Читать книгу Veyron Swift und der Orden der Medusa - Tobias Fischer - Страница 7

5. Kapitel: Durch Fels und Nacht

Оглавление

Nach dem Treffen mit dem Großmeister der Simanui, kehrte Tom zum Gästepalast zurück, Veyron blieb dagegen bei der Königin, um mit ihr die Vorbereitungen für die Reise zu besprechen.

Wie sich herausstellte, schlief Jane noch. Tom wartete eine Weile, ehe er nach den elbischen Dienern schickte, um der jungen Polizistin ein Frühstück servieren zu lassen. Danach ging er in die Stadt und versuchte seinen Ärger über Veyrons Verhalten, durch zielloses Umherschweifen loszuwerden.

Erst am Nachmittag kehrte er zurück. Jane und Veyron warteten bereits auf ihn. Sie war erst gegen Mittag aufgewacht und hatte danach ein ausgiebiges Bad genossen. Jetzt, wo die drei wieder beisammen waren, verkündete Veyron, dass sie Fabrillian morgen früh verlassen würden.

»Schade«, seufzte Jane. »Ich hätte es hier sicher noch ein paar Tage ausgehalten, vielleicht sogar ein paar Wochen – oder Monate. Aber Sie haben sicher recht. Wir gehören in unsere Welt. Dort wird man uns sicher schon vermissen.«

Veyron schüttelte verneinend den Kopf. »Irrtum, Willkins. Wir kehren nicht in unsere Welt zurück, wir gehen nach Gloria Maresia und legen Consilian und seinem Orden der Medusa das Handwerk.«

Jane kämpfte einen Moment sichtlich mit der Überraschung und verschränkte ablehnend die Arme vor der Brust.

»Moment! Tom muss wieder in die Schule, das können Sie nicht machen. Wir hatten ein Wochenende vereinbart, und das ist jetzt um.«

»Wir hatten gar nichts vereinbart. Tom machte zwar den Vorschlag für einen Wochenendausflug, aber ich sagte dazu gar nichts«, entgegnete er mit unerbittlicher Schärfe in der Stimme. »Leben sind in Gefahr, Willkins. Da werde ich nicht einfach stillhalten und zusehen, wie das Unrecht um sich greift. Zudem besteht kein Grund zur Sorge. Vor unserer Abreise, habe ich Inspektor Gregson über alles informiert und ihn gebeten, bei Richter Stevenson einen Antrag für ein Zeugenschutzprogramm einzureichen. Offiziell sind wir aus Sicherheitsgründen untergetaucht, mit Wissen und Genehmigung der Behörden. Das bedeutet: keine Schule für Tom und ein verlängerter Urlaub für Sie.«

Jane war sprachlos, auch Tom wusste nicht, was er sagen sollte. Die Worte „keine Schule“ lösten jedoch sofort Begeisterung in ihm aus. Er gab einen verhaltenen Jubelschrei von sich und rief dabei ein kurzes Lächeln auf Veyrons Lippen. Jane wirbelte wutentbrannt herum und stapfte auf die andere Seite des geräumigen Gästezimmers. Sie blickte aus den Fenstern auf den Palastgarten hinunter.

»Es stimmt, Sie sagten ja von Anfang an, Sie würden ein paar Wochen ausbleiben. Sie haben mich hereingelegt! Sie wussten wie Sie mich provozieren konnten, damit ich mitkomme. Von wegen „sagen Sie mir, Willkins, haben Sie England eigentlich jemals verlassen?“. Ihr ganzes arrogantes Gehabe, alles nur Schauspielerei, stimmt’s? Und jetzt haben Sie mich hier in der Falle«, warf sie ihm vor. Bereits im nächsten Augenblick war ihr Zorn jedoch schon wieder verraucht. Sie seufzte.

»Also gut. Menschenleben stehen auf dem Spiel. Wir sind die einzigen, die sie retten können, nehme ich an. Das ist ja mein Job als Polizistin, nicht wahr? Meine Berufung. Okay, wann geht es los?«, fuhr sie einen Moment später fort, die Stimme voller Resignation. Es kostete sie sichtlich einige Überwindung, sich ausgerechnet Veyron Swift geschlagen zu geben.

Abends speisten sie noch einmal am Tisch Girians. Diesmal war die Runde sehr klein, bestand nur aus der ewig jungen Elbenkönigin, Faeringel, Iulia und den drei Besuchern aus der Menschenwelt. Sie besprachen die Reiseroute, und wie lange sie unterwegs sein würden. Die Prinzessin fragte vorsichtig nach, ob sie nicht eine Kutsche nehmen könnten oder ob es wenigstens Sklaven gäbe, die ihr beim Tragen halfen. Girian lachte darüber nur amüsiert. Beschämt blickte die junge Maresierin in eine andere Richtung.

Jane gefiel dieses königliche Gehabe der Prinzessin gar nicht. Kaum waren sie wieder allein, ließ sie Veyron und Tom wissen, wie wenig ihr die Idee gefiel, diese Iulia mitzunehmen.

»Die wird uns mit ihrer Jammerei noch die Ohren vollheulen. Wahrscheinlich macht sie sich jetzt schon Sorgen um Ihre Fingernägel«, brummte sie.

Veyron warf ihr einen schelmischen Blick zu.

»Unwahrscheinlich. Ihre Fingernägel sind genauso sorgfältig gestutzt wie die Ihren – und dabei nicht einmal lackiert«, erwiderte er im beiläufigen Ton. Jane funkelte ihn zornig an, doch Veyron lachte darüber und verabschiedete sich. Sie mussten früh raus. Es wäre besser, sie gingen jetzt alle zu Bett, wie er meinte.

Am nächsten Morgen brachen sie auf, von den Elben mit vielen freundlichen Worten verabschiedet. Alle hatten sie dicke Winterjacken an, Veyron seinen weiten, schwarzen Ausgehmantel und Iulia einen Umhang aus Fuchsfell. Während alle anderen Rucksäcke tragen sollten, nahm Veyron nichts anderes mit, als seine altmodische, karierte Reisetasche.

»Was haben Sie denn da drin, dass Sie sich selbst jetzt nicht von dem Teil trennen wollen«, fragte Jane neugierig.

»Ein paar nützliche Kleinigkeiten, Willkins, die sich für den Lauf der Operation vielleicht als unverzichtbar herausstellen werden«, antwortete er und tätschelte liebevoll den faserigen Filz der Tasche.

Jane schüttelte verständnislos den Kopf, während Tom nur mit den Schultern zuckte. Er kannte seinen Paten und wusste, das Veyron niemals etwas ohne tiefere Absicht tat.

Faeringel hatte sich einen großen Lederbeutel um die rechte Schulter gehängt, dazu noch einen langen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Prinzessin Iulia stand ratlos vor dem großen Rucksack, den ihr Girians Zofen gepackt hatten.

»Muss ich den auf dem ganzen Weg nach Gloria Maresia tragen«, fragte sie unsicher. Fast flehentlich warf sie einen Blick auf die Königin, die als Antwort darauf, nur ein vielsagendes Lächeln zeigte. Faeringel trat zu Iulia und schulterte den Rucksack ohne weiteren Kommentar. Anschließend verbeugte er sich knapp vor seiner Herrin.

»Wir brechen nun auf. Lebt wohl, Tiarne. Ich werde euch über alle Geschehnisse auf dem Laufenden halten«, verkündete er.

Girian verbeugte sich ihrerseits, ebenso all ihre Zofen.

»Kehrt heil zurück und möge Euch Erfolg beschieden sein. Lebt wohl allesamt!«, verabschiedete sie sich. Faeringel drehte sich um und marschierte los, gefolgt von Veyron. Tom verbeugte sich vor der Königin und eilte den beiden hinterher. Iulia tat es Tom gleich, bedankte sich für die Gastfreundschaft der Talarin, dann schloss sie zu den anderen auf. Jane schaute ihr dabei missbilligend zu. Zuletzt wandte auch sie sich noch einmal an die Königin. Girian erwiderte ihren Blick unerwartet ernst.

»Lebt wohl, Lady Jane. Gebt Acht: Dinge werden geschehen, die Euch fordern werden. Wählt darum alle Entscheidungen mit Bedacht und zeigt Vertrauen, auch wenn Euch das schwerfallen mag. Diese Reise wird Euch verändern, Ihr werdet nicht mehr dieselbe sein, wenn Ihr zurückkehrt.«

Jane war ein wenig überrumpelt. Sie nickte nur und beeilte sich, die anderen einzuholen. Der Blick der Königin gefiel ihr gar nicht, es kam ihr so vor, als hätten diese eisblauen Augen ihren Körper durchdrungen und binnen eines Augenblicks ihre ganze Seele erforscht. Offenbar hatte Girian dort etwas gefunden, dass sie besorgte. Jane hatte keine Ahnung, was es sein konnte. Das bereitete ihr ein wenig Angst. Was war, wenn sie im entscheidenden Moment die falsche Entscheidung traf?

Sie folgten dem Verlauf des Bruchs, jener gewaltigen Klippe, die Fabrillian von Ost nach West durchzog und in eine nördliche und eine südliche Landeshälfte teilte. Sie hatten ein phantastisches Panorama zu beiden Seiten. Im Norden lagen die Hügel, mit ihren glitzernden Seen und Flüssen, dahinter die Wälder an den Hängen der Berge, rot und golden schimmernd. Im Süden konnten sie bis an die weißen Strände sehen und auf das Nebelmeer, das in der Ferne in weißem Dunst verschwand.

Faeringel und Veyron gingen voraus. Sie legten ein ordentliches Tempo vor, bei dem Tom, Iulia und Jane Mühe hatten, mitzuhalten. Manchmal mussten sie laufen, um zu den beiden wieder aufschließen.

»Das ist ein Witz«, schnaufte Jane verärgert. »Mir geht die Luft aus, während Swift weiterrennt, als wäre es nur Morgensport. Ich muss mit dem Rauchen aufhören.«

Janes Laune blieb für den Rest des Tages im Keller. Sie fing immer öfter an, über das ganze Abenteuer zu murren. Zudem bedachte sie Iulia laufend mit misslaunigen Blicken, wenn die Prinzessin um Pausen bat oder stehenblieb und die Landschaft Fabrillians bewunderte.

Sie marschierten zwei weitere Tage am Bruch entlang, bis die Landschaft schließlich deutlich anstieg. Sie näherten sich dem gewaltigen Gebirge, das Fabrillian fast vollständig umschloss und von der Außenwelt abschottete. Das Himmelmauergebirge wurde es genannt, Minir Afirmur auf der Sprache der Talarin. Giganten wie der Mount Everest reihten sich hier zu Dutzenden aneinander. Viele waren so hoch, dass ihre Gipfel die Wolken wie Speerspitzen durchstießen. Es hieß, diese Berge seinen unpassierbar. Steilwand neben Steilwand, wie die unvorstellbar gewaltigen Zähne einer Gottheit.

»Seht nur wie winzig und unbedeutend wir sind«, sagte Veyron auf einmal. Er blieb stehen und deutete auf die gewaltigen, im Sonnenlicht glitzernden Gletscherwände. »Die Himmelmauerberge werden noch da sein, wenn wir längst tot und all unsere Abenteuer vergessen sind. Unser ganzes Planen, Tun und Wirken bedeutet für diese Berge nichts. Wären sie lebendig, sie würden uns auslachen, weil wir Menschlein uns so wichtig nehmen und wahrhaftig glauben, wir könnten den Weg der Welt bestimmen. Dabei können wir nur demütig aufschauen und uns daran erinnern, dass es Mächte auf der Erde gibt, die sich allen Plänen und allem Tun entziehen, Mächte, die weit über uns stehen.«

So melancholisch und nachdenklich hatte Tom seinen Paten schon lange nicht mehr erlebt. Tatsächlich blieb Veyron fast eine gefühlte Ewigkeit an Ort und Stelle stehen. Er tat nichts anderes, als das gewaltige Panorama zu bewundern. Die Luft war kalt und klar, der Blick reichte über ganz Fabrillian hinweg, von West nach Ost, nach Norden und Süden. Über ihnen zogen einige weiße Wolken gemächlich über den blauen Himmel. Erst als Tom Veyron auf die Schulter klopfte und ihn so aus seiner Starre weckte, ging der Marsch weiter.

Iulia wurde derweil immer langsamer, ihr Kopf wandte sich von einer Richtung zur anderen. Sie bestaunte die Himmelmauerberge und die Aussicht auf Fabrillian. Jane folgte ihr, da sie sichergehen wollte, dass ihnen die junge Frau nicht irgendwo verloren ging. Immerhin war sie ja der Grund für diese irrsinnige Expedition.

»Wie schön es hier ist. Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so nah an so großen Bergen. Seht nur, ich kann die Gletscher sehen, mit ihren glitzernden Ebenen und den tiefblauen Spalten, die sie wie die Falten einer uralten Frau durchziehen. So alt und so mächtig, so schön und edel. Aber ich werde froh sein, wenn ich wieder in meiner Heimat bin und dieses Abenteuer ein Ende hat«, sagte die Prinzessin.

Jane schnaubte verächtlich. »Ach, jetzt plötzlich? Warum haben Sie sich dann überhaupt auf dieses Abenteuer eingelassen?«

»Ich dachte, ich könnte etwas Gutes bewirken. Ich weiß, es war ein Fehler. Ich hätte zu Hause bleiben sollen und tun, was von mir erwartet wird. Ich bin eine kaiserliche Prinzessin, Enkeltochter des Augustus von Maresia. Ich bin nicht für Abenteuer geschaffen, Abenteuer sind nur etwas für Männer.«

Jane lachte auf, als sie das hörte. Meinte diese Iulia das tatsächlich ernst?

»Jetzt erzählen Sie mir bloß noch, dass Ihr Platz am heimischen Herd ist, dass es Ihre Aufgabe ist, Ihren Mann glücklich zu machen und seine Kinder großzuziehen«, verhöhnte Jane die maresische Prinzessin.

»Nein, das nicht. Mein Mann – mein ehemaliger Gatte – sitzt im Kerker auf Loca Inferna. Aber eines Tages werde ich von Neuem verheiratet, mit dem nächsten Erben des Kaiserthrones. Ich werde die Kaisergattin sein, die Augusta. Ich werde über eine Vielzahl von Sklaven und Sklavinnen gebieten, Feste und Empfänge vorbereiten. Ich werde zu entscheiden haben, wann und was bei den Mahlzeiten aufgetischt wird. Ich werde mich um die Ausbildung meiner Kinder kümmern, Lehrer und Philosophen auswählen um meine Söhne zu unterrichten und meine Töchter in der Hauswirtschaft anleiten. Sie müssen zu guten Ehefrauen erzogen werden, Lesen und Schreiben lernen, vielleicht noch Kunst und Philosophie, meine Söhne Rhetorik und Politik. Falls sie begabt sind, auch musischen Unterricht. Für all diese Dinge wurde ich erzogen, das ist es, was man von einer künftigen Augusta erwartet«, erklärte Iulia mit einem dermaßen erschreckenden Selbstverständnis, dass es Jane ein wenig fröstelte. Sie zog die dicke Daunenjacke enger um ihren schlanken Körper.

»Das verstehe ich nicht. Warum lassen Sie sich überhaupt verheiraten? Können Sie denn nicht wählen wie Sie Ihr Leben gestalten? Was ist mit Liebe? Warum heiraten Sie nicht jemanden, den sie lieben?«

Iulia warf Jane einen überraschten Blick zu.

»Das spielt keine Rolle. Ich werde den Mann heiraten, den mein Großvater für mich aussucht – einen Senator vielleicht, auf jeden Fall jemanden von allerhöchstem Adel. Eventuell sogar Consilian, falls der Augustus sich entscheidet, ihn zu adoptieren und zum Erben des Throns zu ernennen.«

Jane lachte verhalten und schüttelte den Kopf.

»Ich könnte das nicht«, sagte sie. »Sie leben praktisch in Gefangenschaft und lassen sich Ihr ganzes Leben von anderen Männern diktieren, oder von Ihrer Mutter, oder von sonst irgendjemand. Wo bleiben Sie bei der ganzen Sache? Was ist mit Ihren Wünschen, Ihren Träumen, Ihren Sehnsüchten? Ich könnte niemals so leben, ich lasse mir kein Schicksal aufzwingen. Ich entscheide selbst. Ich bin Polizistin geworden, obwohl mein Vater mich lieber irgendwo im Büro einer Bank gesehen hätte. Ich bin frei und treffe meine eigenen Entscheidungen.«

Iulia maß sie mit einem fast vorwurfsvollen Blick.

»Fernwelt ist ein sonderbarer Ort, mit sonderbaren Gebräuchen. Ich traf dort keine Frau, die einer Matrone Maresias entspräche. Fast alle Frauen Eurer Welt tragen Hosen, manche arbeiten sogar als Ärztinnen und wagen es, den Männern Anordnungen zu erteilen wie sonst nur den Sklaven. Es ist ein seltsames Leben, in der keine maresischen Konventionen gelten. Mir hat dies Angst bereitet.

Ich weiß, Ihr seid mit den Sitten Maresias nicht einverstanden, ich sehe es Euch an. Alles was ich sage, stört Euch, alles was ich tue, ruft ein Kopfschütteln hervor. Ihr seid so ganz anders, als ich es bin. Ich weiß, das sollte es nicht, aber Ihr fasziniert mich, Jane Willkins. Ihr seid wie eine Löwin, wild und ungezwungen. Ihr ordnet Euch niemanden unter, Ihr lasst Euch nichts gefallen, niemand kann Euch den Mund verbieten. Ihr seid wirklich frei, da sind keine hohen Erwartungen, die Euch fesseln. Darf ich Euch darum etwas fragen?«

Jane bejahte das. Natürlich konnte die Prinzessin sie alles fragen, solange es nicht zulange dauerte, um zu antworten. Sie wollte dieses Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die drei Jungs waren schon wieder weit voraus, Iulia und sie sollten nicht noch weiter zurückfallen.

»Seid Ihr glücklich?«

Jane überlegte. Sie war sofort versucht mit „Ja“ zu antworten, aber der intensive, erwartungsvolle Blick der Prinzessin ließ sie stutzen. Sie hatte sich diese Frage schon öfter selbst gestellt, im Stillen – vor allem in letzter Zeit. War sie glücklich?

»Willkins, Prinzessin Iulia! Wir haben es einigermaßen eilig, wenn ihr beide also bitte aufschließen würdet«, riss sie Veyrons Stimme aus den Gedanken.

Jane verdrehte verärgert die Augen und stapfte weiter, Iulia die Antwort schuldig bleibend. Die Prinzessin folgte ihr enttäuscht.

Faeringel erklärte ihnen, dass noch kein Mensch die Himmelmauerberge überschritten hatte, auch die meisten Elben nicht. Es gab jedoch ein paar geheime Pfade, über die man von einer Seite zur anderen gelangen konnte.

»Im Nordwesten führt die Regenbogengrotte unter dem Gebirge hindurch. Doch müssten wir zweihundert Meilen in den Norden marschieren und wären viele Tage unterwegs. Aber auch hier, im Südwesten, gibt es einen uralten Pfad, mitten durch einen Berg hindurch, nicht mehr als ein schmaler Spalt. Als vor dreitausend Jahren der Bruch entstand, der unser Land in zwei Hälften riss, da brach auch einer der Felsgiganten mitten auseinander und schuf diesen Weg. Keine vier Mann können dort nebeneinander gehen, darum ist er von außen nahezu unsichtbar. Wir Talarin nennen ihn „die Schlucht der Nacht“, denn nur einmal am Tag scheint das Licht der Sonne hinein, ansonsten ist es meist stockdunkel, wegen des Schattens des Berges. Aber wenn wir auf die andere Seite wollen, ist das der schnellste Weg.«

Der Aufstieg zum Eingang der Schlucht brauchte fast den ganzen Tag und vor sich hatten sie nun einen schwarzen Schlund, der mitten durch das Felsgestein führte. Links und rechts ragten senkrecht und glatt die Wände des gespaltenen Berges kilometerweit auf, in der Sprache der Talarin Min Carach genannt. Das Ende des Spalts lag irgendwo oben in den Wolken. Tom schauderte, auch Jane zeigte wenig Begeisterung, da hineinzugehen. Wie üblich schienen solche Ängste Veyron Swift und Faeringel gänzlich unbekannt. Sie traten durch den Eingang und nach ein paar Metern verschwanden sie in der Finsternis.

»Es ist ja nur ein Spalt im Fels«, meinte Tom mit einem Schulterzucken. Erneut folgten seine Blicke dem steil aufragenden Min Carach. »Was soll da schon passieren?«

Er trat vor, Jane und Iulia folgten ihm. Der Eindruck vollkommener Finsternis täuschte, sobald man tiefer in die Spalte vordrang. Es herrschte ein Zwielicht, dass immerhin eine Sicht auf wenige Meter ermöglichte. Wenn Tom nach oben schaute, fand er nur dunkelgrauen Fels, soweit das Auge reichte. Vom Himmel war gar nichts zu sehen, dennoch schien das wenige Licht irgendwo von ganz weit oben herunterzufallen.

Wie Faeringel gesagt hatte, erwies sich der Weg als sehr schmal. Sie kamen nur im Gänsemarsch vorwärts. Der Boden war glatt, nur wenige Felsbrocken bildeten kleine Hindernisse, an denen sie sich vorbeiquetschten mussten.

Mit Fortschreiten des Tages wurde es immer dunkler und bald konnten sie mit dem bloßen Auge fast nichts mehr erkennen. Aus seinem Lederbeutel holte Faeringel nun ein paar kleine Lampen hervor, in denen silberne Kristalle, anstelle von Kerzen leuchteten. Er gab jedem eine, anschließend setzten sie den Weg fort. Die Elbenlampen waren leicht und angenehm warm. Als Tom einmal das Glas der Lampen berührte, verbrannte er sich gar nicht. Ein weiteres kleines Wunderwerk aus dem sagenhaften Land Fabrillian.

Es wurde rasch immer dunkler, das Grau der Felswände verwandelte sich in Schwarz. Mit jedem Augenblick schienen die Wände näherzukommen, als wollten sie die fünf Wanderer zerquetschen. Jeder Atemzug wurde zur Anstrengung, zu einem Schnauben und Keuchen, dass von den glatten Felswänden vielfach reflektiert wurde. Es klang, als wurden hunderte, nein – tausende fremder Wesen um sie herum leise atmen. Einige schienen sie sogar anzustarren, glitzernde Punkte in vollkommener Dunkelheit – wie Augen.

»Alles nur Einbildung«, sagte sich Tom. Hinter ihm drängten sich die beiden Frauen enger zusammen, sagten jedoch nichts. Tom wurde langsamer, darum versucht, dass Jane und Iulia möglichst dicht bei ihm blieben. Die Furcht, die sie alle gepackt hatte, war deutlich zu spüren. Ein innerer Instinkt riet ihnen, umzudrehen und davonzulaufen. Tom blickte nach vorne zu Faeringel und Veyron. Ob auch sie diese drängende Angst verspürten? Hörten sie das fremde Atmen, sahen sie die vielen glitzernden Augen?

Plötzlich glaubte Tom Bewegungen in den Felsen auszumachen. Zunächst vermochte er nicht zu sagen, was es war. Er wurde noch langsamer, engte die Augen zu Schlitzen zusammen, um das Ganze besser erkennen zu können. Da waren eindeutig Bewegungen zu sehen, ein Huschen in der Nacht, ein Kratzen am Fels, tapsende Schritte.

Und überall diese Augen.

Irgendetwas saß in den kleinen Spalten und Ritzen, bewegte sich hinter Felsbrocken und Steinen. Er leuchtete von links nach rechts, aber jedes Mal, wenn der helle Schein seiner Lampe auf etwas fiel, war nichts zu sehen. Er konnte jedoch deutlich erkennen, wie dunkle Schatten davoneilten, wenn sich das Licht näherte.

»Einbildung, Thomas Packard, alles nur Einbildung«, murmelte er, um sich selbst Mut zu machen. Von Faeringel und Veyron war nur noch der Schein ihrer Lampen zu erkennen. Sie mussten weit voraus sein.

»Was ist los? Geh endlich weiter«, flüsterte Jane hinter ihm und schubste ihn vorsichtig vorwärts.

Ja, weitergehen. Wir müssen einfach nur weitergehen.

Mit mulmigem Gefühl setzte er einen Fuß vor den anderen, genau darauf achtend, wohin. Jane war dicht hinter ihm.

»Hast du es auch gesehen«, fragte er.

Jane brummte leise. »Bewegungen an den Wänden, Schatten hinter den Felsen. Ich kann es ganz deutlich sehen, Tom. Wir sind hier nicht allein.«

Iulia schnaufte laut, Tom glaubte ein Zittern in ihrer Stimme zu hören, als sie sprach:

»Ich sehe es ebenfalls. Da! Gerade war da etwas hinter diesem Felsbrocken. Es verfolgt uns, ich weiß es. Lasst uns an die Götter beten, dass es nicht die Medusa ist.«

Faeringel und Veyron marschierten einfach weiter. Sie unterhielten sich über die verschiedensten Dinge, ihre Stimmen wurden von dem anhaltenden Echo verzerrt und ihre Worte für jeden Zuhörer unverständlich. Von den unheimlichen Schatten schienen sie nichts bemerkt zu haben.

Iulia, Jane und Tom fielen dagegen immer weiter zurück.. Sie machten keinen Schritt, ohne nicht vorher alles genau ausgeleuchtet zu haben. Iulia murmelte auf Latein irgendwelche Reime. Die einzigen Worte, die Tom verstand, waren immer wieder „Iuppiter“, „Iuno“ und „Orcus“. Gebete, dachte er. Ich bezweifele, dass sie uns helfen werden.

Auf einmal stießen sie auf einen großen Felsbrocken, der mitten auf dem Weg lag. Tom war sicher, dass er vor einen Moment noch nicht da gelegen hatte. Irgendwie sah dieses Ding auch gar nicht richtig nach einem Felsen aus. Tom streckte die Faust mit der Lampe weit nach vorn, versuchte dieses Etwas genau anzuleuchten. Jane mahnte flüsternd zur Vorsicht, Iulia wimmerte voller Furcht. Tom kam vorsichtig näher. Das Ding war lebendig, keine Frage. Er konnte erkennen, wie Muskeln zitterten und er glaubte Füße und Klauen zu erkennen, doch keinen Kopf. Irgendein großes Tuch aus schwarzem Leder verhüllte den Großteil des Körpers des Wesens.

»Hallo? Wer bist du? Ich bin Tom, ich will dir nichts tun«, rief er die schattenhafte Kreatur an. Janes Atem blies ihm stoßweise in den Nacken, ihr Zittern war deutlich zu spüren.

Mit vorgestreckter Lampe trat er auf die Gestalt zu, das Herz schlug ihm fast bis zum Hals. Das Wesen vor ihm rührte sich, zog das ledrige Tuch noch fester um den Körper, als würde es das helle Licht der Lampe blenden. Tom war verdutzt, senkte die Hand ein wenig, nur um herauszufinden, was die Kreatur als nächstes machen würde.

Sie griff an!

Mit einem entsetzlichen Kreischen sprang das Wesen vor, spannte gewaltige Fledermausflügel auf. Mit vorgestreckten Klauen stürzte es sich auf Tom. Schimmernde Katzenaugen funkelten ihn an, ein furchtbares, entstelltes, aber menschenähnliches Gesicht kam ihm entgegen, die Eckzähne entsetzlich verlängert und im Schein der Lampe blitzend.

Tom ließ sich zurückfallen. Er schrie voller Panik, schlug mit der Lampe zu. Ein Vampir! Ein Vampir griff sie an, mitten im Reich der Elben. Tom stürzte zu Boden, schlug hart auf, hob sofort die Lampe, um seinen Angreifer sehen zu können. Doch da war nichts, der Vampir war verschwunden. Dafür hörte er nun Jane gellend aufschreien. Sofort sprang er auf und wirbelte zu ihr herum.

»An den Wänden, Tom! Schau nur! Die Wände bewegen sich«, schrie sie und prallte mit ihm zusammen. Fast wären sie beide gestürzt, aber Tom konnte die Balance wahren und hielt Jane fest. Iulia fiel auf die Knie, breitete die Hände zum Himmel aus und schrie in panischer Angst zu ihren Göttern. Tom verstand kein einziges Wort, im Schein der Lampen konnte er jedoch ihr von Panik verzerrtes Gesicht sehen und die Tränen, die über ihre zitternden Wangen liefen.

Er leuchtete die Felswand hinauf. Tatsächlich! Kreaturen kamen an den Steilwänden heruntergeklettert, tausende davon. Er konnte riesige Spinnen sehen, schwarz wie die Nacht und groß wie Fernsehsessel. Hundertfüßer mit langen Giftzähnen krochen zwischen den Felsen herum – und anderes insektenhaftes Getier, riesige Ameisen und Heuschrecken. Es wurde gezirpt, gequietscht und leuchtendes Gift troff von überall herab. Tom packte Jane am Arm, schob sie tiefer in die Schlucht hinein, während er mit der anderen Hand die Prinzessin an der Schulter packte und versuchte, sie mit sich zu ziehen. Sie mussten zu Faeringel und Veyron, um mit ihnen Rücken an Rücken zu kämpfen.

Ganz zu seinem Schrecken sah er plötzlich koboldhafte Schrate die Wände herunterkommen. Er hörte sie krächzen, geifern und kichern. Alle waren sie schwarz und grau wie die Felsen. Sie schienen sogar aus Stein gemacht zu sein. Gierig streckten sie ihre langen Arme nach den drei Menschen aus. Durch die Luft segelten Vampire, sprangen von einer Wand zur anderen und wollten ihnen den Weg abschneiden. Ihr raubtierhaftes Fauchen erfüllte die ganze Schlucht. Sie waren in eine Falle geraten!

Im nächsten Moment waren Faeringel und Veyron zur Stelle.

»Zurück, ihr Teufel!«, brüllte der Elbenjäger mit mächtiger Stimme. Er hob seine Lampe, ein blendend heller Lichtschien fiel auf die zahllosen Unwesen, ließ sie zusammenzucken und die Flucht ergreifen.

»Cilio uir Darchoroni! El Gil er Talarin uir cluifo rui!«, rief er auf Talarinarin, der Sprache der Elben Fabrillians. Zurück ihr Anhänger der Finsternis! Das Licht der Talarin wird euch treffen!

Im Nu huschten all die grauenhaften Wesen zurück in die Dunkelheit. Vampire, Schrate, Spinnen – nichts und niemand wagte Widerstand zu leisten.

Es verging keine halbe Minute und die Schlucht war so ruhig und friedlich, als wäre nie etwas gewesen. Tom, Iulia und Jane schnauften wie drei alte Dampfkessel, sie zitterten am ganzen Körper.

»Was … was war das«, keuchte Jane.

Faeringel trat an sie heran, berührte sie an der Schulter und reichte ihr einen kleinen Trinkbeutel.

»Die Schatten der Nacht, die Geister all jener armseligen Kreaturen, die der Dunkle Meister vor tausend Jahren in diese Schlucht hetzte, um unser Reich anzugreifen. Er wollte die ganze Welt erobern und Fabrillian war das letzte Bollwerk der Freiheit. Als er keinen Weg fand, um seine Armeen über das Gebirge zu bringen, ließ er die Himmelmauerberge jahrelang belagern. Schließlich entdeckten seine Truppen diesen Pfad und wagten sich hinein. Aber hier können keine vier Männer nebeneinander stehen, wenn sie Schild und Speer tragen. Kämpfen ist gar zur Gänze unmöglich. Sie fielen wo sie standen, tausende von Schraten und ihre Kommandanten, die Vampire. Auch allerhand anderes übles Getier, das der Dunkle Meister für seinen Krieg züchtete, wurde von den Kriegern Fabrillians und den Simanui erschlagen. Wenn auch ihre Leiber längst verrottet und beseitigt sind, so blieben ihre Seelen dennoch hier gefangen.

Seit tausend Jahren treiben diese Geister nun schon ihr Unwesen, wenn es Nacht wird. Sie fürchten das Licht, dabei wäre das ihre Erlösung. Sie müssten nur dem Licht folgen und ihre Seelen wären frei und fänden Frieden. Ach, es sind traurige Gestalten. Obwohl sie vor tausend Jahren unsere Feinde waren, so erbarmen uns Talarin heute diese Seelen. Sie ernähren sich von der Furcht anderer, deshalb haben sie euch angegriffen. Sie vermögen euch keinen körperlichen Schaden zuzufügen, doch in den Wahnsinn könnten sie euch treiben. Darum habt keine Furcht, haltet euch einfach an das Licht«, erklärte Faeringel.

Jane nahm einen kräftigen Schluck aus dem angebotenen Beutel. Augenblicklich hörte sie zu zittern auf. Sie atmete tief durch, ihre Gesichtszüge entspannten sich. Sie bedankte sich bei Faeringel, der anerkennend nickte. Er reichte den Trinkbeutel an Iulia, die ihn zitternd in ihre verkrampften Finger nahm und gierig trank.

»Ich schlage vor, mir machen hier Rast«, sagte Veyron schließlich, der dem Ganzen ohne jede Regung zugesehen hatte. Er ließ sich nicht anmerken, ob ihm diese unheimliche Begegnung ebenfalls Angst eingejagt hatte, oder ob er Tom, Iulia und Jane heimlich auslachte.

»Es gibt hier doch auch am Tage kaum Licht, wonach sollen diese Schreckgespenster sich denn richten«, fragte Tom, der sich immer noch unwohl fühlte. Auch er wollte einen Schluck Elbentrank.

Faeringel, der seine Gedanken zu erraten schien, reichte ihm den Trinkbeutel. Er deutete nach oben und Tom folgte dem Fingerzeig. Viele Kilometer über ihnen konnte er einen schmalen Streifen Nachthimmel ausmachen. Sterne glitzerten dort, unheimlich viele davon.

»Das Licht der Sterne weist den Weg. Schon immer bewunderten die Talarin es, so wie alle Elbenvölker. Doch die Diener der Finsternis fürchten Sternenlicht genau wie Mondschein, fast so sehr wie Sonnenlicht. Selbst heute noch. Sind es nicht armselige Kreaturen, die alles Schöne fürchten?«

Faeringel machte aus einem Bündel Reisig und ein paar Holzscheiten ein kleines Lagerfeuer. Die fünf Lampen stellten sie um ihre Schlafplätze auf. Veyron und der elbische Jäger schliefen rasch ein, doch Iulia, Jane und auch Tom wagten es lange nicht. Unablässig suchten ihre Augen die Wände des Min Carach ab. Heute Nacht traute sich jedoch keine der finsteren Gestalten noch einmal aus seinem Versteck.

Als Faeringel sie weckte, war es noch immer stockdunkel. Der hochgewachsene Elb versicherte ihnen allerdings, dass ein neuer Tag angebrochen wäre. Also packten sie ihre Decken in die Rucksäcke, machten sich ein kleines Frühstück und setzten den Weg schließlich fort. Faeringel und Veyron gingen wieder voran, Tom und Jane folgten ihnen. Iulia beeilte sich, diesmal nicht das Schlusslicht zu sein. Sie schwenkten ihre Lampen von einer Richtung in die andere, immer auf der Suche nach unheimlichen Schatten, die sich bewegten. Hier und da glaubten sie, die felsengleichen Geister von Schraten und Vampiren zu erkennen, hin und wieder auch eine Spinne oder irgendetwas anderes Kriechendes. Sobald der helle Schein der Lampen auf sie fiel, waren die Geister sofort verschwunden. Lange wagte keiner von ihnen zu sprechen.

»Wenn wir noch länger in dieser Schlucht festsitzen, werde ich noch erfrieren«, raunte Jane schließlich, die Stimme zitternd. Sie hatte nur sehr schlecht geschlafen, durch jedes leise Kratzen sofort aufgeweckt. Kein Wunder, dass ihr nun kälter war, als den anderen. Wortlos legte ihr Faeringel seinen Mantel um die Schultern. Jane dankte es ihm mit einem Lächeln, der Elb nickte im stillen Einvernehmen.

Tom wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Faeringel war seit ihrer Ankunft in Fabrillian stets nett und zuvorkommend zu Jane gewesen. Es war offensichtlich, dass er sie gut leiden konnte – andersherum war es sogar noch offensichtlicher. Jane konnte ihre Augen überhaupt nicht von ihm lassen.

Dabei hatte sie doch einen Freund, Alex, den Fernsehtechniker. Der selten zu Hause war, und wenn doch, sich abends in Bier ertränkte und in den Fernseher starrte. Wäre Faeringel da nicht die bessere Partie für Jane, die – nach Toms Meinung – nie Glück mit ihren Freunden hatte? Aber ein Elb war so gut wie unsterblich, eine kurzlebige Menschenfrau käme daher wohl nie für ihn in Frage, oder?

Plötzlich blieb Faeringel stehen und schaute nach oben. Er begann breit zu lächeln.

»Jetzt dürften Eure Herzen wieder ihren Frieden finden. Seht nur: die Sonne kommt heraus!«

Tatsächlich fiel ein heller Lichtschein herab und vertrieb schlagartig alle Dunkelheit. Die schwarzen Felswände wurden grau, überall glitzerten in den Stein eingeschlossene Silberadern. Iulia, Tom und Jane weiteten vor Staunen die Augen.

»Wir marschieren durch die größte Silberader der Welt und bemerken es nicht einmal«, keuchte sie, während Tom die Felswände ehrfürchtig berührte.

Veyron räusperte sich und riss die drei aus ihrer Starre.

»Wir sollten zusehen, dass wir weiterkommen. Es sei denn, ihr wollt eine weitere Nacht mit den Geistern von Kobolden und Vampiren verbringen – und den Spinnen, Willkins. Denken Sie an die Spinnen.«

»Sie sind und bleiben einfach ein Arsch«, brummte Jane. Sie rempelte Veyron an, als sie an ihm vorbeistapfte. Der nahm es gleichmütig hin und wartete, bis auch Tom und Iulia aufgeschlossen hatten.

Die Helligkeit hielt nicht einmal eine halbe Stunde, danach schien es eine weitere Ewigkeit zu dauern, ehe die Dunkelheit der Schlucht wieder vom Tageslicht vertrieben wurde. Das Ende des Pfades lag vor ihnen.

Es musste bereits Mittag sein, als sie ins Freie traten. Die Sonne stand hoch in einem wolkenlosen, blauen Himmel. Vor ihnen fiel die Landschaft steil in ein bewaldetes, hügeliges Tal ab.

Der Herbst hatte seinen Pinsel geschwungen, jeder Baum trug eine andere Farbe, von sonnengelb bis weinrot. Soweit das Auge reichte, breiteten sich die Wälder unter ihnen aus. Voller Staunen machten sie sich an den Abstieg, den finsteren Min Carach ließen sie hinter sich.

Immer tiefer drangen sie in die Wälder ein. Knöchelhoch lag das Laub unter den Bäumen, es raschelte bei jedem Schritt. Jane blieb mehrmals stehen und starrte an den Baumriesen Elderwelts hinauf, deren Kronen weit über hundert Meter in den Himmel ragten. Ihre Stämme waren silbrig und so dick wie ganze Häuser.

»Unglaublich«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll, »absolut unglaublich.«

Sie befanden sich im Waldland, den äußeren Grenzen Fabrillians, wie ihnen Faeringel erklärte. Hier wohnten viele Talarin und pflegten die althergebrachte Lebensweise im Einklang mit dem Wald. Sie wohnten in versteckten Hütten, aber auch in ausgebauten Höhlen und sogar in ganzen Siedlungen, oben in den Kronen der Baumriesen, geschickt verborgen vor allen neugierigen Augen. Doch verglichen mit den vielen kleinen Dörfern und der großen Hauptstadt Fanienna, waren das alles nur unbedeutende Enklaven.

»In den Tagen des Dunklen Meisters waren die Hänge und Hügel hier kahl, nur Gras wuchs an den Flanken der Berge. Erst nach seinem Tod, vor eintausend Jahren, kehrten die Wälder zurück. Mit ihnen wagten sich auch die Talarin wieder in jene Gegenden«, führte Faeringel weiter aus. Er nannte ihnen eine Reihe von Siedlungen und zeigte hinauf in die Kronen der Baumriesen, wo sie zu finden wären. So sehr Tom sich auch anstrengte, er konnte da oben nur dunkelrotes Blattwerk und mannsdicke Äste erkennen. Von Elben, oder gar Häusern, nirgendwo eine Spur.

Nach einer Weile kamen sie auf eine Lichtung, die bis zum Rand einer Anhöhe reichte, von wo die fünf einen weiten Blick über das Tal hatten.

In der Ferne ragten die Messerberge auf, gewaltige Felsformationen, welche die Form messerscharfer Klingen besaßen und viele hundert Meter in den Himmel ragten. Tom erinnerte sich an dieses Land, jenseits des Waldes. Dort wuchs nur dünnes Gras, dass sich grün und braun über ein Meer von kleinen Hügeln zog, unterbrochen von ein paar kleinen Flüssen. Er schnaufte angestrengt, als ihm bewusst wurde wie weit sie noch zu marschieren hatten. Allein um den Wald zu durchqueren, würden sie vier Tage oder mehr benötigen – mindestens zwei weitere für das Land der Messerberge.

»Oh Mann, wir sind ja noch Wochen unterwegs, bevor wir überhaupt in die Nähe Maresias kommen. Warum haben wir keine Pferde mitgebracht?«

Veyron warf seinem Schützling einen überraschten Blick zu.

»Ein interessanter Gedanke, Tom. Kannst du denn überhaupt reiten?«

»Nee. Und Sie? Sie können doch sicher reiten. Ich meine, Sie können doch sonst auch alles, oder?«

Veyron verzog den Mund und blickte in eine andere Richtung, mit der Absicht Tom die Antwort schuldig zu bleiben. Tom kannte dieses Verhalten bereits. Sein Pate wurde immer sehr schweigsam, wenn man eine seiner Schwächen aufdeckte. Er selbst hätte es dabei belassen, doch diesmal war Jane dabei. Und die hakte natürlich nach, was ihr ein diebisches Vergnügen bereitete.

»Sie können nicht reiten? Da jagen Sie Kobolde, Trolle und Vampire, aber Sie können nicht reiten?«

»Pferde sind nur was für kleine Mädchen. Es sind launische und unberechenbare Geschöpfe, denen man nicht über den Weg trauen kann. Genau wie Katzen, nur sind Katzen noch viel schlimmer«, grummelte Veyron. Er wandte sich mit verschränkten Armen ab. Jane warf Tom einen Blick zu, dann brachen beide in lautes Gelächter aus.

»Veyron Swift, Vampirjäger und Koboldkiller, fürchtet sich vor Pferden und Katzen«, kicherte Jane. Sie grinste noch immer, als sie den Weg fortsetzten und jedes Mal wenn ihr Blick auf Veyron fiel, fing sie wieder an. Tom fand es bald selbst ziemlich albern, auch wenn es dem arroganten, besserwisserischem Gehabe seines Patenonkels gar nicht schadete.

»Was liegt eigentlich hinter dem Land der Messerberge«, fragte er Faeringel, um endlich das Thema zu wechseln. Der Elbenjäger hatte seine Meinung zu Veyrons Pferdephobie gekonnt für sich behalten und nicht ein einziges Mal die Miene verzogen. Nun wurde sein Gesicht jedoch traurig. Er seufzte.

»Die Steppen von Gaghanien und dahinter die östlichen Ausläufer der Grauen Berge. Jenseits davon, weiter im Westen, liegen die kalten Wälder Carundels, unsere verlorene Heimat. Die alten Elben, von denen heute keiner mehr am Leben ist, nannten es das Herz des Elbenreiches. Früher war dies alles einmal das Land des Elbenkönigs Tirion«, erklärte er und machte mit den Armen eine weit ausholende Geste.

»Vom großen Strom im Westen, über die dichten Urwälder Turanons, bis nach Fabrillian, gehörte alles Land zu Tirions Reich. Dann kam Varaskar, der dunkle Illauri. Er brachte Tod und Verderben in die Welt. Seine Schrate jagten die Elbenvölker und schlachteten sie ab. Nur die Talarin, die hinter den Himmelmauerbergen in Sicherheit waren, blieben verschont. Tirion wurde erschlagen und sein Sohn Tarnuvil, der Fürst Fabrillians, wurde König aller Elben. Das ganze Land westlich der Himmelmauerberge war jedoch verheert und vergiftet.«

Seine Stimme wurde tief und schwer, als er von der verlorenen Heimat der Elben sprach.

Jane schloss zu ihm auf. Mitfühlend berührte sie seinen Arm.

»Ich dachte, die Illauri wären jene Zauberer gewesen, die Elderwelt von der unsrigen trennten, zum Schutz vor uns Menschen«, sagte sie leise.

Faeringel schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »So ist es auch gewesen. Doch nicht alle Illauri dienten dem Guten. Einer von ihnen wollte seine Macht lieber dazu nutzen, alles zu beherrschen. Das war Varaskar. Letztendlich wurde er jedoch von seiner eigenen Machtgier vernichtet und seine Armeen von einem Gegner bezwungen, der noch mächtiger und zorniger war, als selbst seine finstersten Schergen. Das ist jedoch eine andere Geschichte, die nichts mit Carundels Schicksal zu schaffen hat.«

Er holte tief Luft, seine eisblauen Augen starrten in die Ferne. Lange stand er unbewegt da, als könnte er durch die Hügel und Wälder hindurchblicken und das verlorene Land hinter dem Horizont erspähen.

»Schließlich erbarmte sich eine der Illauri der Not des Elbenvolkes. Es war Ayenur, die jüngste jenes großartigen Ordens. Schon immer hatte sie eine Leidenschaft für die Elben gezeigt. Oft war sie Gast in den Wäldern und lauschte den Gesängen der Alten. Während die anderen sieben Illauri in ihrem Elfenbeinturm saßen, Varaskars Treiben tatenlos zusahen und alles Übel Schicksal hießen, kam sie herab und leistete uns Beistand.

Es heißt, Ayenur legte sich auf einen Hügel und starb – doch ihre ganze Macht ließ sie in den Boden fließen und reinigte die Erde. Alles Land, das Varaskar vergiftet hatte, wurde gesäubert, die Pflanzenwelt erblühte von Neuem. Nur Carundel blieb kalt und finster, dort hatte Varaskar nämlich am schlimmsten gewütet. Seither messen sich dort zwei Kräfte und liefern sich ein immerwährendes Duell. Die Kraft des Lebens von Ayenur und die gnadenlose Macht der Zerstörung Varaskars. Während anderswo die Ernte eingefahren wird, ist es in Carundel bereits winterlich kalt. Nirgendwo fällt der Schnee so früh, nirgendwo bleiben Seen und Flüsse länger vereist. Kein Korn gedeiht auf den Wiesen, aus Spalten im Boden steigt giftiger Dampf auf. Dennoch wachsen dort Wälder. Bäume, Sträucher, Farne und Gras sprießen, trotzen allen Giftes, nur um zu verdorren und erneut zu sprießen.«

Er seufzte tief und schwer, fasste Janes Hand und drückte sie dankbar.

»Carundel blieb für alle Zeit verlassen, die Elben kehrten nie wieder zurück. Zu schmerzhaft war die Erinnerung an die Massaker durch Varaskar. Kein Elb kann an Carundel denken, ohne gegen Tränen und Trauer zu kämpfen.«

Faeringel holte tief Luft. Endlich war er imstande, weiterzugehen. Jane sagte kein Wort, auch Tom und Iulia wagten nichts zu sagen, zu bedrückend war die Geschichte des Elbenjägers gewesen.

»Ich hoffe nur, wir kommen niemals in dieses Land«, raunte Tom. Es war zwar noch ein weiter Weg, aber in diesem Fall wäre er für jeden Umweg dankbar.

Veyron Swift und der Orden der Medusa

Подняться наверх