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3. Kapitel: Mr. Nagamoto

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New York war dieser Tage kein besonders reizvoller Ort. Die Stadt versank in Regen; überall an den Straßenrändern bildeten sich kleine Bäche, die – mal schneller, mal langsamer – in die Kanalöffnungen flossen, Folgen eines Sturmtiefs, das sich seit Tagen über der Atlantikküste austobte und einfach nicht nachlassen wollte.

Nagamoto Tatsuya blickte nach draußen. Regen trommelte gegen die großen Aussichtsfenster seines Büros im dreizehnten Stock, und seine Stimmung glich dem Bleigrau des Himmels. Das Gewicht der Welt schien derzeit auf seinen Schultern zu lasten. Er musste sich der Versuche erwehren, das Unternehmen, für das er verantwortlich war, an Borgin & Bronx zu verlieren, ein ebenso reicher wie wegen seines Geschäftsgebarens gefürchteter Hedge Fonds. Hinzu kamen noch seine Gedanken, die unentwegt um Professor Lewis Daring kreisten. Die Sache mit dem Juwel des Feuers wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Am liebsten wäre er sofort nach London aufgebrochen, um die Suche dort fortzusetzen, wo er sie vor zwei Wochen abgebrochen hatte. Zuvor musste er jedoch diese Sache mit Borgin & Bronx hinter sich bringen. Die Beschäftigung mit dieser profanen Angelegenheit war ihm fast zuwider, denn im Verborgenen waren Dinge im Begriff zu geschehen, welche die ganze Welt für immer verändern würden. Die Zeit lief ihm davon! Stattdessen musste er sich mit einer Bande habgieriger Manager herumschlagen, denen jedes legale – und auch illegale – Mittel recht war, um ihre Hälse vollzustopfen.

Die treibende Kraft hinter Borgin & Bronx war dessen Hauptanteilseigner, ein Mann mit Namen H. G. W. Morgan, den angeblich noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Der Mann schien ein Phantom zu sein. Schon seit einer ganzen Weile versuchte Nagamoto mehr über diesen Morgan zu erfahren, doch wohin er sich auch wandte, er stieß immer nur auf Anwälte und Notare, die im Auftrag von Mr. Morgan handelten. Zumindest die Vorstände von Borgin & Bronx schienen ihn persönlich zu kennen, aber sie hüteten sich, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren. Es war dieser Morgan, der dem Hedge Fonds seine Unternehmensphilosophie aufgezwungen hatte.

Borgin & Bronx kauften lukrative Unternehmen (meist mit Kapital, das sie sich für günstige Zinsen bei anderen Investmenthäusern liehen), übernahmen die Aktienmehrheit und setzten weitreichende Restrukturierungsmaßnahmen durch. Mitarbeiter wurden zu Tausenden entlassen, Standorte geschlossen. Aus dem Unternehmen wurde jeder Cent herausgequetscht, der sich irgendwie einsparen ließ. Der Gewinn wurde maximiert – bei sinkenden Ausgaben und bei durchaus kalkuliert sinkender Wirtschaftsfähigkeit. Das ging so lange (meistens drei bis fünf Jahre), bis Borgin & Bronx ihre Investition refinanziert und nebenbei Dividenden kassiert hatten. Dem Hedge Fonds ging es allein um die Rendite. Wenn alles aus einem Unternehmen rausgesaugt war, wurde es zerschlagen, und war diese »Restrukturierung« erst abgeschlossen, zogen sich Borgin & Bronx aus dem Unternehmen zurück. Die rentablen Anteile wurden gewinnbringend verkauft, während das Eigenkapital vorher aus den unrentablen Teilen abgezogen wurde. Der klägliche Rest des Unternehmens ging in die Insolvenz, zu der dann Borgin & Bronx nichts mehr beitragen mussten.

Eine Bande von Vampiren. Die saugen einem das letzte Blut aus, dachte Nagamoto. Er war vor fünfzig Jahren in Osaka geboren und erst seit zehn Jahren in den Vereinigten Staaten tätig. Englisch sprach er noch immer mit Akzent, doch das gefiel ihm. Er bemühte sich auch gar nicht, seine Aussprache zu verbessern. Auf diese Weise wurde er von vielen Gegnern unterschätzt – was sich bisher stets zu seinem Vorteil ausgewirkt hatte. Seine stattliche Erscheinung, sein kantiges Gesicht mit den dunklen, vor Entschlossenheit leuchtenden Augen und dem schmalen Oberlippenbart ließen ihn wie einen grimmigen Samurai wirken, das wusste er. Manche behaupteten ihm gegenüber sogar, ohne Schlips und Anzug, könnte man ihn sich ansonsten nur mit Rüstung und Schwert vorstellen. Seine stattliche Erscheinung und sein höfliches, aber bestimmendes Auftreten verliehen ihm eine Aura des Respekts und der Autorität, die er geschickt einzusetzen wusste. Es gab nicht viele, die sich nicht sofort erhoben, wenn er den Raum betrat. Noch weniger Menschen gab es, die es wagten, sich ihm offen entgegenzustellen.

Vampirfonds. Dieser Ausdruck war genau richtig für Borgin & Bronx und traf es seiner Meinung nach besser als jeder andere Begriff für solche Ausbeuter. Jetzt war ausgerechnet die Energreen Corporation in den Fokus dieser modernen Vampire geraten. Bislang hatte Nagamoto als Mitglied des Vorstandes den Aktionären und auch dem Aufsichtsrat einen Verkauf ausreden können. Aber Borgin & Bronx gaben sich nur selten mit einem »Nein« zufrieden. Wo ein Kaufangebot als Argument nicht genügte, da trumpften sie plötzlich mit zahlreichen Annehmlichkeiten für das Management auf. Extra-Anteilspakete zum Vorzugspreis, lukrative Folgeverträge für ein »Ja« zum Verkauf. Kostenlose Urlaubsreisen zu jedem Ziel der Welt, Bordellbesuche, Luxuslimousinen, Privatjets, Villen, Jachten – Borgin & Bronx zeigten sich sehr spendabel, wenn sie etwas unbedingt haben wollten – und das war derzeit die Energreen Corporation.

Energreen war vor zwanzig Jahren als Anbieter alternativer, ökologischer Energie an den Markt gegangen. Nagamoto arbeitete schon damals bei der Firma, zunächst in Japan, danach in Australien und später lange in Europa. Seit zehn Jahren war er Mitglied des Vorstands mit Büro in New York. Er liebte Energreen. Es war eine gute Sache, für die dieses Unternehmen stand, das selbst nach zwanzig Jahren seiner Gründerphilosophie treu blieb: die Welt von morgen zu verbessern. Nagamoto bezweifelte, dass es viele Unternehmen von der Größe Energreens gab, die so viel für die Allgemeinheit taten. So hatte Energreen vor Jahren schon riesige Flächen Urwald in Südamerika und Afrika gekauft und erhalten, Milliarden in die Renovierung von Armenvierteln investiert und schulische Weiterentwicklungsprojekte überall auf der Welt ins Leben gerufen. Das alles war nun in Gefahr.

Borgin & Bronx hatten eine ihrer Geheimwaffen geschickt: Jessica Reed. Nagamoto hatte es noch mit nie einer Gegnerin wie ihr zu tun gehabt. Selbst wenn er ihren Versuchen, ihn über den Tisch zu ziehen, durchaus standzuhalten vermochte, so war er sich nicht sicher, ob das den übrigen Vorstandskollegen ebenso gelingen würde.

Heute mag ich eine Schlacht schlagen und sogar siegen, doch entschieden wird dieser Krieg nicht hier, dachte er ein wenig resigniert.

Hinter ihm öffnete sich die Tür zum Vorzimmer. Seine Sekretärin kam herein, Mary Watson. Sie war eine ältere Dame mit einem freundlichen Gesicht und smaragdgrünen Augen, die von winzigen Fältchen umspielt wurden. Sie erweckten den Eindruck, als müsste sie ständig lachen. »Ihre Gäste sind jetzt eingetroffen. Miss Reed und ihr Assistent«, meldete sie.

Nagamoto kommentierte das mit einem Brummen. »Keine Neuigkeiten von Professor Daring?«, wollte er wissen.

Mrs. Watson schüttelte den Kopf. »Keine neuen Anrufe. Ich kann weder den Professor noch seine Assistentin erreichen. Haben Sie eine Ahnung, um was es bei der Sache überhaupt geht?«

Er wandte sich von den großen Fenstern ab und blickte seine Sekretärin an. Mrs. Watson arbeitete schon seit Gründung von Energreen hier. Wahrscheinlich gab es keine loyalere oder vertrauenswürdigere Person im ganzen Konzern. Dennoch: Nagamoto konnte ihr nicht die ganze Wahrheit sagen, lediglich eine vereinfachte Version, bei der er die Details wegließ. »Er wollte Nachforschungen anstellen und mich auf dem Laufenden halten«, sagte er. »Mein Flug heute steht doch? Ich muss so schnell wie möglich nach London.«

Mrs. Watson schluckte die spärliche Auskunft ohne weitere Nachfrage. Stattdessen wedelte sie mit einigen Papieren zwischen ihren Fingern. »Sie haben Glück: Ich konnte einen Sitzplatz im schnellsten Flugzeug der Welt für Sie ergattern. Wenn Sie das Gespräch mit Borgin & Bronx nicht zu lange hinauszögern, werden Sie diesen Flug noch rechtzeitig erwischen. Hier sind die Bordkarten«, verkündete sie stolz.

Nagamotos ansonsten stoisches, ernstes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Ich danke Ihnen, Mrs. Watson. Ich werde mich doppelt anstrengen, dass Energreen unsere Firma bleibt und nicht in die Klauen dieser Vampire fällt! Es wird garantiert nicht lange dauern.«

Sie schenkte ihm ein erleichtertes Nicken und verschwand wieder nach draußen. Nagamoto stellte sich vor den großen Spiegel in seinem Büro, zupfte Krawatte und Anzug zurecht und nahm eine aufrechte Haltung an. Er atmete zweimal tief durch, sammelte seine Konzentration.

»Du hast schon ganz andere Dinge gemeistert, Tatsuya«, sagte er zu seinem Spiegelbild. »Also dann, auf in die Schlacht!«

Jessica Reed war der Typ Frau, bei dem es fast unmöglich war, sie nicht dauernd anzustarren: hochgewachsen, gertenschlank, himmellange Beine und wohlgeformte Rundungen. Sie hatte ein hübsches, schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, große blaue Augen, eine blonde Mähne, die ihr in Form langer Locken fast bis zum Gesäß reichte. Sie war die Personifizierung jedes Männertraums. Das wusste sie auch und setzte es gekonnt ein, um ihre Verhandlungspartner in die Richtung zu beeinflussen, die sie haben wollte.

Vor fünf Jahren war sie aus der Provinz nach New York gekommen, um dort Karriere zu machen. Bei Borgin & Bronx als Kundenberaterin eingestiegen, kletterte sie die Karriereleiter blitzartig nach oben. Ihren Vorgesetzten (ein perverses Schwein) hatte sie während der großen Bankenkrise bei dessen Boss wegen Unfähigkeit diskreditiert. Für ihn war sie nur der Typ Assistentin gewesen, den man zum Vorzeigen brauchte. Eine attraktive Trophäe, mit der man bei Kollegen angeben konnte, mehr nicht. Tja, heute hatte sie seinen Job. Auf diese Weise verdiente sie sich den Respekt ihrer männlichen Kollegen, die in ihr zunächst nur das Püppchen gesehen hatten. Die Chefetage erkannte schnell, dass sie ein großes Talent besaß, andere Leute zu verführen und zu manipulieren. Sie zeichnete sich nicht nur durch ihre Schönheit aus, sondern auch durch einen großen Ehrgeiz, weiterzukommen und ganz nach oben zu gelangen.

Diese Ambition, gepaart mit Hartnäckigkeit, einer gehörigen Portion Frechheit und Skrupellosigkeit, bescherte ihr schließlich den gewünschten Erfolg. Ihr war kein Trick zu frech oder zu schmutzig, um ihn nicht anzuwenden. Wenn das Ergebnis es verlangte, stieg sie auch ohne Scham mit ihren »Geschäftspartnern« ins Bett. Wichtig war ihr nur, was am Ende dabei herauskam. Das waren seit Jahren dicke Prämienzahlungen. Sie besaß eine eigene Villa, mehrere schnelle Autos (sie liebte hohe Geschwindigkeiten), einen Privatjet und einen eigenen Hubschrauber (sie war eine ganz passable Pilotin). Ein ganzer Trupp Hausangestellter wurde nur dafür bezahlt, ihre Wünsche zu erfüllen. Sie führte ein teures, ausschweifendes Leben und bereute es nicht eine Minute, diesen Weg eingeschlagen zu haben, anstatt das brave, anständige Mädel zu werden, das sich ihre Eltern erhofft hatten.

Sie lebte wie eine Königin, und genauso wurde sie auch von jedermann behandelt. Bei Borgin & Bronx wurde sie wegen ihres Talents und ihres Erfolgs hofiert, natürlich auch wegen ihres unverschämt guten Aussehens. Ihr schlug oftmals Neid entgegen, aber auch Bewunderung und Verehrung. Inzwischen besaß sie einen eigenen Assistenten, ein Würstchen, hingebungsvoll, treu ihrem Willen ergeben. Jessica tolerierte keinen Karrieretyp in ihrer Umgebung, der ihr vielleicht eines Tages gefährlich werden könnte und ihre Fehler (die sie zwangsläufig irgendwann machte) gnadenlos ausnutzen würde. Man fürchtete ihre Missgunst, obwohl sie noch keine dreißig Jahre alt war.

Der Konferenzraum von Energreen behagte ihr gar nicht. Anstatt eines spartanischen Raumes mit Tischen und Stühlen glich dieser hier einem Wohnzimmer. Die Wände waren in dunkelroter Farbe gehalten, überall hingen Gemälde japanischer Meister, die irgendwelche langweiligen Landschaften darstellten. Der Boden war mit einem weichen Teppichboden ausgelegt, und anstelle eines großen Konferenztisches gab es mehrere kleine, im Kreis angeordnete Sitzgruppen. Im hinteren Eck des Raumes blubberte eine Kaffeemaschine, auch ein Wasserbehälter war zu finden. Neben den Türen standen Grünpflanzen. Die Beleuchtung war gedimmt, um eine heimelige Atmosphäre zu schaffen. Angesichts der großen Regentropfen, die gegen die Aussichtsfenster prasselten, strahlte der Raum eine heimelige Behaglichkeit aus. Für Jessica war das jedoch sehr störend, denn das brachte sie in eine Stimmung, die sie gar nicht gebrauchen konnte. Über die vergangenen Jahre war sie eine Meisterin der Selbstbeherrschung geworden, wusste ihre Gefühle bewusst zu kontrollieren und konnte sogar auf Kommando weinen. Sie wollte sich jetzt nicht entspannen und ruhig werden, sondern aggressiv und knallhart sein.

»Hast du alle Unterlagen dabei? Was ist mit der Entwicklungsanalyse? Wehe, es fehlt etwas, Harry«, herrschte sie ihren Assistenten an, der zwei Meter weit weg saß. Jessica ärgerte sich, dass Nagamoto sie so lange warten ließ. Ein wichtiger Termin in London drängte, bei dem sie den anderen Vorstandsmitgliedern von Energreen Honig ums Maul schmieren musste.

Harry Wittersdraught öffnete den kleinen Aktenkoffer, kramte das Notebook heraus, klappte es auf und zeigte ihr die Tabellen, die er in der letzten Nacht angefertigt hatte. Der gute Harry war das genaue Gegenteil von Jessica: ein dünnes Männchen mit hängenden Schultern, leicht krummem Rücken und einem ausdruckslosen, blassen Gesicht. Er trug eine kreisrunde Brille, mit der er mehr nach Harry Potter denn nach Investmentbanker aussah. Sein Anzug saß schlecht; ständig nestelte er nervös an seinem Jackett herum. In ihren Augen war er eigentlich kein richtiger Mann, sondern eine willenlose Arbeitsdrohne. Widerstandslos ließ er sich ihren Kommandoton gefallen und erwies sich als ausgesprochen gewissenhaft und fleißig. Keinesfalls der Typ Mann, mit dem sie je eine Nacht verbracht hätte. Wahrscheinlich würde Harry sogar schreiend davonrennen, wenn sie sich vor ihm entkleidete – oder bewusstlos umfallen.

Diese boshaften Gedanken ließen ein kurzes Lächeln über ihre vollen, kirschroten Lippen zucken. Zum Glück bemerkte es Harry nicht, der für gewöhnlich so etwas sofort falsch verstand. Sie wusste, dass er gern in ihrer Nähe war. Vielleicht hegte er romantische Gefühle, aber er war ein zu großer Feigling, als dass er das jemals zugeben würde. Wahrscheinlich ertrug er ihre Gemeinheiten deshalb mit solchem Gleichmut. Ihr war es egal, solange er funktionierte.

»Alles da, Jessica. Das sind die Wachstumskurven; die manipulierten Kurven sind die hier. Aber sei vorsichtig: Nagamoto ist wild entschlossen, einer Übernahme keinesfalls zuzustimmen. Eigentlich können wir das Ganze sofort abblasen und zusehen, dass wir unseren Flieger noch erwischen«, sagte Harry. Seine Stimme war ebenso schwächlich wie seine Gestalt – leise, heiser und fast piepsig hell.

Jessica atmete scharf aus und sah ihn direkt an. Er hielt ihrem Blick nicht lange stand. »Habe ich dich nach deiner Meinung gefragt? Hier springt ein dicker Bonus für mich raus, wenn ich es schaffe, Nagamoto rumzukriegen. Den Flieger erwischen wir schon noch, der soll gefälligst warten«, blaffte sie.

Wittersdraught rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. »Da gibt es ein kleines Problem«, meinte er halblaut und erntete ein zorniges Stirnrunzeln. »Ein Sturmtief über dem Atlantik, schon seit einer Woche. Es will einfach nicht weiterziehen. Auf jeden Fall wurden viele Flüge gestrichen. Fast kein Privatjet bekommt Starterlaubnis, auch der unsere nicht«, erklärte er.

Für einen kurzen Moment wurde sein Wesen von so etwas wie Stolz und Größe beseelt. Wenn er auch sonst unbeholfen und unterwürfig war, Wittersdraught war ein wahres Lexikon. Ihn konnte Jessica nach fast allem fragen, sein Wissensvorrat schien nahezu unbegrenzt. Zu ihrer Erleichterung machte er daraus nicht mehr.

»Sag bloß, das heißt, ich muss Linie fliegen? Harry, das geht gar nicht! Da stehe ich wie eine Idiotin gegenüber den anderen da. Niemand fliegt heute noch Linie, nur der Pöbel von der Straße«, protestierte sie, doch Harry schüttelte energisch den Kopf.

»Der Umweg, den unser Privatjet nehmen müsste, um dieses Unwetter zu umfliegen, wäre zu groß, um eine rechtzeitige Ankunft in London zu garantieren. Aber ich habe den schnellsten verfügbaren Linienflug gebucht, natürlich Erste Klasse. Glaub mir, du wirst es nicht bereuen. In Zukunft wirst du nur noch mit dieser Maschine fliegen wollen«, erwiderte er und grinste begeistert.

Jessica winkte genervt ab. Sie wollte jetzt keinen technischen Vortrag hören; sie musste einen sturen Manager über den Tisch ziehen. »Hauptsache, ich komme rechtzeitig nach London. Sieh lieber zu, dass bei der Präsentation kein Mist passiert. Die Zahlen sprechen für sich, damit werde ich ihn schon weich kochen. Wenn nicht … nun, vielleicht spricht er auf andere Methoden besser an«, sagte sie und öffnete den obersten Knopf ihrer Designerbluse.

Harry wurde sofort rot im Gesicht. Offenbar hatte er etwas Wichtiges im Aktenkoffer vergessen, so schnell, wie er dort hineinsah. Jessica konnte seine Gedanken erraten, spürte förmlich seine Qual, als er sich ausmalte, was sie mit Nagamoto vielleicht alles anstellen würde – aber niemals mit ihm.

»Sie können sich die Mühe sparen, Miss Reed. Ich bin in großer Eile und muss den nächsten Flug nach London erwischen«, tönte plötzlich eine tiefe Stimme durch den Konferenzraum.

Jessica schreckte hoch und fuhr herum. Nagamoto kam aus einem Nebenzimmer, nicht aus seinem Büro. Er hatte einen Umweg genommen, um von dort aufzutauchen, wo sie ihn nicht erwartete, um sie gleich wissen zu lassen, dass er hier der Boss war.

Das war er auch zweifellos. Die Luft schien sich zu verändern, als er den Raum betrat. Mit stolzen, zugleich erhabenen Schritten kam er auf sie beide zu, umkreiste die Sitzgruppe und setzte sich ihnen gegenüber. Er reichte zuerst ihr und anschließend Harry die Hand. Gemeinerweise drückte er bei Jessica sehr fest zu. Sie verzog jedoch keine Miene, gönnte ihm das Vergnügen nicht, ihm zu zeigen, dass es durchaus wehtat. Harry wagte nicht einmal, ihm in die Augen zu sehen. Er ergriff nur schwach seine Hand und zog sie sofort wieder zurück. Er ist und bleibt ein Würstchen, dachte sie angewidert.

»Sie haben mein Angebot noch gar nicht gehört«, entgegnete sie mit einem frechen Lächeln und schlug ihre Beine so übereinander, dass Nagamoto gar keine andere Wahl hatte, als hinzuschauen. Jessica trug einen engen Minirock aus schwarzem Leder, der perfekt zu ihrer nicht minder engen und vorteilhaft ausgeschnittenen Bluse passte. Doch Nagamoto ließ sich weder von den langen Beinen noch von ihrem tiefen Dekolleté aus dem Konzept bringen.

»Das Geld Ihres Hauses interessiert mich nicht, Miss Reed, ganz gleich, wie hoch Ihr Angebot sein mag. Ich bin für das Wohl meines Unternehmens verantwortlich, und ich wäre ein schlechter Beschützer, wenn ich es aus purer Gier Ihrem Haus überließe«, erwiderte er. Seine troff aus jeder Silbe.

Reed hatte jedoch sofort eine Antwort parat. »Borgin & Bronx wollen ins Energiegeschäft einsteigen. Und Energreen ist die perfekte Plattform: Erfahren, zukunftsorientiert, vielseitig. Ihr Unternehmen besitzt riesige Wachstumspotenziale, und wir verfügen über das Kapital für dieses Wachstum. Bedenken Sie nur die Höhe der Summe, die Borgin & Bronx bereit sind, in Ihr Unternehmen zu investieren.«

Nagamoto brauchte nicht lange zu überlegen. »Wir sind sehr gut aufgestellt, auch für schwierige Zeiten. Und Expansion und Wachstum sind nicht unsere primäre Firmenstrategien. Was mich interessiert, ist die Frage, was Sie meinem Unternehmen sonst noch zu bieten haben. Was wird mit den Beschäftigten geschehen, wenn Sie erst einmal die Aktienmehrheit halten? Entlassungen natürlich, die altbewährte und billigste Methode, da sich so am schnellsten Erträge erwirtschaften lassen. Nein danke, das widerspricht der Philosophie unseres Hauses.«

Seine Stimme war einfach zu gewaltig, um ihm frech ins Wort zu fallen. Jessica sammelte sich eine Sekunde. Der Mann war so abweisend wie ein Panzer. Auf ihre optischen Reize sprang er nicht an, wollte nicht einmal zuhören. Ehrlich gesagt war sie vollkommen ratlos, welche Strategie sie bei ihm noch anwenden konnte. Klar war nur, dass sie weder das zuckersüße, naive Mäuschen noch den liebeshungrigen Vamp zu geben brauchte (zwei Rollen, die sie sehr gut beherrschte). Also versuchte sie es in einem Anflug unüberlegter Verzweiflung mit freundlichen Drohungen. »Es herrschen ganz klar noch einige Diskrepanzen zwischen unseren Positionen. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Aktionäre von Energreen die richtige Entscheidung fällen werden – selbst wenn Sie und ich uns heute noch nicht einigen sollten.«

Nagamoto begann zu lächeln. »Ich sehe, worauf Sie hinauswollen. Aber ich garantiere Ihnen: Es wird kein Geschäft zwischen uns geben, Miss Reed; ganz gleich, von welcher Art. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, dass Ihr Haus keinen nennenswerten Stimmanteil meines Unternehmens in die Finger bekommt«, sagte er und erhob sich. »Leider warten noch andere Termine auf mich. Aber bleiben Sie ruhig noch sitzen und genießen Sie die Aussicht. Mrs. Watson wird Sie später nach unten bringen.«

Er schüttelte zum Abschied erneut Reeds Hand, dann die von Wittersdraught, der angelegentlich zu Boden starrte, um den strengen Blick seines Gegenübers nicht ertragen zu müssen.

Jessica schaute Nagamoto hinterher, ihren Zorn nur mühsam unter Kontrolle haltend. Noch nie hatte sie sich eine derartige Abfuhr eingefangen. Sie war es gewohnt zu bekommen, was sie sich in den Kopf setzte. Das war schon immer so gewesen – und jetzt das? Dafür würde jemand büßen müssen! Sie wusste auch schon genau, wer.

»Das ist deine Schuld, Harry! Du hast mich miserabel vorbereitet. Das war scheiße, absolute Scheiße«, zischte sie ihn an, obwohl sie am liebsten gebrüllt hätte. Immerhin besaß sie noch genug Selbstbeherrschung, um nicht in die Luft zu gehen. Am liebsten wollte sie diesen Idioten schlagen. Die armselige, zusammengekrümmte Figur, die er jetzt gerade machte, bekräftigte sie in diesem Wunsch nur noch.

»E-e-e-es tut mir leid«, stotterte er hilflos. »Aber nach allen Informationen, die über Nagamoto verfügbaren waren, schien dies die wirkungsvollste Strategie zu sein. Optische Ablenkung plus knallharte Fakten. Aber ich hatte dich gewarnt: Er ist ein harter Brocken. Ich hatte dir gesagt, dass wir heute nicht viel ausrichten werden.«

Jessica funkelte ihn an und schoss aus dem Sessel. Dabei nahm sie ihre Handtasche, warf sie sich über die Schulter und stolzierte auf ihren hochhackigen Stiefeln zum Ausgang. Harry packte das Notebook zusammen, steckte alles feinsäuberlich in den Aktenkoffer und schlich ihr hinterher.

Sie atmete einmal tief durch und drehte sich zu ihm um. »Okay, vergiss Nagamoto. Er ist nur ein Vorstandsmitglied. Was ist mit den anderen Energreen-Managern? Was sind das für Typen?«, fragte sie, von neuer Entschlossenheit erfüllt.

Harry schob sich die Brille höher auf die Nase. »Hauptsächlich ältere Männer, meist verheiratet. Sie wurden nach ihren Fähigkeiten ausgesucht und sind schon lange mit dem Unternehmen verbunden. Kein einziger internationaler Spitzenmanager ist darunter. Der Aufsichtsrat sucht all seine Manager nach strengen Kriterien sehr sorgfältig aus. Da haben schon einige wirklich erfolgreiche Leute versucht unterzukommen, doch selbst Bestnoten konnten die Anteilseigner nicht beeindrucken. Eine richtig eingeschworene, kleine Gemeinde, unmöglich, von außen reinzukommen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, diese Herausforderung anzunehmen, Jessica. Diesmal wirst du dir die Zähne ausbeißen. Ich fürchte sogar, dass sich das Ganze als Stolperstein erweisen wird. Mishkin hat dich aufs Kreuz gelegt. Soweit ich weiß, war es hauptsächlich die Idee diesen alten Tyrannen, bei Energreen einzusteigen. Du wirst Mishkin zu gefährlich, jetzt will er dich scheitern sehen. Du weißt ja, gleich nach ihm kommt die Vorstandsetage.«

Jessica funkelte ihren Assistenten wütend an. Nur selten hatte Harry je seine Meinung vertreten. Sie fühlte sich schwach, weil er es ausgerechnet jetzt tat, im Moment ihrer ersten Niederlage. Vielleicht war er doch nicht ganz so loyal und armselig, wie sie immer angenommen hatte? »Diesen Auftrag abzulehnen, wäre ganz sicher das Ende meiner Karriere gewesen, Harry. Das weißt du! Mishkin wird noch Augen machen. Der Mann mag alt sein, aber er weiß, was er will – und ich weiß es auch. Ich werde die Schwachstelle von Energreen finden. Irgendeiner dieser feinen Pinkel hat Geheimnisse, die wir aufdecken und gegen ihn verwenden können. Andere sind käuflich. Entweder durch Geld oder mit Sex. Wäre nicht das erste Mal, stimmt’s?

Aber Schluss jetzt damit. Sehen wir zu, dass wir diesen verdammten Flug noch erwischen. Ich hoffe nur, du hast für den Notfall einen zweiten Flug gebucht, sonst bist du gefeuert«, giftete sie.

Harry blickte beschämt zu Boden. Er hörte seine Chefin nicht gerne so reden, doch wenn sie wütend war, nahm Jessica kein Blatt vor den Mund. Sie konnte schrecklich vulgär und grausam sein. Harry musste diese Stimmungen hilflos ausbaden. Er brachte ein schüchternes Lächeln zustande. »Ja, sicher, klar. Du bist der Boss«, stammelte er.

Von diesen unterwürfigen Worten zufriedengestellt, wirbelte Jessica herum, verließ den Konferenzraum und Harry folgte ihr, brav wie immer. Draußen im Vorzimmer ließ sie im Vorbeigehen Nagamotos Sekretärin, Mrs. Watson, wissen, dass sie sich wieder bei ihr melden würden. Sie schnippte mit den Fingern, und Harry zückte eine Visitenkarte, die er der Sekretärin behutsam auf den Schreibtisch legte.

Mein Gott, dachte Jessica kurz davor, die Augen zu verdrehen, er ist doch so ein erbärmlicher Wicht.

Tom Packard konnte es einfach nicht fassen. Da kam er einmal im Leben nach New York, in diese fantastische Stadt, und es schüttete aus vollen Eimern. Wenigstens habe ich neue Klamotten, dachte er, als er die Kapuze seiner neuen, obercoolen Jacke über den Kopf zog. Er folgte Veyron zum nächsten Taxi. Während des Fluges hatten die beiden nicht viel miteinander gesprochen. Veyron war damit beschäftigt gewesen, irgendwelche Nachrichten zu lesen oder sich Notizen auf seinem Smartphone zu machen. Tom hatte die vielen Stunden Flug dagegen mit Videospielen totgeschlagen. Kaum waren sie gelandet, hatten sie sich über die Shops des Flughafens hergemacht, sich Ersatzkleidung, Waschzeug und ein paar Snacks besorgt. Veyron war in Spendierlaune gewesen. Tom hatte sich mehr oder weniger komplett neu einkleiden können – und zwar mit lauter teurem Zeug. Die Zeit bei meinem Patenonkel wird noch richtig großartig, wenn das so weitergeht, dachte er fröhlich. Veyron ist vielleicht ein Spinner, aber sein Geldbeutel sitzt echt locker.

Tom wollte am liebsten alles besichtigen, den Central Park, danach auf das Empire State Building, zur Brooklyn Bridge und zum Times Square. Veyron war jedoch zu seinem Leidwesen an keiner Sightseeingtour quer durch die Stadt interessiert. Er erläuterte Tom immer wieder die Notwendigkeit zur Disziplin. Nur so ließe sich höchste Effizienz erreichen. Sie waren schließlich nicht zum Vergnügen hierhergekommen, auf sie wartete Arbeit. Im Nu hatte Veyron die Adresse der Energreen Corporation ausfindig gemacht und rief ein Taxi.

Energreen erwies sich jedoch als Fehlschlag. Zuerst ließ man sie über eine halbe Stunde im Foyer warten, dann kam die Nachricht, das Mr. Nagamoto bedauerlicherweise heute niemanden mehr empfangen wurde. Auch der Dringlichkeitshinweis brachte sie nicht weiter. Veyron führte deshalb eine lautstarke Auseinandersetzung mit dem Sicherheitschef der Firmenzentrale. Der Mann ließ sich jedoch von keinem Argument beeindrucken und bestand darauf, dass sie nur mit einer schriftlichen Einladung hinauf in die Vorstandsetage durften. Dann komplimentierte er die beiden zum Ausgang. Veyron tat Tom fast ein bisschen leid. Natürlich konnten sie dem Sicherheitsmann nicht verraten, dass Nagamoto in großer Gefahr schwebte. Der Kerl hätte sie ansonsten als Verrückte oder potenzielle Attentäter gleich wieder hinausgeworfen.

»Da sieht man mal wieder, wie viele bornierte Idioten es auf Erden gibt. In der Tat: 99 % der Menschheit zählt zu diesem Schlag, einige mehr, einige weniger. Es ist überhaupt ein Wunder, dass wir das Mittelalter je hinter uns lassen konnten. Hast du dir diesen Wachmann angesehen, Tom? Ein fetter, schlampiger Typ. Hat die ganze Zeit nicht ein einziges Mal auf die Eingangstür gesehen. Seinen Hosenreißverschluss hat er nach dem letzten Toilettengang nicht mehr verschlossen, seine Schuhe waren abgetragen und ausgelatscht, sein Hemd nicht gebügelt. Auf dem Tisch lagen drei halb aufgegessene Pizzabrötchen. Diesen Typ interessiert nur das Fressen – und das trotz seines schlechten Magens. Darum muss er auch so oft auf die Toilette – dreimal während unseres Aufenthalts. Eine Nebenwirkung der Tabletten, die er schlucken muss. Energreen wird eines Tages wirkliche Probleme bekommen, wenn dieser Mann dort noch länger Wache schiebt«, schimpfte Veyron auf dem Weg nach draußen.

Tom war verblüfft, was Veyron während seiner Auseinandersetzung mit dem Sicherheitschef alles aufgefallen war und sagte ihm das auch. »Diesen Trick müssen Sie mir unbedingt mal beibringen. Damit könnte ich in der Schule echt groß angeben«, meinte er.

Veyron lächelte selbstgefällig. »In diesem Fall war es lediglich genaue Beobachtung. Ich bin sicher, meine Analyse würde noch weitaus detaillierter und präziser ausfallen, wenn ich seine Zeugnisse in die Finger bekäme und ihn einmal zu Hause besuchen dürfte. Aber diese ekelhaften Pizzabrötchen waren unübersehbar, und die Tabletten lagen in seiner Schreibtischschublade. Ich konnte sie sehen, als er sie kurz öffnete. Mir ist außerdem noch etwas Weiteres aufgefallen: Nagamoto ist nicht mehr im Haus.«

Jetzt war Tom noch um ein paar Grad verblüffter. »Woher wollen Sie das wissen? Dieser Kerl hat Nagamoto doch mit keinem Wort erwähnt.«

»Stimmt. Aber während man uns klarzumachen versuchte, dass wir keinesfalls ohne schriftliche Einladung bis zu Nagamoto vorgelassen würden, habe ich mit einem Ohr alle anderen Gespräche in der Lobby mitgehört. Interessant war nur das eine am hinteren Lift, der, für den man einen Schlüssel braucht. Der Liftboy hat mit einer Sekretärin gesprochen. Sie ließ ihn wissen, dass der Boss schon losgezogen sei. Mit ›der Boss‹ kann nur Nagamoto gemeint sein. Deswegen sind wir auch gegangen, anstatt uns noch länger mit Mr. Pizzabrötchen zu streiten. Ich werde diese Sekretärin abfangen. Von ihr erfahren wir sicher mehr«, sagte er mit finsterer Entschlossenheit.

Tom konnte nur staunen. »Sie haben alle Gespräche in der Lobby mitgehört? Wie geht das?«

Veyron seufzte enttäuscht. »Mit sehr viel Training. Ich habe alles in dieser Lobby wahrgenommen. Du solltest ebenfalls versuchen, deine Wahrnehmung entsprechend zu konditionieren, das ist sehr hilfreich. Jetzt aber los!«, erklärte er, während er die Stufen zur Straße hinunter nahm.

Tom folgte seinem Paten, so schnell er konnte. Sie eilten durch den noch immer strömenden Regen zu den wartenden Taxis. Tom hatte die Sorgen, dass Nagamotos Sekretärin vielleicht mit dem eigenen Auto da sein könnte, aber Veyron ließ ihn wissen, dass dieses Gebäude keine Tiefgarage besäße. Energreen versuchte, Umweltschutz zu leben. Jeder Mitarbeiter durfte nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit kommen – oder eben per Taxi.

»Sie wird hierher kommen, vertrau mir«, meinte er bestimmend.

Tatsächlich dauerte es keine zwei Minuten, bis die Sekretärin oben am Treppenabsatz auftauchte, einen Regenschirm aufspannte und hinunter zu den Taxis stakste. Veyron richtete es so ein, dass er es kurz vor ihr erreichte. Er tat so, als würde er sie jetzt erst bemerken.

»Oh, sorry Ma’am«, raunte er im allerhöflichsten Tonfall, trat rasch zur Seite und öffnete ihr die Tür. Sie bedankte sich freundlich.

»Ich nehme an, Mr. Nagamoto ist bereits wieder auf dem Weg nach London? Wir sind wegen wichtiger Nachrichten hier und hätten ihn gern getroffen«, sagte Veyron. Er versuchte dabei, so unschuldig wie möglich zu klingen.

Die Frau schaute ihn überrascht an und hielt inne. Sie musterte zuerst Veyron und dann Tom mit sichtlicher Skepsis. »Wer sind Sie? Gehört der Junge zu Ihnen?«

Veyron setzte ein entwaffnendes Lächeln auf. »Ich bin Veyron Swift, und das ist mein Assistent, Tom Packard. Wir sind im Auftrag von Professor Lewis Daring hier. Tom, zeig der Lady bitte den Brief des Professors.«

Tom war angesichts dieser Schwindelei ein wenig überrascht, kramte aber in der Jackentasche, holte das Schreiben des Professors heraus und reichte es der Sekretärin. Sie blickte den Briefumschlag mit seiner ungewöhnlichen Anschrift kurz an, schien aber zufrieden und gab ihn Tom zurück, der ihn sofort wieder in der Innentasche seiner Jacke in Sicherheit brachte. Weder er noch Veyron hatten einen Schirm.

»Ich bin Mary Watson, Mr. Nagamotos Sekretärin. Es tut mir leid, Mr. Swift, aber Sie haben ihn verpasst. Er ist vor einer Stunde zum Flughafen gefahren und zu Ihrem Professor nach London unterwegs. Er meinte, er könne nicht mehr länger warten«, erklärte sie und stieg ins Taxi.

Veyron beugte sich zu ihr hinunter. »Ich nehme nicht an, dass Sie uns seine Telefonnummer geben können?«, fragte er.

Mrs. Watson lächelte nur, was er sofort als unmissverständliches Nein interpretierte.

»Wenn Sie sich beeilen, können Sie ihn vielleicht noch vor dem Abflug erwischen«, meinte sie, bevor sie die Tür schloss.

Das Taxi fuhr los und überließ sie beide schutzlos dem Regen. Veyron blickte dem Fahrzeug noch einen Moment lang hinterher. Hinter ihm tapste Tom von einem Fuß auf den anderen. Wenn sie hier noch länger herumstanden, wäre er bald durchweicht bis auf die Haut.

»Eine clevere Frau, so eine Sekretärin lobe ich mir. Da sie uns nicht kannte, gab sie uns nur die Auskünfte, von denen sie glaubte, sie wären ungefährlich. Allerdings hat sie mir genau die Informationen gegeben, die ich brauche. Jetzt können wir Nagamoto noch einholen«, verkündete Veyron und klatschte triumphierend in die Hände. Er winkte dem nächsten Taxi, das sofort herankam.

Tom kletterte neben Veyron in den Fonds.

»Kennedy Airport«, ließ sein Pate den Fahrer wissen und sank in die Sitzbank.

Tom schaute ihn verwirrt an. »Zurück zum Flughafen? Aber wir wissen doch nicht einmal, mit welcher Linie Nagamoto nach London fliegen wird oder wann. Er könnte auch bereits im Flieger sitzen«, protestierte er.

Veyron hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. Er holte sein Smartphone aus der Tasche und tippte wieder wie ein Verrückter darauf herum. »Mrs. Watson sagte, Nagamoto konnte nicht mehr auf Professor Darings Antwort warten. Also hat er es eilig. Sehr wahrscheinlich ist ihm noch nicht bekannt, dass Daring sich gar nicht mehr am Leben befindet. Er will also schnell zu ihm, am besten sofort. Natürlich könnte er bereits in einem Linienflieger sitzen, doch es gibt eine Alternative: eine schnellere Maschine, die den Überflug in nur der Hälfte der Zeit schafft. Das wäre diese hier: die SCC-1001 Supersonic, das schnellste Flugzeug der Welt. Es gibt momentan nur zwei solcher Maschinen, beide fliegen unter dem Banner von Torben-Carrisson-Airways. Die Supersonic schafft die doppelte Geschwindigkeit eines normalen Passagierflugzeugs – und das bei nur einem Drittel mehr Treibstoffverbrauch«, erklärte Veyron. Er stieß einen triumphierenden Laut aus. Tom und der Fahrer drehten sich zu ihm um und starrten ihn erschrocken an. Veyron winkte ab, und der Fahrer konzentrierte sich wieder auf die Straße. »Und siehe da! TC-Airways hat gegenwärtig eine Supersonic auf dem Kennedy!«, rief er begeistert und zeigte Tom das Bild eines schnittigen, futuristisch anmutenden Flugzeugs, wie er es nie zuvor gesehen hatte. Veyron schaltete das Bild schnell wieder weg. Konzentriert tippte er auf dem Smartphone herum. »Mal sehen, ob sie ausgebucht sind. Natürlich, hätte mich auch gewundert. Die Supersonic ist allwettertauglich und wird sogar mit den schwersten Unwettern fertig. Ah … Das ist interessant. Das Simon-Weller-Orchester.«

Von denen hörte Tom jetzt zum allerersten Mal, und das sagte er auch. Besser, er hätte es nicht getan, denn es brachte ihm nur einen besonders enttäuschten Blick von Veyron ein.

»Simon Weller, der Stardirigent! Ein furchtbarer Choleriker. Er macht mit seinem Orchester gerade eine Welttournee. Paganini, Vivaldi, Puccini oder Rossini. Er spielt alle italienischen Meister, manchmal zwischendrin auch Mozart oder Händel. Ich habe gerade seine Homepage aufgerufen. Jetzt rate mal, mit welcher Maschine er fliegt? Ganz recht! Mit der Supersonic. Hier steht es: ›Das schnellste Orchester der Welt. Es spielt an einem Tag auf zwei Kontinenten.‹

Damit ist natürlich die Datumsgrenze gemeint. Nur die Supersonic ist schnell genug, um das zu ermöglichen. Wann ist der Abflug? Aha, in vier Stunden. Das dürfte reichen. Mal sehen … ein Riesen-Orchester, zweihundert Männer und Frauen, die abgefertigt werden müssen und nicht viel Zeit für Aufbruch und die Fahrt zum Airport haben. Sehr wahrscheinlich hat Weller ein Hotel in der Nähe des Flughafens gewählt. Wahrscheinlich haben seine Musiker noch nicht einmal gepackt. Jetzt pass gut auf, Tom. Sieh zu und lerne.«

Veyron wählte eine Nummer und schaltete das Smartphone auf Lautsprecher. Tom hatte nicht die blasseste Vorstellung von dem, was sein Pate bezweckte. Er hörte, wie auf der anderen Seite der Leitung abgenommen wurde.

»Torben-Carrisson-Airways, Reservierungsservice, was kann ich für Sie tun«, hallte ihnen die freundliche Stimme einer jungen Frau entgegen.

Veyron holte tief Luft, und mit einem Mal lief sein Kopf knallrot an, er zitterte am ganzen Körper und keuchte schwer. Tom erschrak, fürchtete sein Pate bekäme einen Anfall. Doch in diesem Moment dröhnte Veyrons Stimme ins Telefon, lauter und voluminöser als sonst. Eigentlich war es gar nicht mehr seine Stimme, sondern die einer vollkommen fremden Person.

»Ja, wo zum Teufel, bin ich denn jetzt gelandet? Ist hier TC-Airways? Spreche ich mit dem Vorstandsvorsitzenden? Ich verlange, sofort mit Mr. Carrisson zu sprechen!«, bellte Veyron. Die arme Frau auf der anderen Seite musste förmlich zu Tode erschrocken sein, so still, wie sie einen langen Moment war.

»Tut mir leid, Sir. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Was? Sie kennen mich nicht? Ich bin es: Simon Weller! Ich kann nicht glauben, dass Sie noch nie von mir gehört haben!«

»Oh, Mr. Weller. Natürlich, Sir. Ist etwas nicht in Ordnung? Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

»Krank bin ich, das ist nicht Ordnung! Ich bin krank, Grippe oder irgendwas Schlechtes im Essen. Ich werde den Koch verklagen, das ist los! Ich kann heute unmöglich fliegen. Auf keinen Fall! So kann ich unmöglich in London auftreten. Sie müssen Ihr Flugzeug am Boden halten, bis ich wieder auf den Beinen bin!«

»Es tut mir leid, Sir. Ich habe leider überhaupt keine Ahnung, von was Sie reden. Ist etwas mit unserem Service nicht in Ordnung?«

Tom hätte nicht geglaubt, dass Veyrons knallroter Kopf noch um eine Stufe dunkler werden könnte. Jetzt schien er förmlich zu explodieren. Adern traten an seinen verkrampften Händen hervor, das ganze Taxi schien zu vibrieren, so heftig zitterte sein Körper.

»Wollen Sie mich verarschen? Geben Sie mir sofort Ihren Vorgesetzten! Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen! Auf der Stelle! Sie sind gefeuert, jawohl, das sind Sie! Sie sind gefeuert! Geben Sie mir auf der Stelle Ihren Vorgesetzten!«, brüllte er ins Telefon.

Tom machte sich instinktiv kleiner, auch der Fahrer duckte sich hinter sein Lenkrad. Es verging ein Moment der Stille, schließlich meldete sich eine neue Stimme, diesmal eine männliche.

»Hier spricht Maximilian Dickens, Mr. Weller. Ich hörte, Sie haben ein Problem mit unserem Service?«

»Und ob! Schmeißen Sie dieses unfähige Frauenzimmer sofort raus! Ich sage ihr, dass ich heute nicht fliegen kann, und sie macht sich lustig über mich! Ihr Flugzeug soll so lange warten! Es soll nicht starten, nicht abheben, nicht fliegen! Ist das so schwer zu verstehen?«

»Es tut mir leid, Mr. Weller, aber das ist unmöglich. Unsere Supersonic wird gerade betankt. Wir können den Start nicht mehr verschieben. Vielleicht können Sie mit einer anderen Maschine nachkommen, während Ihr Orchester …«

»Nein«, brüllte Veyron hysterisch. »Was interessiert das Publikum schon das Orchester! Es geht hier um mich, mich ganz allein! Wenn ich nicht fliegen kann, brauchen auch meine Leute nicht zu fliegen! Wenn Ihr verdammter Vogel nicht auf dem Boden bleiben kann, dann stornieren Sie unsere Tickets! Wir fliegen morgen mit der zweiten Maschine! Machen Sie, was ich Ihnen sage!«

»Sir … Das ist nicht so einfach …«

»Aha! Nicht so einfach, sagt er! Sagen Sie mal, wollen Sie auch einen neuen Job? Ich kann nämlich dafür sorgen, klar? Und jetzt stornieren Sie meine Tickets! Und zwar sofort! Ich lege nicht eher auf, bevor Sie das nicht erledigt haben!«

»Ich brauche noch Ihre Reservierungsnummer …«

»Ja, haben Sie denn den Verstand verloren? Wissen Sie, in welchem Zustand ich mich befinde? Glauben Sie, ich habe jetzt meine Nummer auswendig im Kopf? Sie Vollidiot! Was glauben Sie, wie viele Simon Wellers es gibt, die heute bei Ihnen mitfliegen? Muss ich rüberkommen und das selbst erledigen? Bewegen Sie endlich Ihren faulen Hintern und tun Sie was!«

Auf der anderen Seite wurde hastig in Computertasten gehämmert. Ein Augenblick verging, bis sich Mr. Dickens wieder meldete.

»In Ordnung. 200 Tickets für Sie und Ihre Leute, soeben storniert. Ich habe Ihnen einen Ersatzflug für morgen früh gebucht. Die Tickets kommen per E-Mail und sind jetzt für Sie abrufbar. Ich hoffe, Sie sind zufrieden?«

Veyron beruhigte sich wieder ein wenig. Er lächelte gutmütig wie ein Herrchen angesichts seines treuen Hundes. »Ja, ja. Das bin ich. Sie sind ein guter Mann und sehr freundlich. Ich werde Sie weiterempfehlen«, seufzte er und legte auf. Anschließend brach er in schallendes Gelächter aus. Er brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu beruhigen.

Tom starrte ihn entgeistert an. »Was war denn das?«

Veyron sagte nichts, er atmete zweimal tief durch, schloss die Augen und rang um Fassung.

»Eine hoffentlich perfekte Simon-Weller-Imitation«, raunte er, das Lachen nur mühsam unterdrückend.

»Wird man Ihnen da nicht draufkommen? Das wird einen Riesenärger geben«, meinte Tom verunsichert.

Veyron lächelte breit. »Nummernunterdrückung. Sicher werden die mir auf die Schliche kommen, aber nicht mehr rechtzeitig, um uns noch aufzuhalten. Weller wird die Polizei einschalten müssen. Bis dahin haben wir schon den halben Atlantik überquert.« Veyron tippte eine neue Nummer und hob das Telefon wieder ans Ohr.

Erneut meldete sich eine freundliche, junge Frauenstimme – nicht die gleiche wie zuvor.

»Torben-Carrisson-Airways, was kann ich für Sie tun? Sie sprechen mit Mandy Sikes.«

»Guten Tag, hier spricht Veyron Swift. Kundennummer vier-zwölf-neunzehn-einundachtzig. Ich brauche sofort zwei Tickets nach London. Ist noch was in der Supersonic frei?«

Die junge Frau tippte hörbar auf ihre Tastatur. Ihre Stimme klang vollkommen überrascht, als sie antwortete: »Äh … Ja. Soeben sind ein paar Sitzplätze frei geworden. Moment, ich überprüfe das … Kein Zweifel. Wie viele Plätze brauchen Sie?«

»Nur zwei. Einen für mich und einen für Mr. Thomas Eugene Packard, vierzehn Jahre alt«, sagte Veyron.

Tom klappte die Kinnlade nach unten. Für den Rest der Fahrt konnte er sich nur wundern, während Veyron in aller Seelenruhe ihren Flug buchte.

Veyron Swift und das Juwel des Feuers

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