Читать книгу Veyron Swift und das Juwel des Feuers - Tobias Fischer - Страница 6
4. Kapitel: Der Flug der Supersonic
ОглавлениеAlec McCray konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er den Worten seines neuen Geschäftspartners lauschte. Dies schien der bedeutendste Tag in der Geschichte des Roten Sommers zu werden. Heute würde der Rote Sommer etwas tun, das ihm erstmalig Augen- und Ohrenmerk der ganzen Welt einbrächte.
Alec war nicht übermäßig groß, aber durchtrainiert, muskulös, in seiner ganzen Erscheinung ein Frauenheld. Obwohl ihn niemand dazu ernannt hatte, wurde er von allen als der Anführer des Roten Sommers angesehen (dabei war er noch nicht einmal eines der Gründungsmitglieder). Nun saß er mit abgetragener Jeans und Lederjacke Charles Fellows gegenüber und hörte sich an, was der aalglatte Geschäftsmann zu sagen hatte.
Roter Sommer wurde erst in jüngerer Zeit von den internationalen Behörden als Terrororganisation eingestuft. Dabei fing einst alles relativ harmlos an. Aus Protest gegen die Ausbeutung ihrer Völker hatten sich ein paar Studenten rund um den Globus zu einer Widerstandsorganisation vereint. Sie wollten den Großkapitalisten eine Lektion erteilen und steckten die Luxuskarossen einiger superreicher Bonzen in Brand – allesamt skrupellose Gangster mit Schlips und Aktenkoffer. Sie waren es, die Zehntausende Studenten überall auf der Welt als Praktikanten anheuerten, ihr Wissen und Können ausbeuteten und dafür kaum Geld bezahlten – falls überhaupt etwas. Am Ende standen Zehntausende junger Leute ohne Job auf der Straße. Raffgierige, skrupellose Manager waren für die Verarmung der Jugend auf der Welt verantwortlich. Diese Kreaturen (Alec wollte sie gar nicht als Menschen bezeichnen) zerstörten die Gesellschaft und häuften nebenbei Reichtümer an. Diesen Verbrechern, die mit ihrer grenzenlosen Gier so immens viel Unheil auf der Welt anrichteten, die mit ihrem Geld Politik und Justiz kontrollierten, sagte der Rote Sommer den Kampf an.
Die Antwort der Geschäftemacher hatte jedoch nicht lange auf sich warten lassen. Demonstrationen wurden – je nach Nation unterschiedlich – entweder mit Wasserwerfern, Knüppeln oder mit Schusswaffen aufgelöst. Es gab sogar Mordanschläge gegen vereinzelte Aktivisten, auch Mitglieder vom Roten Sommer befanden sich unter den Opfern. Also beschloss die Organisation, sich zu wehren. Eine kleine Gruppe, der loyalste Kern, beschaffte sich Waffen und schlug zurück.
Drei Manager in Südamerika, zwei in Afrika und einer in Osteuropa unterhielten sich seitdem mit den Würmern. Alec hatte diesen Weg von Anfang an vorgeschlagen: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn sich der Staat nicht imstande sah, seine Bürger vor der Willkür der Kapitalisten zu beschützen, dann musste dies eben der Rote Sommer tun.
Es war jedoch ein Grundsatz der Organisation, dass der Rote Sommer niemals ohne vorherige Provokation zuschlug. Kam es zu einem Übergriff gegen Mitglieder, gegen Unterstützer oder Gleichgesinnte, wurde zurückgeschlagen, und zwar gnadenlos. Vergeltungsaktionen nannten sie so etwas innerhalb der Organisation. Manchmal ging das auch nicht ohne Kollateralschäden ab. Es war ja eine Art von Krieg, da gab es eben Opfer.
Alec bereute keine ihrer Taten. Diesen Kapital-Banditen, welche die ganze Welt für sich beanspruchten, war aus seiner Sicht eben nur mit tödlicher Gewalt beizukommen. Man musste sie angreifen und bloßstellen, bis die Wut des Volkes überkochte und alles Vertrauen in die Staatsmacht und ihre Strippenzieher verloren ging.
»Einen solch medienwirksamen Zwischenfall hat es seit dreißig Jahren nicht mehr gegeben«, rissen ihn Fellows Worte aus den Gedanken. »Ihre Leute sind für diese Sache hervorragend ausgebildet. Training in einem Terrorcamp, Planung und Durchführung von Attentaten, Nahkampf gegen Sicherheitskräfte. Das ist die beste Vorbereitung, die man heute bekommen kann. Sie besitzen das Wissen, die Mittel und die notwendige Skrupellosigkeit für eine solche Aktion. Mein Auftraggeber verfügt über das notwendige Kapital, um alles zu realisieren.«
Charles Fellows war der Typ Mensch, mit dem sich Alec unter anderen Umständen niemals eingelassen hätte: schmierig, skrupellos, aber nicht willens, sich dafür die Hände schmutzig zu machen. Dazu kam seine schlanke Statur, die schmalen Schultern, ein ausdrucksloses Gesicht, ein fliehendes Kinn, eine kleine Nase, die Haare geölt, der schwarze Anzug maßgeschneidert, sicherlich mehrere tausend Dollar teuer.
Alec zündete sich eine Zigarette an. Er saß zusammen mit seinen beiden Stellvertretern in einer riesigen, schwarzen Limousine auf dem Parkplatz des Kennedy Airports. Es regnete noch immer, wenngleich nicht mehr so stark wie noch heute Morgen.
»Und was hilft uns das, wenn wir alle dabei draufgehen?«, fragte Alecs rechte Hand, Tamara. Sie war noch keine dreißig, aber schon seit zehn Jahren Mitglied des Roten Sommers. Damit gehörte sie bereits zu den Veteranen. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit dunkelbraunen Augen, umrahmt von schwarzem Haar, das sie im Nacken zusammengeknotet hatte. Ihre Figur war die einer Kriegerin, gestählt vom Tragen schwerer Waffen und den pausenlosen Nahkampftrainings – und doch ausgesprochen kurvenreich. Zumindest Fellows war sie alle paar Sekunden einen Blick wert.
Tamara war der Stolz des Roten Sommers, schneller und stärker als die meisten Kämpfer, die Alec in seinem Leben bisher kennengelernt hatte. Als ausgebildete Scharfschützin war sie eiskalt, ohne Mitleid. Tamara hatte noch nie ein Ziel verfehlt. Alec bewunderte sie für die Fähigkeit, in brenzligen Situationen stets einen kühlen Kopf zu bewahren. Er würde nie vergessen, wie sie diesem einen Bullen in Chile, ohne mit der Wimper zu zucken, ins Gesicht geschossen hatte. Er selbst neigte dagegen eher zum Ungestüm. In den Schießtrainings verbrauchte er stets mehr Munition als alle anderen Kämpfer des Roten Sommers. Alec liebte die Aufregung und den Kampf.
»Dieses Risiko bestand schon immer, Tamara. Zum Beispiel bei dem Überfall auf dieses chilenische Polizeirevier vor zwei Jahren«, erwiderte Fellows kalt.
Alec grunzte zustimmend. Er mochte Fellows nicht, er mochte niemanden mit einem Maßanzug. Aber der Mann war ein Analytiker und seine Aussagen zutreffend. Er hatte auch recht, wenn er sagte, dass Roter Sommer sein Geld brauchte. Keine Widerstandsgruppe überlebte lange ohne finanziellen Rückhalt. Hinter Roter Sommer standen keine milliardenschweren Fanatiker mit religiösen Motiven oder mächtige Staaten, sondern nur eine Gruppe meist mittelloser Studenten aus aller Herren Länder. Verglichen mit anderen Terrororganisationen war der Rote Sommer ein regelrechter Witz. Alec zählte keine dreihundert Kämpfer in ihren Reihen, nicht einmal fünfzig, sondern nur lächerliche fünfzehn; ihn selbst inbegriffen. Zehn nahmen an der geplanten Aktion teil, die übrigen fünf Mitglieder der Vereinigung kümmerten sich um die Verbindung zu anderen gleich gesinnten Studentengruppierungen. Sie gingen auf Werbetour oder überwachten die Aktivitäten im Internet. Es war ein Kampf von fünfzehn gegen den Rest der Welt.
»Tamara hat recht. Ein Polizeirevier anzugreifen, ist weit weniger riskant, als ein Flugzeug zu entführen. Bei einem Überfall gibt es immer einen Fluchtweg, aber ein Flugzeug ist eine Mausefalle«, mischte sich Alecs zweiter Mann, Said, in die Diskussion ein. Der gebürtige Ägypter war ein ehemaliger Söldner und besaß mehr Kampferfahrung als alle Mitglieder des Roten Sommers zusammen. Er war groß und von schlanker Gestalt, seine Muskeln trainiert und hart wie Eisen – ebenso wie sein Wesen. Eine lange, dunkelrote Narbe durchlief sein Gesicht von oben nach unten und schien den Kopf zu spalten. Wo und wie er sich diese Narbe einst zugezogen hatte, verriet er nicht.
»Genau da kommt der Einfluss meines Auftraggebers ins Spiel«, sagte Fellows. »Sie werden die Maschine um diese Uhrzeit übernehmen und exakt um diese Uhrzeit 37 Grad in Richtung Südosten drehen lassen. Der Treibstoff der Maschine sollte bis nach Ostafrika genügen. Dort werden Sie in Somalia landen und die Maschine bei Nacht verlassen. Das Bodenpersonal des Flughafens ist bestochen, Fluchtfahrzeuge stehen bereit. Die Sicherheitsbehörden des Flughafens sind ebenfalls auf der Gehaltsliste meines Auftraggebers. Ihr Entkommen ist damit gesichert.«
Fellows reichte den drei Terroristen sein Pad, auf dessen Bildschirm sie den ganzen Plan sehen konnten. Alec schaute gar nicht so genau hin, ihn interessierten die Hintergründe eines Plans nicht. Ehrlich gesagt war es ihm egal, ob sie entkamen oder nicht. Er hoffte sogar, dass es zu einer wilden Schießerei mit den Sicherheitskräften käme. Opfer nahm er bereitwillig in Kauf, notfalls auch das seines eigenen Lebens. Bei dieser Sache ging es für ihn allein um das Prestige. Diese Aktion bedeutete die Aufmerksamkeit der ganzen Welt, Alec und all seine Mitstreiter würden in die Annalen der Geschichte eingehen. Sie würden Vorbilder für neue Generationen von Kämpfern. Man würde sie als Helden verehren.
»Wir sind dabei«, entschied er, ohne die anderen lange um Rat zu fragen.
Said reichte Fellows das Pad zurück. »Sie sind sicher, dass Sie unsere Waffen an den Sicherheitskontrollen vorbeischleusen können?«, wollte er wissen.
Fellows setzte ein diabolisches Grinsen auf. »Nicht nur das. Ich kann Ihnen sogar die genaue Position nennen, wo die Frachtcontainer mit den Waffen stehen werden und durch welche Bodenluke Sie hinunter in den Frachtraum kommen!« Er holte einen kleinen USB-Stick aus der Tasche. »Da drauf ist der ganze Plan. Alles ist akribisch von meinen Mitarbeitern ausgearbeitet worden. Das Einzige, worum Sie sich noch kümmern müssen, ist die Ausführung.«
Alec nahm den Stick entgegen und steckte ihn in seine Lederjacke. Er zog lange an seiner Zigarette. »Sie finanzieren Freiheitskämpfer, Fellows. Wieso tun Sie das«, fragte er den Geschäftsmann.
Fellows Grinsen wurde noch breiter. »Natürlich für Geld. Ich bedaure, aber ich besitze nicht Ihren Idealismus. Mein Auftraggeber zeigt großes Interesse an Ihnen. Er hat all seine finanziellen Mittel eingesetzt, um Ihren Erfolg zu garantieren«, erklärte er kalt.
Alec musterte ihn einen Moment prüfend und überlegte, ob er nun beleidigt sein sollte. Hielt der Mann sie etwa für eine Bande naiver Dummköpfe? Wahrscheinlich, schätzte Alec. Fellows war skrupellos, ein schmieriger Typ mit glatten Gesichtszügen, die keinen seiner Gedanken verrieten. Obwohl er drei der gefährlichsten Menschen der Welt gegenübersaß, zeigte er keinerlei Furcht.
»Ihr Auftraggeber, was ist das für ein Typ? Auf welcher Seite steht er?«, wollte Said wissen. »Ich vertraue keinem Geldbeutel.«
»Mein Auftraggeber steht ausschließlich auf seiner Seite. Fragen Sie mich nicht nach seinen Motiven, die kenne ich nicht. Ich würde es auch nicht wagen, ihn danach zu fragen. Seien Sie froh, dass Sie nur mit mir verhandeln, nicht mit ihm. Das ist das Einzige, was ich Ihnen verraten kann. Ehrlich gesagt kenne ich noch nicht einmal seinen richtigen Namen. Vielleicht ist das auch besser so. Er wird niemals mit Ihnen in Kontakt treten oder sich zu erkennen geben. Dennoch können Sie auf seine Unterstützung vertrauen, wenn Sie Ihre Sache wie verlangt ausführen«, erwiderte Fellows. Ein leichter Schauder zuckte über sein aalglattes Gesicht, während er über seinen Auftraggeber sprach.
»Klingt unheimlich«, meinte Said sarkastisch.
Fellows lächelte, ein herzloses, sardonisches Zähneblecken. »Oh ja, das ist er. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag.«
Die Wagentüren wurden von zwei Mitarbeitern geöffnet. Fellows schloss die Augen. Alec erkannte, dass es nichts mehr zu sagen gab. Er stieg zuerst aus, danach Said und zum Schluss Tamara. Sie bedachte Fellows mit einem scharfen, misstrauischen Blick. Der Terror-Vermittler erwiderte ihn nicht, sondern wartete geduldig, ohne einen Muskel zu rühren. Schließlich stieg sie aus. Hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen.
Draußen im Regen stülpte Tamara die Kapuze ihres grauen Pullovers über den Kopf und schloss zu Alec und Said auf. Ihre Bewegungen waren die einer Katze, schnell und geschmeidig, Alec dagegen stapfte ein wenig statisch durch den Regen. Er stand stets unter Anspannung, als wüsste sein Körper nicht recht, wohin mit all der antrainierten Kraft. Sie gingen durch die Reihen der geparkten Autos und näherten sich langsam dem großen Terminal.
»Mir gefällt das nicht«, brummte sie finster. »Dieser Fellows ist ein Aas. Was er da von seinem Auftraggeber erzählt, klingt schlimmer als jeder Bonze, mit dem wir es bisher zu tun hatten.«
»Bei fünfunddreißig Millionen Dollar pro Nase hört man auf, Fragen zu stellen«, gab Alec lapidar zurück.
Tamara schien das zu verärgern. »Was ist mit unserer Sache, Alec? Sind wir also nun ebenfalls käuflich? Kann uns jetzt jeder Wahnsinnige für jeden beliebigen Anschlag buchen?«
Alec wirbelte zu ihr herum, packte sie an den Schultern. »Du verstehst es einfach nicht! Geld bedeutet Macht und Einfluss! Genau das ist es, was wir brauchen, wenn wir irgendwann Erfolg haben wollen. Dieser andauernde Kampf gegen Windmühlen muss aufhören. Wir müssen endlich etwas bewirken«, fauchte er.
Tamara wand sich nicht aus dem harten Griff, sondern erwiderte seinen Blick kalt. »Also verraten wir jetzt doch noch unsere Ideale. Du hast aufgegeben«, meinte sie mit Abscheu in der Stimme.
Alec ließ sie los. »Ich habe nicht aufgegeben! Wir befinden uns im Krieg mit Leuten, die uns himmelhoch überlegen sind. Wenn wir ihnen auf Augenhöhe begegnen wollen, müssen wir uns einige ihrer Methoden aneignen. Sieh es einfach als ein notwendiges Übel«, erwiderte er und ging weiter.
Tamara folgte ihm verärgert. Das war nicht der erste Disput zwischen ihnen, und es würde auch nicht der letzte sein. Er verriet ihr besser nicht, dass er bereits eine Villa im Hochland Boliviens gekauft hatte, ebenso einen neuen Ferrari. Alec liebte schnelle Autos. Wenn diese kleine Ironie der Preis für den Kampf gegen den Kapitalismus sein sollte … nun, so war es ein verdammt angenehmer Preis.
»Ruf jetzt die anderen. Sorg dafür, dass jeder auf seinem Posten ist und seine Aufgaben kennt. Said, du gehst als Erster in den Terminal und sondierst die Lage. Sorg dafür, dass sich alle zerstreuen und erst beim Einchecken zusammenfinden. Wir dürfen keine Aufmerksamkeit erregen. Noch werden wir von der Polizei weitgehend ignoriert. Aber das wird sich ändern, sobald wir einmal an die Öffentlichkeit gegangen sind«, befahl Alec.
Said gab ein zustimmendes Brummen von sich. Als sie das übernächste geparkte Auto passiert hatten, bog er in eine andere Richtung ab. Alec drehte sich zu Tamara um, die immer noch hinter ihm hermarschierte, die Fäuste tief in die Hosentaschen gestopft. »Zieh dich um und mach dich hübsch. Wir haben unsere Rollen zu spielen, bis wir an Bord sind. Wir wollen das schnellste Flugzeug der Welt entführen, und das machen wir mit Stil.«
Er lachte laut und ging weiter.
Tamara war dagegen gar nicht zum Scherzen zumute. Sie plagte das ungute Gefühl, dass dieser Höhepunkt der Karriere des Roten Sommers zugleich sein Schwanengesang würde. Wir werden alle sterben, und keine Menschenseele wird es kümmern. Ganz im Gegenteil: Eine Menge Leute werden heilfroh sein, dachte sie mit einiger Verbitterung. Sie fand es seltsam, dass sie sich plötzlich derartige Gedanken machte. Zweifel waren seit jeher ihre Weggefährten, doch jetzt kam etwas Neues hinzu: Kummer und Bedauern. Aber sie empfand Alec gegenüber eine zu große Loyalität, um zu kneifen. Sie ging dorthin, wo er hinging, selbst wenn es den Tod bedeutete.
Tom Packard stand am Aussichtsfenster des Terminals und blickte hinaus auf das Rollfeld. Dort stand sie, die SCC-1001 Supersonic, das schnellste Flugzeug der Welt – und nach Toms Auffassung zugleich auch das schönste.
Der Rumpf glich einer neunzig Meter langen und vier Meter dicken Rakete. Die Maschine besaß einen riesigen Delta-Flügel, der knapp hinter dem Cockpit ansetzte und sich allmählich zum Heck hin mit einem Schwung verbreiterte. An der Unterseite des Flügels waren die vier Triebwerke eingebaut. Auf spezielle Weise angepasst, wirkten sie, wie organisch gewachsen. Die ganze Maschine war in Perlmuttweiß lackiert, nur der riesige Heckflügel in Dunkelblau, wo das goldene Emblem von Torben-Carrisson-Airways prangte.
Tom sah zu, wie das Personal die Tankschläuche abkoppelte. Kleine Zugfahrzeuge manövrierten das riesige Flugzeug an die Fluggastbrücke heran.
Ich kann mich nicht beklagen, dachte er. Ich habe zwei Leichen gesehen, bin in die USA gereist, habe Veyron Swift in Aktion erlebt und durfte zum Schluss noch mit dem schnellsten und schönsten Flugzeug der Welt fliegen. Das ist ein wirkliches Abenteuer; auch wenn ich mit meinem Paten immer noch nicht so richtig warm werde. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich leiden kann, oder ob er überhaupt Gefühle besitzt.
Er ging zurück in den Wartebereich des Flugsteigs, wo die Passagiere saßen und darauf warteten, einsteigen zu dürfen. Es waren gerade einmal einhundert Personen, nicht besonders viel. Immerhin konnte die Supersonic laut Angaben 308 Passagiere transportieren. Dass der Wartebereich nicht von Menschen überquoll, schien alle zu überraschen, am allermeisten die TC-Airways-Mitarbeiter. Draußen in der Empfangshalle standen 200 Orchestermitglieder, die sich über die Stornierung ihrer Tickets wunderten. Ein tobender Simon Weller, der hartnäckig bestritt, die Tickets storniert und umgebucht zu haben, versuchte vergeblich, telefonisch zum Vorstandsvorsitzenden von TC-Airways durchzukommen. Noch ahnte niemand, was Veyron Swift vor ein paar Stunden angerichtet hatte.
Tom setzte sich zu seinem Patenonkel, der in aller Seelenruhe eine Zeitung las. »Nicht viel los«, bemerkte Tom spitz.
Über Veyrons dünne Lippen zuckte ein flüchtiges Lächeln. »Rechts von dir, zwei Reihen weiter vorn«, sagte er, ohne von der Zeitung aufzublicken.
Tom schaute in die entsprechende Richtung. Er fand sieben junge Männer, deren Alter er nicht genau einschätzen konnte. Alle lümmelten mehr oder weniger teilnahmslos in ihren Sitzen, die Gesichter leichenblass, die Augen trüb. Einem troff sogar deutlich sichtbar Speichel aus dem Mund. Sie trugen schlampige Kleidung, falsch geknöpfte Hemden, abgetragene Jacken und total unterschiedliche Socken und Schuhpaare, die nicht zusammenpassten. »Was sind das für Kerle? Vampire vielleicht?«
»Am helllichten Tag? Gebrauche deinen Verstand, Tom! Nein, die Kerle gehören zu einer Punkrockband mit dem drolligen Namen Fiz-Fish-Ass. Sie kamen vor fünf Minuten von der Toilette, wo sie sich mit irgendeinem Zeug vollgedröhnt haben müssen. Zuvor waren sie aufgekratzt und laut, jetzt sind sie wie ausgewechselt. Ich frage mich, wie sie die Drogen bis hierher schmuggeln konnten? Wo hatten sie die versteckt? Sie haben kein Handgepäck, und die Drogenhunde bei der Eingangskontrolle haben nicht angeschlagen. Sehr wahrscheinlich ist es ein vollkommen neuer Stoff«, schlussfolgerte Veyron.
Tom schmunzelte. »Ich dachte, Sie interessieren sich nicht für Kriminalistik?«
Veyron blätterte die Zeitung um. »Nein, aber für Drogen und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Verstand. Arme Teufel, diese sieben. John Fizzler und Ira Fisher, die beiden Bandgründer, der eine Leadsänger, der andere Gitarrist. Beide noch keine dreißig, und schon mit eineinhalb Beinen im Grab. Furchtbare Musiker, die nur Misstöne hervorbringen. Zurzeit jedoch recht populär; weil sie anders sind als der ganze Industrie-Pop, der in den Radiostationen rauf und runter gespielt wird. Jetzt sieh nach hinten, die letzte Reihe ganz außen, weit weg von den anderen Passagieren.«
Tom drehte sich um und versuchte, ganz beiläufig zu gucken. Dort saßen eine junge Frau und ein junger Mann nebeneinander. Nun, nicht direkt. Ein kleiner Aktenkoffer stand zwischen ihnen. Der Mann arbeitete pausenlos auf einem kleinen Notebook, die Frau zog gerade ihren Lippenstift nach. Sie war eine Schönheit, langes blondes Haar und ein Körper, dessen Anblick Verzückung auslöste. Tom starrte sie an, er konnte gar nicht anders. Sie entdeckte ihn, erwiderte seinen Blick mit einem kurzen, geschäftlichen Lächeln. Verlegen wandte sich Tom in eine andere Richtung. »Wer ist sie? Sie könnte ein Model sein, so wie sie aussieht«, flüsterte er ehrfurchtsvoll.
Veyron schmunzelte. »Unwahrscheinlich. Sieh dir ihre Kleidung an: strenge Linien, teurer Stoff, und ständig der Blick auf die Uhr. Sie ist ungeduldig, muss wahrscheinlich Termine wahrnehmen. Schau, wie fest sie ihr Telefon in der Hand hält, ein sehr teures Modell aus echtem Silber. Pass auf! Da, schon wieder! Ein neues SMS-Signal. Sie erhält laufend Nachrichten, sicherlich nicht von einem Verehrer oder einer Freundin, dafür interessieren sie die Nachrichten viel zu wenig. Neben ihr sitzt ihr Assistent, der Mann mit der Brille und dem krummen Rücken. Er arbeitet am Notebook, sie gibt ihm Anweisungen. Sie ist Geschäftsfrau, Bankerin sehr wahrscheinlich. Sie fliegt ansonsten mit dem Privatjet. Darum fühlt sie sich hier unwohl, das siehst du an der Art, wie sie sich umsieht und wie nervös sie auf ihrem Platz hin- und herrutscht. Noch etwas ist interessant an ihr, was auch für uns von Bedeutung ist. Fällt es dir auf?«
»Sie sieht aus wie ein Engel, hat sehr lange Beine, bezaubernde Augen und …«
»Sehr gut, zumindest erkennst du schon mal das Offensichtliche. Jetzt pass auf. Sie sieht ständig auf die andere Seite des Raumes. Wenn sie jedoch dorthin schaut, tut sie dies nicht besonders freundlich.«
Tom blickte in jene Richtung, in die Veyron unauffällig mit der linken Zeitungsseite wedelte. Dort entdeckte er einen japanischen Geschäftsmann, der still dasaß und gelangweilt in einem Magazin blätterte.
»Nagamoto«, raunte Tom, als er ihn erkannte.
»Ganz genau. Zwischen Nagamoto und ihr besteht eine Verbindung. Es passt ihr gar nicht, ihn hier wiederzusehen. Ich würde wetten, sie ist eine Vertreterin von Borgin & Bronx, diesem berüchtigten Hedge Fonds. Während du dich mit sinnfreien und nutzlosen Videospielen beschäftigt hast, habe ich unsere Atlantiküberquerung zur Wissensmehrung genutzt. Ich weiß jetzt so ziemlich alles über Nagamoto und Borgin & Bronx.«
Tom ließ diese neuerliche, vor Arroganz triefende Besserwisserei unkommentiert. Verärgert schaute er sich die anderen Passagiere an. »Glauben Sie, Flammenschwert-Joe ist auch hier?«
Veyron schlug die Seite seiner Zeitung um, dann gleich noch einmal und schließlich wieder zurück. Er blieb ihm die Antwort schuldig. Eine Durchsage, dass das Boarding für Flug TC-327 begann, ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Die Leute standen auf, nahmen ihr Gepäck und reihten sich auf. Lediglich die sieben Punkrocker blieben zitternd auf ihren Plätzen sitzen, entweder, weil sie den Ruf nicht gehört hatten, oder weil ihre Körper nicht so wollten.
»Auf geht’s, Leute. Zeit zum Boarding«, rief Veyron, als er an ihnen vorbeikam.
Zögerlich setzte sich zumindest einer von ihnen, John Fizzler, in Bewegung. Wacklig erhob er sich und schleppte seine dünne, ausgemergelte Gestalt hinüber zur Warteschlange. »Danke, Mann. Geht uns gerade echt beschissen, weißt du«, keuchte er.
Veyron nickte lächelnd und reihte sich vier Leute vor Fizzler ein – so lange brauchte dieser, um die Warteschlange überhaupt zu erreichen. Fizzlers Kumpel folgten schließlich einer nach dem anderen. Veyron beobachtete sie genau, fand es offenbar faszinierend, wie sie ihre müden, kranken Körper durch die Halle schleiften, die einen torkelnd, die anderen wie in Zeitlupe.
»Ich muss meine Analyse korrigieren. Ein paar neue Informationen sind dazugekommen«, raunte er Tom zu.
Der beobachtete die Rocker gar nicht, sondern versuchte, die schöne Bankerin zu erspähen, die irgendwo ganz weit vorne stand.
»Zu ihrer Drogensucht und ihrem erbärmlichen Zustand kommt noch etwas hinzu: Angst, entsetzliche Angst. Auf der Toilette muss etwas geschehen sein, das sie in Todesangst versetzt hat. Vielleicht ist es auch eine Nebenwirkung der Drogen, möglicherweise eine Art Psychopharmakon«, fuhr Veyron fort.
Jetzt schenkte Tom den Rockern doch noch einen weiteren Blick – ungern, denn er wollte viel lieber die schöne Geschäftsfrau anschauen.
»Wer könnte die Macht besitzen, solches Zeug an den Drogenhunden vorbeizuschmuggeln und es diesen Leuten auf der Toilette zuzuspielen? Wenn ich raten dürfte, würde ich auf Flammenschwert-Joe tippen. Ich frage mich nur, was er damit bezwecken will. Was mag wohl sein Plan sein? Bestimmt nichts Gutes«, murmelte Veyron vor sich hin.
Jetzt war Tom aufgeregt. Dieser schreckliche Übeltäter war also hier, mitten unter ihnen? Vielleicht war er sogar einer der Passagiere, ein Dämon, getarnt in der Gestalt eines harmlosen Menschen. Tom musterte jeden Mann und jede Frau in der Warteschlange mit verstohlenen Blicken.
»Natürlich ist es reine Spekulation, beruhend auf einer vagen Vermutung, die wiederum der Annahme entspringt, dass unser dunkler Freund alles versuchen wird, um Nagamoto aufzuhalten und sich das Juwel des Feuers zu schnappen. Ich fürchte, mein Gehirn will sich wieder mal Arbeit sparen, am besten, du vergisst diese Theorie gleich wieder«, fuhr Veyron mit schnellen Worten fort.
Tom konnte es jedoch nicht wieder vergessen. Egal, was Veyron darüber dachte, für Tom machte das alles Sinn, und er wusste auch schon, wie Flammenschwert-Joe zuzuschlagen gedachte: Es würden die Rocker sein. Sie würden Nagamoto töten, und es sähe so aus, als wären die Drogen daran schuld.
Das Boarding verlief reibungslos. Die TC-Mitarbeiterinnen freuten sich, dass sie diesmal nicht so viele Passagiere abfertigen mussten wie sonst. Draußen im Empfangsbereich tobte Simon Weller noch immer, während sein Manager die Angelegenheit mit den Servicemitarbeitern von Torben-Carrisson-Airways regelte. Er akzeptierte die umgebuchten Plätze, wollte aber die Polizei einschalten, um diesen Hochstapler aufzuspüren, der ihnen den ganzen Ärger eingebrockt hatte. Niemand wusste natürlich, dass dieser gerade ins schnellste Flugzeug der Welt stieg und sich heimlich ins Fäustchen lachte. Tom dagegen rechnete nach wie vor damit, dass sie jeden Moment verhaftet wurden. Er ließ sich trotz Veyrons Versicherungen in dieser Meinung nicht umstimmen.
Die Supersonic war mit rund vier Metern Durchmesser recht schmal. Sie besaß darum in der Businessclass nur vier Sitze pro Reihe, getrennt von einem Mittelgang. Dafür waren die mit hellem Leder überzogenen Sitze größer und bequemer als in den meisten anderen Flugzeugen. Die Reisekabine war in warmen, gemütlichen Farben gehalten. Den Bereich zur First Class trennte eine große Glastür mit dunkelvioletten Vorhängen ab, welche die Luxusklasse vor neugierigen Blicken schützte. Tom konnte dem Faltplan der Maschine entnehmen, dass die First Class sogar nur aus vierzig Plätzen bestand. Eine weitere Glastür und die Fluggasttoiletten unterteilten die Businessclass nach etwa dreissig Sitzreihen in einen zweiten Bereich. Tom stellte fest, dass die Maschine nicht einmal bis zur Hälfte besetzt war. Gerade mal sechzig Passagiere verteilten sich hauptsächlich auf den vorderen Bereich der Businessclass. Jetzt erst wurden ihm die Auswirkungen von Veyrons Trick wirklich bewusst. Sie flogen vollkommen unterbesetzt!
Die Passagiere der First Class bestiegen das Flugzeug durch eine andere Fluggastbrücke. Hier verloren sie Nagamoto und auch die attraktive Bankerin aus den Augen. Tom fluchte leise, aber Veyron griff an seine Schulter und schüttelte den Kopf.
»Es ist alles genau so geplant, Tom. Natürlich wusste ich, dass Nagamoto First Class buchen würde. Ich habe jedoch nicht vor, mich ihm während des Fluges zu erkennen zu geben. Unser Freund Joe wird das sicher auch nicht tun. Wir verhalten uns still und beobachten. Vielleicht können wir FJ identifizieren, ehe wir in London landen«, erklärte er Tom, nachdem sie ihre Plätze auf der linken Flugzeugseite eingenommen hatten.
Tom saß am Fenster (darauf hatte er bestanden) und Veyron auf der Gangseite. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges, setzte sich ein junger Mann, jünger als Veyron, und er schien sogar nur wenig älter als Tom. Kaum hatte er sich Platz genommen, zog er einen Tablet-PC aus seiner Tasche und tippte darauf herum. Tom sah sich den jungen Mann genauer an. Er schien südländischer Herkunft zu sein: Die Haut war sonnengebräunt, das Haar schwarz.
Plötzlich sah der junge Mann auf und zu Tom und Veyron hinüber, ein begeistertes Lächeln auf dem Gesicht. »Ist das nicht fantastisch? Wir fliegen mit der Supersonic! Bin mal gespannt, was meine Leser davon halten, wenn ich das blogge!«, rief er aufgekratzt.
»Was ist es denn für ein Blog?«, fragte Tom.
Der junge Mann zeigte ihm ganz stolz das Tablet. »LIMAstrike, ein politischer Blog, hauptsächlich für Studenten. Ich habe ihn ins Netz gestellt. Dimitri Illianovos, das bin ich«, erklärte er und reichte Tom die Hand. Blitzschnell zog er sie wieder zurück. »Entschuldige, aber ich muss meine Eindrücke aufschreiben. Das ist ja alles so aufregend«, sagte er und tippte wieder auf dem Tablet herum.
Vielleicht sollte ich auch einen Blog aufmachen und über meine Abenteuer mit Veyron schreiben, dachte Tom. Dann nahm etwas anderes seinen Blick gefangen, und er konnte nur noch in diese Richtung starren. Eine junge Frau eilte zu ihrem Sitzplatz. Eine echte Schönheit, wie Tom fand. Das pechschwarze Haar hatte sie im Nacken zusammengeknotet. Sie blieb kurz neben Tom stehen und winkte jemandem weiter hinten, ehe sie nach vorn in Richtung First Class eilte. Ihre Bewegungen waren die einer Katze, geschmeidig und anmutig. Mist, dachte er, ich bin erst vierzehn. Ich wünschte, ich wäre schon zwanzig, oder so.
Ihre Schönheit schien selbst Illianovos aufgefallen zu sein, zumindest schenkte er ihr einen flüchtigen Blick, grinste frech und starrte wieder auf sein Tablet.
Plötzlich zwickte Veyron Tom in den Oberschenkel. Das war das vereinbarte Zeichen für Gefahr im Verzug. Das Zwicken hatten sie schon auf dem Hinflug ausgemacht, falls einer von ihnen etwas Ungewöhnliches bemerken sollte.
»Autsch! Was ist jetzt?«, blaffte Tom überrascht. Er hatte gerade einen wunderschönen Traum ersonnen, der sich irgendwie um die Schwarzhaarige drehte, als Veyron ihn so grob in die Wirklichkeit zurückholte.
»Die Augen offen halten, Tom«, raunte sein Pate halblaut; eine gewisse Strenge schwang in seinen Worten mit.
»Mach ich ja«, murrte Tom.
Veyron war anderer Meinung. »Du lässt dich zu leicht von der Umgebung ablenken. Sie ist viel zu alt für dich, etwa um die dreißig, würde ich sagen. Sie wird sich garantiert nicht für einen pubertierenden Vierzehnjährigen begeistern.«
»Pah! Was verstehen Sie schon von Frauen? Vielleicht steht sie auf jüngere Männer.«
»Dazu musst du zuerst einmal ein Mann werden.«
Tom verschlug es für einen Moment die Sprache. Das war heute schon das zweite Mal, dass er einer fantastisch aussehenden Frau begegnete. Wie oft kam so viel Glück über einen? Veyron hatte dagegen nichts als Spott für ihn übrig. »Jane hat recht! Sie sind echt fies! Sind Sie eigentlich immer so? Ich weiß gar nicht, was Sie gegen mich haben.«
»Die Wahrheit ist selten nett. Jetzt halte die Augen offen.«
Tom wandte sich beleidigt ab. Auf einmal fand er dieses Abenteuer gar nicht mehr so aufregend. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, was für eine Gefahr Veyron überhaupt entdeckt zu haben glaubte. Tom sah viel lieber in die Richtung, in der »Objekt Nr. 1« (so wollte er sie vorerst nennen) verschwunden war. Er fand sie in der vordersten Reihe, gleich vor den verhängten Glastüren der First Class. Sie sah sich kurz um, bevor sie sich setzte, ein suchender Blick, der Tom irgendwie verunsichert vorkam.
»Was sie wohl macht? Sie ist hübsch«, meinte er leise und eigentlich mehr zu sich selbst.
Veyron fühlte sich dennoch genötigt zu antworten. Leider, wie Tom fand. »Sie ist es gewohnt, Waffen zu tragen und abzufeuern. Zudem ist sie sehr versiert in Kampfsportarten und überhaupt körperlich sehr ausdauernd. Ich würde darauf tippen, dass sie Soldatin oder Elite-Polizistin ist. Vielleicht ist sie sogar Sky-Marshall oder Bodyguard, möglicherweise Söldnerin. Oder etwas Schlimmeres.«
Tom ballte die Fäuste. Er fragte sich langsam, ob Veyron aus Spaß ständig anderer Meinung war. Besaß sein Pate wirklich einen dermaßen großen Drang, andere ständig zu verbessern und ihnen seine Meinung aufzuzwingen? »Woher wollen Sie das wissen«, fragte er zornig.
Veyron seufzte enttäuscht. »Die Informationen lassen keinen anderen Schluss zu«, sagte er halblaut. »Da ist einmal die Art ihres Ganges. Er ist schnell und kraftvoll, präzise und diszipliniert gleichmäßig. Das deutet auf eine militärische oder paramilitärische Ausbildung hin. Zweitens: ihre Fingernägel; kurz und abgerundet, nicht geschnitten, nicht lackiert. Sie verrichtet mit den Händen praktische Arbeit und hält ihre Nägel deshalb kurz. Außerdem hat sie Schwielen auf den Handinnenflächen. Ich habe es gesehen, als sie vorhin jemandem gewinkt hat. Diese besondere Art Schwielen stammt vom häufigen Heben und Tragen schwerer, Gegenstände, Waffen und Munitionskoffer. Drittens: ihr Körperbau. Schlank, aber durchtrainiert. Ihre Schultern breit, die Oberarme stark, ebenso die Beine, die Statur muskulös, was alles auf sehr viel ausdauernden Sport und Krafttraining hindeutet. Jede Bewegung kontrolliert und geschmeidig, eindeutig das Ergebnis perfekter Körperbeherrschung, wie für Kampfsportmeister üblich. Viertens: ihr Blick. Schnell und fokussiert. Er hat das ganze Flugzeug binnen eines Augenblicks abgetastet und potenzielle Ziele von Nicht-Zielen unterschieden. Ich habe diesen Blick schon bei Scharfschützen der Polizei und beim Militär beobachtet. Du kannst mir vertrauen, sie ist eine Kriegerin.«
Tom bedachte Veyron mit einem beleidigten Blick. »Ich finde, sie ist trotzdem sehr hübsch.«
»Das ist irrelevant. Sieh hin«, hielt Veyron dagegen.
Als wollte das Schicksal ihm auch noch recht geben, tauchte in diesem Moment ein Mann neben Toms Objekt Nr. 1 auf und setzte sich zu ihr. Er war groß und muskulös und besaß etwas Wildes und Animalisches. Ein Kerl, mit dem man sich besser nicht anlegte – und gegen den Tom keinesfalls in Konkurrenz treten konnte. Er seufzte frustriert und ließ sich gegen die Lehne plumpsen. »Sie hat einen Freund. Na klar, Sie wussten das natürlich bereits die ganze Zeit«, warf er Veyron vor.
Doch sein Pate hörte ihm gar nicht zu, oder er ignorierte ihn einfach. Er hatte sich zurückgelehnt, die Fingerspitzen aneinandergelegt und war wieder schweigend in seine unergründliche Halbwelt aus Theorien, Fakten, Informationen und Analysen versunken, an der er keinen anderen Menschen teilhaben ließ.
Die Supersonic wurde von den Schleppfahrzeugen auf die Rollbahn gezogen. Die beiden Piloten starteten die vier riesigen Triebwerke, der Tower erteilte Startfreigabe. Mit einer ungeheuren Kraft schoss das raketenhafte Flugzeug vorwärts, raste über die Startbahn und erhob sich in die Luft. Immer schneller stieg die Maschine in den dunklen, gewittrigen Himmel auf. Der Regen peitschte gegen ihren weißen Rumpf und schüttelte ihn durch. Aber die Supersonic war für solches Wetter gebaut, nichts konnte sie aufhalten oder ihren Start erschweren. Die Kraft der gewaltigen Triebwerke schob sie immer höher, hinein in die Wolken und schließlich darüber hinweg, zurück in die Helligkeit. Endlich wurde der Flug ruhiger. Die Supersonic schwenkte auf ihren Kurs: Europa, die untergehende Sonne im Rücken, welche die Wolken in rötliche Farben tauchte und die Hülle der Supersonic scheinbar glühen ließ. Die Piloten beschleunigten noch weiter, und nach wenigen Augenblicken durchbrach die Supersonic die Schallmauer. Sie ließ den amerikanischen Kontinent weit hinter sich. Unter ihr waren jetzt nur noch die Wolken und die blauen Weiten des Atlantiks.
In der First Class entspannte sich Jessica Reed im riesigen Schalensessel. Es war kein Fehler gewesen, nicht mit dem Privatjet zu fliegen, das musste sie jetzt zugeben. Innerlich lobte sie Harry Wittersdraught für diese Entscheidung. Diese Sessel, die sich zudem elektrisch in eine Art Schalenpanzer zurückziehen konnten, waren weitaus bequemer als jene ihres eigenen Flugzeugs. Sie musste wohl ein paar Neuinvestitionen tätigen, wenn sie zurückkehrte. Zudem war es schon sehr beeindruckend, wenn sie auf dem kleinen LED-Bildschirm an der Rückenlehne des Vorsitzes MACH 1,8 lesen konnte. Sie liebte hohe Geschwindigkeiten. Derzeit gab es nichts Schnelleres am Himmel als die Supersonic – von Jagdflugzeugen einmal abgesehen. Vielleicht sollte sie sich eine ausrangierte Jagdmaschine kaufen, wenn sie aus Europa zurückkehrte.
Ihre Gedankenspiele wurden jäh von einem Schatten unterbrochen, der in ihr Gesichtsfeld trat. Es war die hagere, ausgemergelte Gestalt eines dieser zugekifften Punkrocker, die ebenfalls in der First Class saßen und das Einzige an diesem Flug darstellten, das extrem störte. Bisher waren die Burschen still und friedlich gewesen, aber nun pöbelten sie plötzlich lautstark herum.
»Hey, falls dir grade langweilig ist: Wir feiern da hinten eine kleine Privatparty, und Fisher meint, du wärst herzlichst eingeladen«, lallte der Rocker, Fizzler, wenn sie sich recht erinnerte. Sein rundes, leichenblasses Babygesicht mit den glasigen, grauen Augen und seine fettigen schwarzen Haare riefen sofort Ekelgefühle in ihr hervor.
»Muss ich dir erst dahin treten, wo’s wehtut, oder ziehst du von allein Leine?«, fragte sie in lapidarem Tonfall, ohne ihn richtig anzusehen.
Fizzler begann zu lachen. Zumindest hielt sie das spastische Keuchen, das er von sich gab, dafür. Er wandte sich seinen Kameraden zu, die alle um einen der großen Sitze herum auf dem Boden hockten. »Hey, Fisher! Die da ist großartig! Wow! Hey, weißt du was, Süße? Mit dir mach ich’s sofort«, lachte er.
Jessica hob ihre Augenbrauen, überlegte, ob sie ihm sofort eine scheuern oder doch lieber Pfefferspray benutzen sollte. Dieser Fizzler war ganz und gar abstoßend, überhaupt nicht ihr Typ, selbst wenn er der letzte Mann der Erde gewesen wäre. Zwei Flugbegleiterinnen kamen herein und baten die Punks, sich wieder zu setzen, doch die antworteten nur mit wüsten Beschimpfungen. Die armen Frauen drohten verzweifelt mit dem Captain und mit Flugverbot, doch die Punks lachten sie nur aus.
Sie drehte sich zu Harry Wittersdraught um. Der saß still in seinem Sessel und rührte keinen Muskel. Ein Grund mehr, ihn zu feuern, dachte Jessica wütend.
»Ihr setzt euch hin, und zwar sofort«, donnerte da eine tiefe, männliche Stimme durch die Kabine.
Das hustende Lachen Fizzlers erstarb ebenso wie das Grölen seiner bekifften Kumpels. Nagamoto Tatsuya stand mitten im Raum. Seine Blicke schienen Blitze zu verschießen. Fizzler wandte sich ihm zu, wollte etwas sagen, doch Nagamoto hob die Hand und brachte ihn augenblicklich zum Schweigen. »Hinsetzen!«, befahl er.
Auf einmal ging eine Veränderung in Fizzler vor. Er begann zu zittern wie Espenlaub, und seine Stimme nahm einen weinerlichen Tonfall an. »Klar, sofort, sofort. War nicht so gemeint. Wir wollten doch nur ein bisschen Spaß haben«, entschuldigte er sich und hastete zurück zu seinem Sessel. Auch die anderen Mitglieder von Fiz-Fish-Ass setzen sich, brav wie Schuljungen. Jessica war echt beeindruckt. Nagamoto kam zu ihr.
»Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er, die Stimme jetzt ruhig und freundlich.
»Danke, alles bestens. Fizzler war keine Bedrohung für mich«, erwiderte sie.
Nagamoto sah sie aus ernsten Augen eindringlich an. Er nickte nur. »Das heute Morgen war nichts Persönliches, Miss Reed. Ich vertrete nur die Interessen meiner Firma, so wie Sie zweifellos die Interessen Ihres Unternehmens«, sagte er.
Jessica lächelte, jedoch nicht aus Freundlichkeit, sondern aus einem plötzlichen Triumphgefühl heraus. Sie hatte seinen Schwachpunkt gefunden! Nagamoto, dieser edle Samurai in Hemd und Krawatte, besaß einen Beschützerinstinkt. Das war seine Schwäche, das war es, wie Jessica ihn umgänglicher machen konnte. Sie musste die Hilflos-Karte ausspielen. Nagamoto würde sich innerlich dazu verpflichtet fühlen, sie vor Schaden zu bewahren. Es war ein Zwang, er würde nicht anders können. Vielleicht konnte sie es sogar noch während des Fluges schaffen, ihn rumzukriegen.
»Ja, das tun doch alle, nicht wahr? Eigentlich verstehe ich Sie sehr gut, und vermutlich würde ich an Ihrer Stelle genauso handeln. Aber was soll ich tun? Ich wünschte, es wäre alles anders«, säuselte sie im allerfreundschaftlichsten Ton, den sie in ihrem Repertoire hatte. Sie konnte förmlich zusehen, wie Nagamotos harte Schale aufknackte.
Doch plötzlich verschloss sich sein Gesicht, das bisher freundlich gelächelt hatte, wieder. »Bleiben Sie ehrlich, das steht Ihnen besser«, brummte er und kehrte zu seinem Sessel zurück.
Jessica schloss verärgert die Augen. Konnte dieser Mann Gedanken lesen? Hatte sie irgendeinen Fehler gemacht? War sie vielleicht zu schnell vorgegangen? Sie lehnte sich aus dem Sitz und blickte zu Harry, der direkt hinter ihr saß. Ihr Assistent schob gerade seine Brille wieder auf die Nase und machte eine Geste mit seinen Händen. Immer mit der Ruhe, signalisierte er.
Sie lehnte sich wieder in den Sessel zurück. Sie war zu schnell gewesen, zu drängend, jetzt war sie sich sicher. Harry mochte zwar in fast allen Dingen ein Schlappschwanz sein, aber er besaß ein unheimliches Gespür für Menschen, darauf konnte sie sich verlassen. Also ruhiger, weniger geschäftstüchtig erscheinen. Sie würde ein paar Minuten vergehen lassen, anschließend zu Nagamoto gehen, sich entschuldigen, ihm für sein Eingreifen danken und abwarten, wie er darauf reagierte. Sie würde ihn knacken, noch bevor sie in Heathrow landeten.
»Das ist voll langweilig, man spürt ja gar nichts«, maulte Tom beim Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige, die auf allen Monitoren leuchtete. Mach 1,8. Schneller als der Schall, und doch gab es keinerlei merkbaren Unterschied zum letzten Flug, als sie nur halb so schnell unterwegs gewesen waren.
Veyron interessierte sich natürlich nicht dafür, er hatte die Augen geschlossen, die Fingerspitzen aneinander gepresst und die Beine ausgestreckt. Tom war nicht sicher, ob sein Pate schlief oder nur meditierte. Ehrlich gesagt wurde er aus Veyron einfach nicht schlau. Auf der einen Seite war er furchtbar großzügig und erlaubte fast alles. Himmel, er hatte Tom zu einem Tatort mitgenommen und war mit ihm nach New York geflogen – gegen den Willen der Polizei! Auf der anderen Seite zeigte er sich jedoch so gehässig und gefühlskalt, wie man es nur sein konnte. Viele Freunde kann er nicht haben, dachte Tom, aber das geschieht ihm auch ganz recht, weil er immer so furchtbar angeben muss.
Plötzlich kann Unruhe im Flugzeug auf.
»Aus dem Weg, aus dem Weg! Ich muss auf die Toilette!«, ertönten laute Rufe aus dem hinteren Teil der Supersonic.
Einige Passagiere hoben die Köpfe, und auch Tom warf einen Blick über die Schulter. Ein riesiger Mann, ein wahrer Koloss aus Fleisch und Muskeln, schob sich durch die engen Sitzreihen nach vorne. Er stieß eine Flugbegleiterin grob zur Seite, als sie ihm ihre Hilfe anbot. Einige der Passagiere hießen ihn lautstark einen Idioten (da musste Tom ihnen recht geben), andere kicherten nur. Warum geht er denn nicht nach hinten? Da sind doch die Klos. Der Idiot rennt in die falsche Richtung, dachte Tom amüsiert, als der Riese eilte an seinem Sitzplatz vorüber kam.
Eine Reihe vor ihnen sprang plötzlich ein weiterer Mann auf. »Oh mein Gott! Meinem Kumpel ist schlecht! Er muss dringend auf die Toilette!«, rief er und folgte dem Riesen nach vorne.
Tom konnte nur staunen. Er wandte sich an Veyron, der tief durchatmete. »Genau wie befürchtet. Ich dachte schon beinahe, ich hätte mich geirrt, als so lange nichts passierte. Die Informationen ließen eigentlich keinen anderen Schluss zu«, seufzte er.
Tom sah ihn verwundert an. »Vielleicht erklären Sie’s auch einem Normalsterblichen?«
Veyron seufzte wieder. »Sind dir nicht die ganzen nervösen Leute aufgefallen, verteilt über die ganze Kabine? Alle zeigten recht ähnliche Verhaltensmuster: ein krampfhaftes Bemühen, nicht aufzufallen. Aber das hat sie letztlich verraten. Weiter hinten ist einer alten Lady ein Becher zu Boden gefallen, und alle in ihrer Nähe haben sich gebückt oder wenigstens hingesehen, bis auf unsere Verdächtigen. Sieh gut zu, mein lieber Tom: Unser Flugzeug wird gerade entführt.«
Tom spähte ungläubig nach vorne. Die beiden Männer drangen brüllend in die First Class ein. Ihnen folgten in geringem Abstand Toms Objekt Nr. 1 und ihr muskulöser Freund. Es war ein beinahe bizarres Schauspiel: Aus dem hinteren Teil des Flugzeugs kamen nun noch mehr Männer und Frauen angelaufen, alle mit wilden, entschlossenen Mienen. Das war wirklich kein Spaß. Um diese Tatsache zu unterstreichen, schlug der Riese mit einer seiner Pranken eine junge Flugbegleiterin nieder, deren Namensschild Tom vorhin direkt vor der Nase gehabt hatte, als sie ihm eine Cola serviert hatte: Mariah Kirkland. Blut spritzte aus ihrer Nase, während sie mit einem Keuchen zu Boden ging. Tom sprang auf, bereit, irgendetwas zu unternehmen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Auch einige der anderen Passagiere waren aufgestanden, sahen sich ratlos um, andere stellten dumme Fragen. Doch niemand konnte sich zum Eingreifen bewegen, alle schauten nur tatenlos zu, wie es geschah. Veyron packte Tom und zog ihn zurück in den Sitz.
»Wir müssen was unternehmen!«, protestierte er, doch Veyron schüttelte den Kopf.
»Aussichtslos, jetzt etwas zu unternehmen. Es sind ganze zehn Mann. In dieser Phase der Entführung könnten wir sehr schnell erschossen werden. Deshalb müssen wir es geschehen lassen und beobachten. Entweder ist das Teil von Flammenschwerts Plan, oder aber er wird selbst etwas unternehmen müssen. In diesem Fall sind diese Entführer sicher nicht zu beneiden. Also ruhig bleiben, alles genau beobachten und im Stillen Pläne schmieden«, erklärte er so gelassen, als sähe er einen Krimi im Fernsehen und wäre gar nicht mittendrin im Geschehen.
Kurz darauf kehrten die Entführer aus der First Class zurück. »Alles sitzen bleiben! Keiner rührt sich! Keiner rührt sich!«
Einige von ihnen trugen Schnellfeuergewehre, andere nur Pistolen, aber alle hatten kugelsichere Weste angelegt. Die Passagiere wurden kleinlaut, nur hier und da gab es einen panischen Ausruf, den die Entführer mit gebellten Befehlen zum Verstummen brachten.
»Werden wir gerade entführt? Wir werden doch nicht gerade wirklich entführt! Das darf doch nicht wahr sein!«, hörte Tom Dimitri aufgebracht rufen. Schnell steckte der junge Blogger sein Tablet in die Tasche, als wäre es ein Schatz, den es zu behüten galt.
»Wo haben die nur die Waffen her? Es gibt doch überall Kontrollen«, jammerte Tom leise, die Ausweglosigkeit der Situation allmählich begreifend.
Veyron blieb noch immer ganz gelassen. »Versteckt im Gepäckraum. Ein deutlicher Hinweis auf die detaillierte Vorbereitung dieser Entführung, zudem ein eindeutiges Indiz, dass dahinter jemand mit sehr viel Geld steckt. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das alles zu Flammenschwerts finsterem Plan gehört. Die Frage ist nur: Was will er damit bezwecken, und wie passen seine anderen Untaten da hinein?«
Alec schickte alle seine Kämpfer auf ihre Positionen. Der kahl geschorene Ban sollte zusammen mit Carlos und der blutjungen Xenia die hintere Hälfte der Businessclass übernehmen. Xenia war erst neunzehn, dies war ihr erster Einsatz. Aufgrund ihres Alters wirkte sie noch so unbedarft – mit ihrem glatten, jugendlichen Gesicht und der modischen Kurzhaarfrisur – und doch war sie der Sache von Roter Sommer so loyal verschrieben wie kaum jemand anderer. Ohne Zögern würde sie in den Tod gehen, wenn Alec es befahl. Er war stolz auf die junge Kriegerin, denn sie war der Grundstock einer neuen Generation von Gerechtigkeitskämpfern. Said schickte er zusammen mit dem Riesen Claude und Shannon in die vordere Hälfte der Businessclass, um dort die Passagiere in Schach zu halten. Die Irin war eine kaltblütige Killerin, deren Fanatismus aus ihren grünen Augen funkelte und das einzig Lebendige in ihrem eingefallenen, fahlen Gesicht zu sein schien. Diese drei hatten schon an vielen Roter-Sommer-Aktionen teilgenommen und besaßen die meiste Kampferfahrung.
Johan und Otto, der eine ein hochgewachsener Schwede, der andere ein schlaksiger, hakennasiger Deutscher, übernahmen die First Class. Alec und Tamara wollten derweil dem Cockpit einen Besuch abstatten. Bisher war alles ruhig verlaufen; die Passagiere machten keine Dummheiten. Sicherlich fragte der eine oder andere Scheißkerl nach der Bedeutung des Ganzen, doch ein Wink mit der Waffe brachte jedermann sofort zum Schweigen.
Alec fand die Cockpittür verriegelt vor. Die beiden Piloten hatten also mitbekommen, was geschehen war, und sich eingeschlossen. Er konnte nicht einmal seufzen, so sehr nervte ihn das. Er wusste genau, was die beiden da drin taten. Gerade eben stellten sie sicherlich den Transpondercode auf 7500 um, der alle Bodenstationen warnte, dass dieser Flug in die Hand von Entführern gefallen war. Wie furchtbar einfallslos!
Er schnippte mit den Fingern. Tamara eilte zurück in den Crewbereich, wo Otto drei Flugbegleiterinnen in Schach hielt. Eine saß mit blutverschmiertem Gesicht am Boden, die anderen beiden hielten sie in den Armen und versuchten, sie zu trösten. Tamara packte die Nächstbeste, zerrte sie hoch und schubste sie nach vorn zu Alec. Der schnappte die junge Frau, verdrehte ihr grob den rechten Arm und drückte ihr die Pistole hart in den Nacken. Er fragte sie in barschem Ton nach ihrem Namen.
»Sandy Stize«, wimmerte sie.
Alec hämmerte mit der Pistole gegen die Cockpittür. »Aufmachen! Machen Sie auf, oder ich puste Miss Sandy Stize das Gehirn aus dem Schädel! Ich zähle bis zehn! Eins, zwei, drei, vier, fünf …«
Die elektronische Verriegelung der Tür surrte, und sie öffnete sich. Mit einem zufriedenen Lächeln stieß Alec die arme Sandy Stize wieder in Tamaras Arme. Triumphierend langsam, den Moment genießend, stieg er ins Cockpit und trat zwischen die beiden finster dreinschauenden Piloten. »Geben Sie mir die nächste Bodenstation, mit der Sie Kontakt halten«, befahl er dem Captain, einem Mann namens Hotchkiss.
Der nahm seinen Kopfhörer ab und reichte ihn ohne Zögern und ohne eine Gefühlsregung an Alec.
Er presste sich eine der Muscheln ans Ohr. »Mit wem spreche ich jetzt?«
»London Heathrow Flugkontrolle«, antwortete ihm eine nüchterne Stimme.
»Klasse, genau die richtige Adresse«, sagte Alec. »Hier spricht ein Vertreter der Gerechtigkeitsliga des Roten Sommers. Torben-Carrisson-Airways Flug 327 befindet sich jetzt in unserer Gewalt!«