der Wisteria Road, weiß wie ihre Hunde heißen und welche Autos sie fahren. Da fällt ein Umzugstransporter natürlich sofort auf; wohlwissend, dass niemand in der Straße weder ein- noch auszog. 111 Wisteria Road wurde professionell beschattet. Aber ich hatte nicht vor, mich ungestraft beobachten zu lassen. Ich musste herausfinden, was hier gespielt wurde und welche Geschütze mein Feind noch gegen mich auffahren könnte. Dazu war es erst einmal notwendig, das Haus zu verlassen, heimlich und ungesehen«, erklärte er. Veyron ging davon aus, dass seine beiden Begleiter sich den Rest der Geschichte nun selbst zusammenreimen konnten. Als er jedoch die erwartungsvollen Gesichter von Jane und Tom registrierte, begriff er seinen Irrtum und fuhr fort.

»Da habe ich Mrs. Hardfist erfunden, eine alleinstehende, sehr alte und gebrechliche Frau, die jeden Morgen mit ihrem Rollator einen kleinen Spaziergang in die Stadt macht. Zugegeben, einen sehr ausgedehnten Spaziergang, der sie nicht nur zu Toms Schule, sondern auch zu Ihnen, Willkins, und zu Inspektor Gregson führte.«

Veyrons Grinsen wuchs in die Breite, als er sich für seine eigene Genialität bewunderte. Tom fand dieses selbstverliebte Gehabe fast unerträglich, aber er musste zugeben, dass die Ergebnisse eindeutig für seinen Paten sprachen.

»Sie müssen wissen, dass 111 Wisteria Road einen zweiten Keller besitzt. Ich habe ihn vor neun Jahren ausheben lassen, als ich mit meiner Arbeit als Berater für unnatürliche Ereignisse und mythische Wesen begann. Sollte mich einmal eine Horde Kobolde angreifen, bräuchte ich einen schnellen Fluchtweg. Von diesem Keller führen mehrere Tunnels in die Keller der ganzen Nachbarschaft, auch unter der Straße hindurch. Auf diese Weise konnte ich jeden Morgen unerkannt 111 Wisteria Road verlassen.«

Tom musste vor Begeisterung lachen.

»Ist ja irre. Cool«, meinte er.

Jane fand das dagegen weniger lustig. Sie schüttelte nur entgeistert den Kopf.

»Sie haben doch einen totalen Dachschaden! Was Sie da gemacht haben, ist im höchsten Maße illegal. Wissen wenigstens Ihre Nachbarn von diesen Tunnels?«

Veyron sah sie an, als habe sie den Verstand verloren.

»Natürlich nicht«, entrüstete er sich. »Ansonsten wäre der Sinn und Zweck dieser Tunnel ja vollkommen umsonst. Warum glauben Sie wohl, nennt man sie Geheimtunnel? Weil sie geheim sind, ebenso die Türen. Noch keiner der Nachbarn hat sie entdeckt. Ich kenne selbstverständlich die morgendlichen Angewohnheiten meiner Nachbarn und weiß, wann ich gefahrlos welchen Tunnel benutzen kann. 114 Wisteria Road wird zum Beispiel in der Tat von einer alten Lady bewohnt, doch die liegt seit vier Wochen im Krankenhaus und kommt erst übermorgen wieder zurück. Dieser Umstand kam meiner kleinen Täuschungsnummer natürlich zu Gute. Zurück zu meinen weiteren Maßnahmen:

Jetzt stand dieser Termin in jenem besagten Restaurant in Londons Innenstadt an. Wen traf ich dort? Charles Fellows, einer der meistgesuchtesten Verbrecher der Welt«, erklärte Veyron weiter. Er erzählte den beiden von dem Treffen und wiederholte jedes Wort, das gesprochen wurde, erwähnte jede Geste, jedes falsche Lächeln oder Aufblitzen der Augen. Er ließ kein einziges Detail aus. Wenn sie gefragt hätten, er hätte ihnen sogar sagen können wie oft die Warnlichter am London Eye in jener Nacht geblinkt hatten.

Tom war beeindruckt wie ruhig und vorwitzig sein Pate in dieser Situation geblieben war. Jane dagegen schien im höchsten Maße aufgeregt und eingeschüchtert. Sie spielte nervös mit ihren Fingern und warf pausenlos wachsame Blicke hinaus auf den engen Gang.

»Sie sind verrückt! Einer der gefährlichsten Männer der Welt erpresst Sie, setzt Killer und Entführer auf uns andere an – und was tun Sie? Anstatt sich bei der Polizei zu melden, spielen Sie mit diesem Fellows auch noch Spielchen! Ist Ihnen klar, in welche Gefahr Sie Tom da gebracht haben? Ihre Nachbarn, den Inspektor und mich – eigentlich jedermann?«

Veyron schloss die Augen und seufzte laut.

»Willkins, Sie müssen sich wirklich entspannen. Machen Sie sich keine Sorgen, die Gefahr ist fürs Erste gebannt.«

»Das ich nicht lache!«

»Sie kennen den Rest der Geschichte nicht. Ich habe Ihnen noch nichts von Mrs. Hardfists Wirken berichtet. Dazu komme ich gleich, doch zuerst will ich Ihnen erklären wie es mir gelang, Ihren und Toms Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

Ich sagte schon, dass ich bereits vor dem Treffen über Fellows verschiedene Handlanger im Bilde war. Nun musste ich jedoch Gegenmaßnahmen ergreifen. Sie würden staunen, Willkins, wer mir noch den einen oder anderen Gefallen schuldet oder mir bereitwillig Unterstützung anbietet. Menschen, über die Sie die Nase rümpfen oder Sie belächeln. Meine unsichtbaren Freunde, so nenne ich sie, die Bettler, die Obdachlosen, die Graffiti-Sprayer oder die heimatlosen Ghetto-Kids.

Noch während ich auf dem Weg zum Treffen mit Fellows war, wurde bereits sein Untergang eingeleitet. Meine unsichtbaren Freunde kontaktierten Woods, gaben ihm meine Anweisungen weiter. Auf diese Weise wurde Toms Fluchtfahrrad bereitgestellt. Auch die drei Schläger lauerten ihm rechtzeitig auf, um einen Zugriff von Fellows Leuten zu verhindern und Verwirrung zu stiften. Ort und Zeit waren präzise geplant, ebenso das Auftauchen von Woods Leuten vor Ihrem Wohnhaus, Willkins. Auch Mr. Puttner war zur rechten Zeit da, um Tom die Tore seines Grundstücks zu öffnen. Ich hatte die ganze Verfolgungsjagd vorausberechnet, die Geschwindigkeiten des Fahrrads und des Verfolgungsfahrzeugs so genau wie möglich bestimmt. Alle Mechanismen haben funktioniert, keiner meiner vier Ausweichpläne musste eingeleitet werden.

Die einzigen kleinen Zutaten, die ich noch hinzufügen musste, war die Manipulation von Toms Smartphone und eine Webcam in seinem Rucksackverschluss, damit ich beobachten konnte, was hinter ihm geschah. Natürlich noch das Daring-Schwert für Notfälle. Ich selbst hielt mich, als Mrs. Hardfist verkleidet, den ganzen Morgen schon bereit. Den Rest der Geschichte kennen Sie ja.«

Tom lachte laut auf, als er all das hörte. Er klatschte in die Hände.

»Phantastisch, echt cool. Das ist ja der Wahnsinn.«

Nur Jane blieb noch immer skeptisch, wenngleich sie sich ein anerkennendes Lächeln nicht ganz verkneifen konnte.

»Eine meisterhaft inszenierte Flucht, das stimmt. Aber das Hauptproblem löst sie natürlich nicht. Fellows ist immer noch dort draußen. Wenn es stimmt, was Sie über diesen Kerl sagen, sind seine Killer jetzt hinter uns her«, meinte sie.

Veyron stieß einen höhnischen Lacher aus, wurde aber gleich wieder ernst.

»Ich bezweifle sehr stark, das Mr. Fellows dazu überhaupt in der Lage sein wird«, erwiderte er.

Jane und Tom blickten ihn staunend an, was Veyron listig lächeln ließ.

»Ich sollte vielleicht endlich von Mrs. Hardfists Meisterstück erzählen. Was für eine tüchtige alte Lady! Nachdem ich Fellows kontaktiert hatte und Adresse und Uhrzeit unseres Treffpunkts übermittelt bekam, bemühte ich Mrs. Hardfist für einen kleinen Ausflug in die City. Ich hatte ein paar Stunden Zeit. Zweifellos würden Fellows Agenten bereits in jenem Restaurant warten, falls ich vorher mal vorbeischaue. Fellows ist kein Dummkopf. Mit einem Besuch von Mrs. Hardfist rechnet jedoch nicht einmal er. Eine krumme, übelriechende alte Schachtel, der man nicht zu nahe kommen will. Die watschelt in das Hilton, hinein in den Aufzug und rauf ins Restaurant, von jedermann ungläubig angestarrt. Sie marschiert von Kundschaft zu Kundschaft, murmelt, geifert, schnappt sich ein paar Zuckerpäckchen und steckt sie in die Taschen. Ein freundlicher Kellner kommt zu ihr und komplimentiert sie hinaus. Mrs. Hardfist beschimpft ihn als Rüpel und steigt in den nächsten Bus. Jedermann lacht über diesen Vorfall, auch Fellows Handlanger.

Zu Hause verwandelt sie sich dann zurück in Veyron Swift, der nun die Zuckerpäckchen nimmt und manipuliert. Er mischt dem Zucker ein Betäubungsmittel bei. Und zwar jenes, welches der gute, alte Mr. Tommerberry entwickelt hat.

Das war der einzig lohnenswerte Aspekt an diesem Reinfall: Ein neuartiges Sedativ, das ein temporäres Koma hervorruft – Tommerberrys bemitleidenswerter Versuch, den eigenen Tod zu fingieren. Ein versuchter Versicherungsbetrug, wie langweilig. Für uns alle jetzt jedoch ein Glücksfall. Ich nehme also die präparierten Zuckerpäckchen mit zu meinem Treffen mit Fellows. In einem Moment vorgespielter Nervosität und Ungeschicklichkeit, tausche ich die echten durch die falschen aus, schütte sie in meinen Kaffee, trinke dann jedoch aus Fellows Tasse. Dieser nun aus der meinen und tappt so in meine Falle. Tommerberrys Sedativ braucht ein paar Stunden, bis es zu wirken beginnt. Fellows kehrt in seine Absteige zurück und schläft ein; vor dem Fernseher, beim Pokern oder wo auch immer. Das Sedativ ruft einen komatösen Zustand hervor, Fellows Handlanger können ihn nicht mehr aufwecken. Zweifellos lassen sie ihn in ihrer Panik im Stich und fliehen. Wenn er wieder zu sich kommt – etwa heute Abend – steht er vor den Trümmern seiner Organisation. Er wird untertauchen müssen, denn Gregson und sogar der MI-5 sind ihm auf den Fersen. Vielleicht gelingt ihm die Flucht, aber ich bezweifle es. Das, meine liebe Willkins, ist dann das Ende der Geschichte und zweifellos auch das Ende von Mr. Charles Fellows.«

Seinen Triumph auskostend, verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen.

Von Jane war für den Rest der Fahrt nach Milton Keynes kein einziges kritisches Wort mehr zu hören. Misstrauisch blieb sie dennoch, als wollte sie nicht so ganz glauben, dass es Veyron wirklich gelungen war, innerhalb von Stunden jenen Mann restlos zu besiegen, den die ganze Ermittlerelite der Welt bislang vergebens zu verhaften versucht hatte.

Auch Tom war nicht ganz wohl in seiner Haut. In Kürze würden sie nach Elderwelt zurückkehren. Dieser unheimliche Consilian würde dort auf sie warten. Um ihm das Handwerk zu legen, würde es sicher mehr brauchen, als ein paar billige Tricks.

Veyron Swift und der Orden der Medusa

Подняться наверх