Читать книгу Der Scrum-Reiseführer - Tobias Renk - Страница 16
4.5 Führung und Teambildung in agilen Teams
ОглавлениеDas Entstehen eines Spitzenteams durchläuft vorab verschiedene Phasen, genauso wie bei der Buchung eines langersehnten Traumurlaubs. Zunächst wird ein passender Zeitraum und das zur Verfügung stehende Budget festgelegt. Anschließend werden Urlaubsziele miteinander verglichen und das bestmögliche ausgesucht. Ein Hotelzimmer oder eine Pension wird reserviert. Reisen Sie per Flugzeug, kaufen Sie Flugtickets und je näher das Abreisedatum rückt, umso tiefer stecken Sie in den letzten Vorbereitungszügen. Die Wanderstiefel werden geputzt oder der Bikini noch einmal kritisch auf seinen Sitz beäugt. Der Nachbar ist bereits im Besitz des Hausschlüssels und hat sich freundlicherweise dazu bereit erklärt, zweimal die Woche die Pflanzen zu gießen. Das Taxi wird vorbestellt und auch der Mietwagen am Zielflughafen ist bereits organisiert. Jetzt kann der Urlaub richtig losgehen!
Ähnlich verhält es sich auch mit agilen Teams (beziehungsweise mit Teams im Allgemeinen, agil macht hier keinen Unterschied). Bringt man Personen aus unterschiedlichen Bereichen zusammen, um gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten, durchläuft die Gruppe zwangsläufig gewisse Schritte, bevor sie zu einem Höchstleistungsteam wird. Der US-amerikanische Psychologe Bruce Tuckman hat die Dynamiken von Teams auf dem Weg hin zu Hochleistungsteams untersucht. Er entwickelte in den 1960er Jahren ein vierphasiges ModellTeam-Building-Phasen, welches er 1977 um eine weitere, fünfte Phase ergänzte. Die fünf von Tuckman festgelegten Phasen lauten Forming, Stroming, Norming, Performing und Adjourning (Mourning). Sie sind in Abbildung 7 dargestellt und werden nachfolgend näher erläutert.
In jeder Phase finden bestimmt Teambildungsentwicklungen statt. Die Phasen sind je nach Team unterschiedlich lang. Allgemeingültige Aussagen über die Entwicklungsdauer können also nicht getroffen werden und wären allenfalls unzuverlässig. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gruppe neu zusammengewürfelt wird oder ob eine bereits bestehende Gruppe mit nur einer weiteren Person ergänzt oder ausgetauscht wird. Der Phasenzyklus beginnt immer von vorne, allerdings nicht jedes Mal im gleichen Ausmaß. Bereits die Kenntnis dieser Phasen innerhalb eines Teams hilft, mit Schwierigkeiten konstruktiver umzugehen. Konflikte, Streitigkeiten und kontroverse Diskussion werden dann nicht mehr als ein Zerfall des Teams angesehen, sondern als etwas Normales und Notwendiges, als ein Teil der gemeinsamen Reise.
Abbildung 7:
Team-Building-Phasen nach Tuckman
Forming
Viele Teammitglieder sind in dieser Phase voller Vorfreude auf die neue Aufgabe. Gleichzeitig ist diese positive Aufregung gepaart mit Unsicherheit, da man sich und seinen Platz im Team noch nicht einschätzen kann. Es gibt viele unbeantwortete Fragen in Bezug auf das Miteinander und den Umgang untereinander. Verantwortlichkeiten und Prozesse sind noch nicht bekannt. Manchmal weiß das Team zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass es bestimmte Prozesse überhaupt benötigt. Das Gebot der Stunde heißt Beobachten und Verstehen. Konflikte werden (noch) nicht offen angesprochen, da eine Unsicherheit darüber besteht, wie das Team mit Bedenken und Konfliktsituationen umgeht. Oft benötigt es ein paar couragierte Vorstöße einzelner, bevor auch andere Teammitglieder sich trauen, offen Kritik zu äußern.
Storming
Nach einiger Zeit wird den Teammitgliedern bewusst, dass nicht alle Erwartungen an das Team zu erfüllen sind; zumindest nicht, wenn sich nichts ändert. Einige Teammitglieder werden jetzt die Gunst der Stunde ergreifen und ihre Unzufriedenheit offen ansprechen. Andere werden sich eher in sich zurückziehen und Abstand vom Team nehmen. Gründe für Unzufriedenheit gibt es viele und sind von Team zu Team verschieden. Einige Teammitglieder können genervt darauf reagieren, dass ihre Arbeitsergebnisse und deren Fortschritt als Teil des Sprint Backlogs transparent gemacht werden. Sie erkennen darin nichts anderes als ein Kontrollinstrument des „Managements“. Einige werden mit dem Gesamtfortschritt unzufrieden sein und nicht selten nach Gründen außerhalb ihres Einflussbereichs suchen, um sich selbst vor anderen – aber auch vor sich selbst – abzusichern und rechtfertigen zu können. In solchen Situationen meinen Teammitglieder zu lernen, dass sie sich nicht auf andere im Team verlassen können. Vorwürfe werden laut und die Verantwortung wird von sich selbst weggestoßen. Themen werden vermehrt „in kleiner Runde“ diskutiert, womit unweigerlich Allianzen innerhalb des Teams gebildet werden. Dem entgegen wirkt, den Fokus der einzelnen Teammitglieder weg von den individuellen Leistungen hinzu einer intensiven Zusammenarbeit zu lenken. Erkennt jeder im Team an, dass die Kollegen besondere Vorzüge und individuelle Schwächen mitbringen, von denen das Team in seiner Gesamtheit profitiert, hilft dies allen, die Situation besser zu verstehen und damit konstruktiv umzugehen.
Norming
Durch viele Diskussionen und Konflikte lernen sich die Teammitglieder besser kennen. Sie erkennen und verstehen die Wertegerüste der anderen Teammitglieder und lernen, wie das Team über die formellen Rollen hinaus funktioniert. Die Teammitglieder bilden nur Taktiken aus, um die Zusammenarbeit zu stärken, Gemeinsamkeiten zu fördern und Stärke der einzelnen Teammitglieder besser zu integrieren. Ein überraschendes Ergebnis, das durchaus nachdenklich stimmen kann, wurde von Google im Rahmen des Projektes Aristotle veröffentlicht. Demnach kommt es bei einem Hochleistungsteam nicht darauf an, ob es sich an allgemein anerkannten guten Werten und Prinzipien orientiert, wie beispielsweise Teammitglieder ausreden lassen und ihnen nicht ins Wort fallen, sondern dass alle im Team die gleichen Werte und Prinzipien teilen! Von außen betrachtet ist es also für jemanden sehr schwer, auf Grund des Umgangs miteinander im Team direkt auf die Leistungsfähigkeit des Teams zu schließen. Ein Team, in dem sich die Mitglieder gegenseitig anschreien, kann durchaus Höchstleistungen erbringen, solange alle im Team diesen Umgang als den für das Team richtigen erachten.
Performing
Nach ausgetragenen Konflikten, die viel Kraft und Energie gekostet haben, steigt die Stimmung im Team. Die Teammitglieder beginnen, sich weniger mit sich selbst und den anderen zu beschäftigen, sondern konzentrieren sich mehr auf Inhalte. Das grundsätzliche Gerüst der Zusammenarbeit steht, der Fokus liegt jetzt darauf, wie gemeinsame Ziele nach und nach immer besser und schneller erreicht werden können. Das Team hat dazu Rituale etabliert, die ebenfalls dabei helfen, neu auftretende Konflikte lösungsorientiert anzugehen. Es entsteht ein „inner circle“, der es für Außenstehende schwer macht, Teil des Teams zu werden.
Adjourning
Wird das Teamgefüge nun substanziell verändert, zum Beispiel dadurch, dass das Team in kleinere Teams aufgeteilt wird oder dass neue Teammitglieder auf Schlüsselrollen hinzukommen, entstehen bei vielen Teammitgliedern Sorgen und Bedenken. Vor allem mögliche – und bis dato unbekannte – Veränderungen der eigenen Rolle sorgen für Unsicherheiten einzelner Teammitglieder.
Teambildung benötigt Zeit. Obwohl das von Tuckman definierte Phasenmodell bis heute nichts von seiner Gültigkeit verloren hat, ist der Druck auf Teams, in immer kürzeren Zyklen mehr Ergebnisse zu liefern, gestiegen. Haben Unternehmen heute also noch Zeit für Teambildung? Kann das Thema Teambildung beschleunigt werden? Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang immer häufiger gebraucht wird, ist der des Empowerments. Führungskräfte geben dabei einen Teil ihrer Entscheidungshoheit auf und übertragen diesen auf ihre Mitarbeitenden. Dadurch, dass Teams bestimmte Entscheidungen innerhalb der Gruppe treffen dürfen, wird die Motivation gesteigert, was sich positiv auf die Lieferung von Ergebnissen auswirkt und gleichzeitig die Dauer des Teambildungsprozesses verkürzen kann. Dieser zuerst einfach anmutende Weg birgt jedoch Konfliktpotenzial. Mal abgesehen davon, dass viele Führungskräfte diesem Prinzip misstrauen, weil sie dadurch selbst weniger „mächtig“ sind und befürchten, Kontrolle zu verlieren, müssen Mitarbeitende erst lernen und wollen, Entscheidungen zu treffen. Um dies zu erreichen, sind zunächst noch weitere Schritte notwendig.
General Stanley McChrystal beschreibt in seinem Buch Team of Teams ein einfaches Konzept, das den Zusammenhang zwischen Komplexität und Anpassungsfähigkeit verdeutlicht. Diese zwei Aspekte sind es, die agile Entwicklungsmethoden wie Scrum so beliebt gemacht haben. Obwohl dem Buch ein militärischer Hintergrund zugrunde liegt, sind die Erkenntnisse durchaus auf Scrum Teams anwendbar. Komplexität wird in diesem Modell maßgeblich durch die Komponenten Geschwindigkeit, also die sich rasend schnell ändernden Umweltbedingungen, und gegenseitigen Abhängigkeiten derselben bestimmt. Um auf diese komplexen Probleme reagieren zu können, braucht es ein anpassungsfähiges Team. Dieses wird wiederum durch ein gemeinsames Bewusstsein innerhalb des Teams sowie durch Empowerment der Teammitglieder erreicht. Entscheidend ist dabei, dass eine gewisse Reihenfolge berücksichtigt wird. Zunächst sollte ein gemeinsames Bewusstsein geschaffen werden. Erst mit dieser einheitlichen Basis kann innerhalb eines Teams Empowerment stattfinden. McChrystal geht in seinem Buch sogar noch weiter, wenn er schreibt, dass Empowerment ohne ein gemeinsames Bewusstsein gefährlich sei. Er führt als Beispiel die Finanzkrise 2008 an, die zu einem großen Teil von jungen, unerfahrenen Bankern ins Rollen gebracht worden war, die zu viel Entscheidungsspielraum und zu wenig Anleitung bekommen hatten. Empowerment funktioniert demnach nicht, wenn innerhalb einer Organisation oder eines Teams die Verantwortung einfach „nach unten“ geschoben wird. Es ist sogar in hohem Maße gefährlich. Vielmehr müssen die Teammitglieder bereit und willens sein, Verantwortung zu übernehmen. L. David Marquet beschreibt diesbezüglich eine Episode in seinem Buch Turn the Ship Around!, in der sich Abteilungsleiter beim Executive Officer abmelden und fragen, ob es für sie noch etwas zu tun gäbe. Die Verantwortung für die Arbeiten der Abteilungsleiter bleibt damit laut Maquet beim Executive Officer. Vielmehr sollten Abteilungsleiter erklären, was sie bereits geschafft haben und was sie planen, als nächstes zu tun. Marquet bezeichnet das als „Leadership at all levels“ oder Intent-based Leadership, womit wir erneut beim Thema Selbstorganisation wären. Die beiden wichtigsten Zutaten, die den Kern des Konzepts von McChrystal bilden, fehlen jedoch noch. Diese sind ein gemeinsames, sinnhaftes Ziel und Vertrauen. Nur wenn alle Teammitglieder das gemeinsame Ziel kennen und teilen und den Sinn darin verstehen, können sie die einzelnen Stärken zielgerichtet einbringen und auf Aktionen anderer entsprechend reagieren. Dies erfordert ein gewisses Maß an Vertrauen innerhalb des Teams.
Wie wichtig Vertrauen unter Teammitgliedern ist, um Höchstleistungen erzielen zu können, ist auch daran erkennbar, dass Vertrauen die grundlegende Funktion im Modell von Patrick Lencioni ist. Es beschreibt fünf Funktionen und Dysfunktionen von TeamsDysfunktionen von Teams, die in Abbildung 8 dargestellt sind. Dieses Modell dient der Standortanalyse im Rahmen von Teamentwicklungsprozessen. Dabei gilt es Funktionen sicherzustellen und Dysfunktionen zu beenden, denn in dem Maße, wie sich Funktionen positiv auf die Leistungsfähigkeit von Teams auswirken, können Dysfunktionen den nachteiligen Effekt haben.
Abbildung 8:
Fünf Dysfunktionen von Teams
Vertrauen
Amy Edmundson, Professorin für Leadership an der Harvard Business School, hat den Begriff „psychologische Sicherheit“ geprägt. Damit beschreibt sie ein Umfeld des Vertrauens, in dem sich Teammitglieder sicher fühlen. Ihre Forschung hat ergeben, dass in solchen Teams vermeintlich mehr Fehler gemacht werden als in Teams, in denen kein gegenseitiges Vertrauen vorherrscht. Das ist allerdings ein Trugschluss. In Wahrheit hat das Umfeld der psychologischen Sicherheit zu einem anderen Umgang mit Fehlern geführt. Diese wurden offener angesprochen und das Team hat als Ganzes daraus gelernt. Es entstand eine offene Fehlerkultur, die am Ende zu hochperformanten Teams führen kann. Im Gegensatz dazu werden in Teams, in denen diese Kultur fehlt, Fehler und Missstände eher verheimlicht und vertuscht, was sich am Ende nachteilig auf das gesamte Team auswirkt.
Konfliktbereitschaft
Konflikte sind per Definition nichts Schlechtes. Ganz im Gegenteil, sie sind notwendig, um Neues entstehen zu lassen und Innovation voranzutreiben. Dieses Bewusstsein zu schärfen, ist ein wichtiger Bestandteil von Hochleistungsteams.
Selbstverpflichtung
Selbstverpflichtung bedeutet, sich als Teammitglied zur gemeinsamen Sache zu bekennen. Es beinhaltet auch, Verantwortung für das Team und das gemeinsame Ziel zu übernehmen. In Hochleistungsteams halten sich Teammitglieder keine Hintertüren offen. Das gemeinsame Ziel ist wichtiger als individuelle Ziele. Es gilt demnach, den Gemeinschaftssinn zu stärken.
Gegenseitige Verantwortlichkeit
Darf man sich in die Angelegenheiten anderer Teammitglieder einmischen? Im Sinne des gemeinsamen Ziels ist dies sogar erwünscht, sollten Beiträge einzelner nicht zielführend sein. Das gemeinsame Lernen und Erreichen des Ziels stehen im Vordergrund. Natürlich entwickelt sich dadurch eine gewisse Gruppendynamik, die zunächst irritieren mag, vor allem, wenn man als einzelner nicht daran gewöhnt ist. Da sich Anforderungen in heutiger Zeit rasend schnell ändern können, ist es notwendig, mit diesen zu wachsen, und zwar zusammen, da die Komplexität vieler Anforderungen die Zusammenarbeit vieler benötigt.
Zielorientierung
Klare und eindeutige Zieldefinitionen vermeiden, dass Status und Ego einzelner zu sehr wuchern. Vermehrt hört man heutzutage, dass auf Grund von Agilität klare und eindeutige Zielformulierungen nicht möglich sind. Das ist schlichtweg nicht richtig. Natürlich ist es nicht einfach, aber ein wesentlicher Teil von Führung – und das beschränkt sich nicht auf einen rein agilen Kontext – bedeutet auch, dem Team Sinn und Orientierung in der Arbeit zu vermitteln. Das kann in der Praxis beispielsweise durch eine klare und offene Kommunikation geschehen, wobei natürlich inhaltlicher Kontext genauso wichtig ist.