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Kapitel 2 Triumph der Diplomatie

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Während Somary im Januar 1930 durch Deutschland reiste, verwandelte sich die ruhige holländische Hauptstadt Den Haag plötzlich in einen summenden Bienenkorb, als Staatsoberhäupter, Minister und hohe Beamte aus allen Teilen Europas und aus Japan eintrafen. Sie sollten die Verhandlungen abschließen, die bei der Ersten Haager Konferenz im August 1929 begonnen hatten, und eine endgültige Übereinkunft in allen Fragen erreichen, die seit Kriegsende offengeblieben waren. Auf die Fragen der Presse, ob die Konferenz Erfolg haben werde, zeigten sich die meisten Diplomaten zuversichtlich. Man glaubte, dass internationale Konflikte durch Konferenzen und Verhandlungen zu lösen seien, egal wie schwierig die Lage sein mochte. Am späten Nachmittag des 20. Januar 1930 unterzeichneten schließlich 500 Delegierte und Experten aus fast 20 Ländern das Abschlussprotokoll und seine Anhänge. Es dauerte fast eine Stunde, bis die mit orangen Bändern zusammengehaltenen Dokumente von allen Delegationen signiert worden waren. Der Vorgang wurde von einer Militärkapelle begleitet, die vor den Fenstern des Konferenzsaals getragene Melodien spielte. Die Atmosphäre war nüchtern, da die meisten Delegierten von den stundenlangen Verhandlungen ermüdet und einige französische Minister bereits zur Londoner Flottenkonferenz abgereist waren. Dennoch hatten alle Anwesenden im Binnenhof, dem ehrwürdigen gotischen Parlamentsgebäude der Niederlande, das Gefühl, einem historischen Augenblick beizuwohnen.1

Nach der Zeremonie klopfte der belgische Premierminister Henri Jaspar als Konferenzvorsitzender mit einem Hammer auf den Tisch und bat den britischen Finanzminister Philip Snowden, im Namen der versammelten Delegierten zu sprechen. Snowden war eine seltsame Wahl. Er hatte wegen seiner sarkastischen Kritik an der französischen und deutschen Delegation einen schlechten Ruf und war nicht als mitreißender Redner bekannt. Doch selbst er war von den in Den Haag erreichten Ergebnissen so bewegt, dass er ein tiefes Gefühl des Optimismus ausdrückte. Ohne Zögern erklärte er: „Die finanziellen Probleme sind, wie wir glauben, dauerhaft gelöst, und wir werden in diesem Zusammenhang nicht länger Alliierte und Feinde sein, sondern Freunde und Kameraden, die gemeinsam an dem arbeiten, was zur völligen Befriedung Europas noch zu tun bleibt.“ In seiner Abschlussrede knüpfte der Vorsitzende Jaspar an Snowdens Worte an und begrüßte die Diplomatie des schrittweisen Fortschritts: „Zehn Jahre lang sind die vom Krieg herrührenden Finanzprobleme das Thema unzähliger internationaler Konferenzen gewesen. Bei jeder Konferenz wurde ein weiterer Schritt vorwärts gemacht, und wir glauben, dass wir in den gerade unterzeichneten Dokumenten diese langen Diskussionen zu einem Abschluss gebracht haben.“ Seine Worte wurden mit lautem Beifall aufgenommen.2

Am nächsten Morgen lobte die liberale britische Presse die Zweite Haager Konferenz in vollen Tönen. Die Times schrieb: „Ein langes und schwieriges Kapitel in der Geschichte des Krieges wurde endgültig abgeschlossen.“ Der Economist pries den „Erfolg in Den Haag“ und erklärte: „Die Vergangenheit ist wie eine abgewirtschaftete Firma mit schlecht geführten Büchern endlich aufgelöst worden.“ Auf der anderen Seite des Atlantiks teilte die New York Times diese Sicht: „Die schwärende Wunde ist nun geheilt. Die Debatten und Vorwürfe sind vorüber. Das Problem ist beseitigt.“3

Die französischen Zeitungen waren weniger enthusiastisch, denn Paris hatte in verschiedenen Fragen Kompromisse machen müssen. Dennoch begrüßte sogar Le Temps, das inoffizielle Sprachrohr der französischen Regierung, die in Den Haag erzielten Ergebnisse: „Die Vereinbarungen von Den Haag markieren einen wichtigen moralischen und politischen Fortschritt für die gesamte internationale Lage.“4 Ähnlich positiv reagierte die regierungsfreundliche Presse in Deutschland, obwohl auch Berlin nicht alle seine Ziele hatte durchsetzen können.

Die in Den Haag versammelten Diplomaten und Politiker waren besonders stolz darauf, dass sie die Lähmung überwunden hatten, die nach dem Tod des deutschen Außenministers Gustav Stresemann im Oktober 1929 eingetreten war. Bei der Ersten Haager Konferenz im August war Stresemann sehr krank gewesen. Mitten in einer Konferenz mit deutschen und französischen Ministern um halb zwei Uhr nachts fasste er sich plötzlich ans Herz und sagte: „Ich kann nicht mehr!“ Der deutsche Finanzminister Rudolf Hilferding, ein gelernter Arzt, brachte ihn ins Oranje-Hotel, wo die deutsche Delegation wohnte. Als Hilferding zurückkehrte, um seine Kollegen zu informieren, sagte er: „Die Uhr ist abgelaufen.“ Sechs Wochen später starb Stresemann mit 51 Jahren an einem Schlaganfall. In der Vossischen Zeitung hieß es: „Mehr als ein Verlust: ein Unglück!“5

Seit 1923 hatte Stresemann die deutsche Außenpolitik bestimmt und zusammen mit dem französischen Außenminister Aristide Briand viel für die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen erreicht. 1926 erhielten sie gemeinsam den Friedensnobelpreis für die Verträge von Locarno, die den Weg zur deutschen Aufnahme in den Völkerbund bahnten. Als Briand von Stresemanns Tod erfuhr, sagte er zu seinen Mitarbeitern, man solle zwei Särge bestellen, einen für Stresemann und einen für ihn. „Es ist vorbei, alles!“ Ein hoher deutscher Beamter, der sich damals in Paris aufhielt, beobachtete beim Besuch der deutschen Botschaft in der Rue de Lille: „Von dem alten Palais des Prinzen Beauharnais hing die riesige Reichsflagge auf Halbmast gehißt herab. Briand verließ gerade das Haus, in dem er sein Beileid dem Botschaftsrat (der Botschafter war verreist) ausgesprochen hatte. Man sah seinen Augen an, daß er geweint hatte. … Briand wußte, daß mit diesem Toten auch die Arbeit seines eigenen Lebens zu Grabe getragen wurde.“6

Natürlich war ihre Beziehung nicht frei von Reibung oder Enttäuschung gewesen, da Frankreich und Deutschland unterschiedliche Ziele anstrebten. Für Frankreich war das zentrale Anliegen seine Sicherheit gegenüber Deutschland, und alle Maßnahmen der Verteidigungs-, Außen- oder Finanzpolitik zielten darauf ab, das Land vor dem einstigen Feind zu sichern. Deutschland strebte eine Revision des Versailler Vertrags und die Wiederherstellung des Vorkriegszustands an, zuallererst eine frühe Räumung des besetzten Rheinlands und des Saargebiets und letzten Endes eine Wiederherstellung der alten Ostgrenzen und Aufhebung der Reparationen. Stresemanns Strategie bestand darin, die Räumung durch Verhandlungen mit Frankreich zu erreichen, da er Briands Sicherheitsbedenken verstand. Trotzdem hatte er eine revisionistische Agenda. Sein Ziel war die Wiedergewinnung der vollen Souveränität und die Rückkehr zu einer deutschen Hegemonie auf dem europäischen Kontinent. Mitte der 1920er-Jahre hatte Deutschland 63 Millionen Einwohner, Frankreich nur 40 Millionen.7

Dennoch fanden Briand und Stresemann einen Weg, um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen und die Nachkriegsspannungen abzubauen. Ein Grund, warum sie einander so gut verstanden, lag in ihrem ähnlichen sozialen Hintergrund. Briands Eltern besaßen ein kleines Café am Hafen von Nantes, der bretonischen Hauptstadt. Stresemanns Eltern hatten eine Kneipe in Berlin und betrieben Handel mit Flaschenbier. Stresemann hatte später eine Doktorarbeit zu letzterem Thema geschrieben und wurde dafür von der radikalen Rechten verspottet. Wenn die beiden Männer politische Fragen diskutierten, tranken und rauchten sie stets zusammen: Briand schätzte Wein und Zigaretten, Stresemann bevorzugte Bier und Zigarren.8

Zunächst schien es, als sei der Schock von Stresemanns Tod nicht zu überwinden. Sein Nachfolger Julius Curtius, ein ehemaliger Anwalt und Sohn eines Chemieunternehmers, wurde von vielen Diplomaten nicht respektiert. Selbst einige seiner Mitarbeiter hegten Zweifel. Ernst von Weizsäcker, ein hoher Beamter im Auswärtigen Amt, schrieb, dass Curtius „nichts Ansprechendes hat, keine Freundschaft verbreitet, keinen ‚sex appeal‘“. Und Briand mochte ihn überhaupt nicht. Die französische Journalistin Geneviève Tabouis, eine Vertraute Briands, schrieb über ihn: „Ein kleiner Anwalt, ein kleiner Mann, korrekt und gewissenhaft, weder dumm noch intelligent.“9

Doch Curtius, ein fleißiger Arbeiter, der sich als „Testamentsvollstrecker“ Stresemanns sah, erwies sich als fähiger Verhandlungsführer. Auch der Amtsantritt des neuen französischen Premierministers André Tardieu half bei der Erneuerung der französisch-deutschen Zusammenarbeit. Tardieu war 14 Jahre jünger als Briand – ebenso alt wie Curtius – und wollte neue Kommunikationskanäle öffnen, die nicht von seinem Außenminister kontrolliert wurden. Tardieu und Briand waren sehr unterschiedliche Charaktere. Während Letzterer sich wenig um seine äußere Erscheinung scherte, trug Tardieu stets einen perfekten Scheitel und einen gepflegten Schnurrbart, dazu einen Kneifer und benutzte zum Rauchen eine lange silberne Zigarettenspitze. Wie Curtius stammte er aus einer wohlhabenden Familie, er war ein typischer „gosse des riches“. Nachdem er die Abschlussprüfung als Jahrgangsbester absolviert hatte, trat er in den diplomatischen Dienst ein und erwarb sich einen Ruf als konservativer Kommentator, während Briand die politische Leiter von ganz unten erklimmen musste. Während des Kriegs war Tardieu zunächst Presseoffizier bei General Joseph Joffre, danach im Stab von General Ferdinand Foch und kommandierte schließlich eine Infanteriekompanie. Nach seiner Verwundung 1916 fungierte er als spezieller Emissär der französischen Regierung in Washingston. Im letzten Kriegsjahr war er schließlich die rechte Hand von Premierminister Georges Clemenceau, der bei den Friedensverhandlungen in Paris 1918–19 eine harte Linie gegenüber den Deutschen vertrat.10

Entgegen allem Anschein hatten Tardieu und Briand dieselben außenpolitischen Ziele, denn Tardieu hatte sich im Lauf der 1920er-Jahre als Gemäßigter neu erfunden. 1928 trat er ins Kabinett von Raymond Poincaré ein, der damals die beherrschende Figur der französischen Politik war. Als Poincaré ein Jahr später zurücktrat, wurde er Chef der Mitte-rechts-Fraktion. Im November 1929, während der Ersten Haager Konferenz, wurde Tardieu Premierminister und übernahm wegen Briands Schwäche die führende Rolle in der französischen Außenpolitik.11

Um ein engeres Verhältnis zu Curtius aufzubauen, lud Tardieu die deutsche Delegation am Samstagmorgen zu einem Frühstück ein, zwei Tage vor der offiziellen Wiederaufnahme der Verhandlungen. Der französische Premier saß zwischen Curtius und dem deutschen Finanzminister Paul Moldenhauer (Abb. 2 und 3). Im Lauf ihres Gesprächs entdeckten sie, dass sie alle im Jahr 1897 in Bonn studiert hatten. Das war gut, um das Eis zu brechen. Die deutsche Öffentlichkeit reagierte indes negativ auf das Ereignis. Dem Fotografen Erich Salomon gelang es, ein Bild von dem Frühstück zu machen, das in der Berliner Illustrierten Zeitung erschien. Es erweckte den Eindruck, Tardieu habe die deutsche Delegation um den Finger gewickelt, indem er sie mit Croissants, Kaffee und Champagner bewirtete. Salomon bemühte sich weiterhin darum, hinter die Kulissen zu blicken, und zeigte dabei großes Geschick, wie sich ein britischer Vertreter erinnerte: „Ein amüsanter Nebenaspekt der Konferenz war der Erfolg eines deutschen Fotografen, die Sicherheitsbeschränkungen in den Hotels in verschiedenen Verkleidungen zu überwinden – darunter die eines Elektrikers, der an den Deckenleitungen arbeitete – und so ein paar sehr amüsante Bilder von Ministern zu machen, die während sehr langer Diskussionen eingeschlafen waren.“12


Abb. 2 Frankreichs Außenminister Aristide Briand (links), Premierminister André Tardieu (Mitte) und Finanzminister Henri Chéron (rechts) in Paris vor der Abreise zur Zweiten Haager Konferenz, Januar 1930

Obwohl die erste Begegnung etwas gegenseitiges Vertrauen zwischen Tardieu und Curtius schuf, dauerte es fast drei Wochen, bis Frankreich, England und Deutschland eine Übereinkunft erreichten, die den Weg zu einer Einigung mit den ost- und mitteleuropäischen Ländern eröffnete. In der letzten Phase verhandelten die Delegationen Tag und Nacht, manchmal ohne Unterbrechung. Das Ganze ähnelte einem Sechstagerennen.13

Schließlich setzten sich der Druck, das Gesicht zu wahren, und der Wunsch, einen langen Verhandlungsprozess erfolgreich abzuschließen, durch. Wann immer die Konferenz außer Kontrolle zu geraten drohte, fanden beide Seiten zum Kompromiss. Wichtiger noch: Die britischen und französischen Vertreter akzeptierten Curtius nach und nach als legitimen Nachfolger Stresemanns. In seiner Rede nach dem Konferenzende lobte Snowden „die Art, wie die deutschen Delegierten mit Zähigkeit, Mut und doch großer Höflichkeit die Interessen ihres Landes vertreten haben“. Die französische Delegation schätzte „die faire Verhandlungsweise, die Geschicklichkeit und die im besten Sinne nationale Einstellung der deutschen Minister“. Trotz Stresemanns Tod und Briands schrittweisem Rückzug funktionierte die internationale Diplomatie weiterhin.14


Abb. 3 Der deutsche Außenminister Julius Curtius (Mitte links) und Finanzminister Paul Moldenhauer (ganz links) in Berlin vor der Abreise zur Zweiten Haager Konferenz, Januar 1930

Das Kernstück der in Den Haag unterzeichneten Verträge war der Young-Plan, benannt nach dem amerikanischen Anwalt und Industriellen Owen Young, der die Sitzungen des vorbereitenden Expertenausschusses von Februar bis Juni 1929 in Paris geleitet hatte. Der 100 Seiten starke Vertrag bestand aus 15 Artikeln und 12 Anhängen. Er definierte die deutschen Reparationszahlungen neu und galt als „vollständige und endgültige Einigung“, wie es im Text hieß.

Der Grund, warum europäische Diplomaten sich noch über zehn Jahre nach dem Krieg mit deutschen Reparationen befassen mussten, war ein offenes Geheimnis: Die früheren Abkommen hatten das Problem nicht lösen können. Der Vertrag von Versailles hatte 1919 in Artikel 231 gefordert, „daß alle Schäden wieder gutgemacht werden, die der Zivilbevölkerung jeder der alliierten und assoziierten Mächte und ihrem Gut während der Zeit, in der sich die beteiligte Macht mit Deutschland im Kriegszustand befand, durch diesen Angriff zu Lande, zur See und in der Luft zugefügt worden sind“. Er hatte aber nicht die Schlussrechnung festgelegt und damit den Weg für erbitterten Streit zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern eröffnet.15

Das Londoner Ultimatum vom Mai 1921 sollte eine Klärung bringen, machte die Dinge aber nur noch komplizierter, indem es die Schlussrechnung auf extrem hohe 132 Milliarden Goldmark bezifferte – etwa 250 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts von 1913. Drei Tranchen waren vorgesehen. Tranche A über 12 Milliarden Goldmark deckte die direkten Kriegsschäden der Alliierten ab, und Tranche B über 38 Milliarden Goldmark sollte die Kriegsschulden Frankreichs und Englands gegenüber den USA bezahlen. Tranche C in Höhe von 82 Milliarden Goldmark beruhte nur auf einer vagen Rechtfertigung, und alle am Verhandlungstisch wussten, dass diese Forderung nur die Wähler in den siegreichen Ländern besänftigen sollte und wahrscheinlich nie bezahlt werden würde.

Dennoch machten die 50 Milliarden Goldmark von Tranche A und B fast 100 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts von 1913 aus. Die Summe hätte um einiges niedriger sein können, wenn die US-Regierung bereit gewesen wäre, ihre Ansprüche gegenüber Frankreich und England zu senken, aber das war in Washington tabu. Die Vereinigten Staaten waren noch nicht gewillt, eine Führungsrolle zu übernehmen und die Kosten für die internationale Stabilität zu tragen. Also gaben Frankreich und England die Rechnung einfach an Deutschland weiter. Hätten die Reparationen sich nur auf die direkten Kriegsschäden bezogen (Tranche A), dann wären sie Prozentual nicht viel höher gewesen als die Zahlungen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg von 1870–71 an das Deutsche Reich leisten musste, nämlich rund 20 Prozent des französischen Bruttoinlandsprodukts von 1871.16

Wirtschaftlich gesehen hätte Deutschland die Reparationen bezahlen können, aber politisch war ein solches Szenario nicht durchzusetzen, denn die meisten Bürger waren überzeugt, ihr Land habe den Krieg nicht verloren. Als daher die Höhe der Reparationen in Deutschland bekannt wurde, kam es zu einer Art Steuerboykott. Die Steuerzahler erklärten ihre Einkünfte erst in allerletzter Minute, und die Behörden trieben Rückstände nur zögerlich ein, um die Begleichung der Reparationen zu behindern. Die Lücke zwischen Steuereinnahmen und Staatsausgaben schloss die Reichsbank durch das Drucken von Banknoten, was die Inflation anheizte. Die deutsche Regierung überwies nur die erste im Londoner Ultimatum geforderte Tranche und stellte die Zahlung danach praktisch ein. Sie war auch bei den Sachleistungen säumig, was die Regierungen Belgiens und Frankreichs dazu trieb, im Januar 1923 Truppen ins Ruhrgebiet zu schicken, um Kohle zu beschlagnahmen (Karte 2) … Wie vorherzusehen, reagierten die deutschen Arbeiter mit passivem Widerstand, und um ihren Kampf zu unterstützen, wies die Reichsregierung die Reichsbank an, ihre Löhne zu bezahlen, indem sie Geld druckte. Als dieses zusätzliche Geld über den privaten Konsum direkt in die Wirtschaft floss, beschleunigte sich die infolge von Krieg und Wiederaufbau bereits hohe Inflation und verwandelte sich schließlich in eine Hyperinflation.17

Die öffentliche Ordnung in Deutschland stand kurz vor dem Zusammenbruch. Selbst der österreichische Schriftsteller Stefan Zweig, der die Hyperinflation 1921–22 in Wien erlebt hatte, war vom Chaos in Deutschland überwältigt: „Eine Panik brach aus, und sie erschütterte das ganze Reich. Mit einem Ruck stürzte die Mark, und es gab kein Halten mehr, ehe nicht die phantastischen Irrsinnszahlen von Billionen erreicht waren. Nun erst begann der wahre Hexensabbat von Inflation … Ich habe Tage erlebt, wo ich morgens fünfzigtausend Mark für eine Zeitung zahlen mußte und abends hunderttausend; wer ausländisches Geld wechseln mußte, verteilte die Einwechslung auf Stunden, denn um vier Uhr bekam er das Mehrfache von dem, was er um drei, und um fünf Uhr wieder das Mehrfache von dem, was er sechzig Minuten vorher bekommen hätte.“18

Die Auswirkungen der Hyperinflation waren brutal und ungleich verteilt. Wer Spareinlagen und Anleihen besaß, verlor sein Vermögen. Reallöhne wie Sozialleistungen sanken, da die Inflationsrate schneller anstieg, als Löhne und Renten den steigenden Preisen angepasst wurden. Andererseits profitierten jene Bürger, Unternehmen und Körperschaften, die Schulden hatten, von der Hyperinflation, denn ihre Verbindlichkeiten in deutscher Währung schmolzen dahin. Vor allem konnten die deutschen Behörden auf Reichs-, Länder- und Kommunalebene dabei zusehen, wie ihre Schulden in deutscher Währung verschwanden. Das war für die Gläubiger im In- und Ausland nachteilig, aber von Vorteil für den deutschen Steuerzahler.

All diese plötzlichen Umwälzungen hatten eine demoralisierende Wirkung auf die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung. Viele Wähler, vor allem die Mittelschicht, die ihre Ersparnisse verloren hatte, waren traumatisiert und enttäuscht von der jungen Weimarer Republik.19

Ende 1923 beendete die Reichsregierung ihre Politik des passiven Widerstands, weil sie fürchtete, die Kontrolle zu verlieren. Im folgenden Jahr machten auch die Alliierten einen Schritt voran und engagierten Charles Dawes, einen amerikanischen Anwalt, Politiker und Brigadegeneral, als Vorsitzenden eines Expertenkomitees, das Vorschläge zur Änderung der Zahlungsmodalitäten bei den deutschen Reparationen liefern sollte. Ein Jahr später sollte Dawes dafür den Friedensnobelpreis erhalten und zum Vizepräsidenten der USA unter Präsident Calvin Coolidge ernannt werden. Der Dawes-Plan brachte für Deutschland mehrere Verbesserungen. Zunächst senkte er die jährlichen Zahlungsraten und verschaffte dem Reich ein internationales Darlehen, die sogenannte Dawes-Anleihe, um einen reibungslosen Übergang zum neuen Zahlungsplan zu ermöglichen. Zweitens wurde eine neue goldgedeckte Währung, die Reichsmark, eingeführt, um Währungsstabilität herzustellen. Drittens zogen Belgien und Frankreich ihre Truppen aus dem Ruhrgebiet zurück. Im Gegenzug musste Deutschland ein gewisses Maß an ausländischer Kontrolle hinnehmen. Reichsbank und Reichsbahn wurden von der Regierung unabhängig gemacht und unter die Aufsicht ausländischer Experten gestellt, und ein Generalbevollmächtigter für Reparationszahlungen wurde in Berlin eingesetzt, der den Fluss der Zahlungen überwachen sollte.

Auf den ersten Blick funktionierte der Dawes-Plan bemerkenswert gut. Die Dawes-Anleihe, die von der führenden amerikanischen Bank J. P. Morgan garantiert wurde, war in New York binnen Kurzem zehnfach überzeichnet. Angespornt von diesem Ausbruch der Zuversicht erholte sich die deutsche Wirtschaft rasch. Zwischen 1923 und 1927 wuchs die Industrieproduktion auf mehr als das Doppelte. Der Dow-Jones-Index begann nach dem enttäuschenden Jahr 1923 eine längere Boomperiode, und amerikanische Kredite an europäische und lateinamerikanische Länder erreichten bald Rekordhöhen, mit Deutschland als wichtigstem Kreditnehmer. Die Wiederherstellung des Goldstandards und die unabhängige Stellung der von den Alliierten überwachten Reichsbank garantierten stabile Wechselkurse und Kapitalmobilität. Besser noch: Investitionen in Deutschland boten höhere Zinsen als der amerikanische Aktienmarkt, weil Deutschlands Kapitalhunger nach der verheerenden Hyperinflation enorm war. Und wie erwähnt hatte die Hyperinflation auch den positiven Effekt gehabt, dass Reich, Länder und Kommunen ihre inländischen Schulden loswurden. Frankreich und England saßen dagegen auf gewaltigen inländischen Schuldenbergen aus der Kriegszeit. 1920 erreichten sie eine Höhe, die jeweils das Bruttoinlandsprodukt beider Länder von 1913 überstieg. Somit war Deutschland ein Eldorado für ausländische Anleger, vor allem aus den USA, aber auch aus England, den Niederlanden, Schweden und der Schweiz.20

Alle Verhandlungsparteien wussten jedoch, dass die Reparationsfrage ungelöst blieb. „Der Dawes-Plan war nur eine provisorische Regelung der deutschen Schulden“, erinnerte sich ein Mitglied der britischen Delegation. Der Plan verfolgte primär das Ziel, die diplomatischen Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland zu beenden und das Vertrauen in die deutsche Währung und die öffentlichen Finanzen nach der Katastrophe der Hyperinflation wiederherzustellen. Die grundlegenden Defekte des Reparationssystems wurden nicht angegangen. Die Parameter waren 1919 festgelegt worden, und da Diplomatie immer pfadabhängig ist, waren nur schrittweise Veränderungen möglich.21

Zwei Schwächen des Dawes-Plans waren besonders augenfällig. Erstens definierte er nur den jährlichen Zahlungsplan und ließ die Höhe der Gesamtsumme offen. Kurzfristig erwies sich das als nützlich, um den ganzen Prozess wieder in Gang zu bringen, aber mittelfristig untergrub es die Glaubwürdigkeit des gesamten Systems. Die drei im Londoner Ultimatum 1921 festgelegten Tranchen wurden weder gestrichen noch bestätigt. Zweitens wurde es mit der Zeit immer schwieriger, die ausländische Aufsicht über die deutschen Staatsfinanzen aufrechtzuerhalten.

Noch alarmierender war, dass der Dawes-Plan zu internationalen Ungleichgewichten beitrug, die aus Sicht kritischer Beobachter wie Felix Somary das ganze europäische Finanz- und Währungssystem ins Wanken bringen konnten. Diese Sorge lag in der Funktionsweise der sogenannten Transferschutzklausel begründet. Nach Absicht des Dawes-Plans sollte sie dem Reich eine gewisse Erleichterung bieten, indem sie ihm die Freiheit gab, jährliche Zahlungen zurückzuhalten, wenn sie die Währungsstabilität bedrohten. Ausländische Bankiers und Investoren fanden aber schnell heraus, dass Transferschutz in Wirklichkeit die Priorität der Ansprüche privater Gläubiger vor den Reparationen bedeutete, weil Letztere stets aufgeschoben werden konnten. Damit machte der Dawes-Plan die Kreditvergabe an Deutschland noch attraktiver, als sie es ohnehin schon war.22

So konnte Deutschland gewaltige Summen an ausländischem Kapital borgen, die nur teilweise für produktive Investitionen verwendet wurden. Ein großer Anteil diente dazu, die staatlichen Leistungen auf Rekordhöhen zu treiben. Somit stieg die Auslandsverschuldung in goldbasierten Währungen rasch an. 1929 hatte das Reich Auslands- und Reparationsschulden von 77 Milliarden RM, was etwa 86 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Und da ein großer Teil dieses Kapitalflusses aus dem Ausland über das Finanzsystem lief, sank die Eigenkapitalquote der großen Geschäftsbanken dramatisch. Aus diesem Grund sagte Somary über das deutsche Bankensystem: „An dieser schwächsten Stelle wird und muß der Zusammenbruch erfolgen.“23

Der Young-Plan von 1930 versuchte diese gefährlichen Entwicklungen zu beenden, indem er Deutschlands Position in drei Punkten verbesserte. Erstens reduzierte er die jährlichen Zahlungen von 2,5 Milliarden RM auf rund 2 Milliarden, das entsprach etwa 3 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung 1930. Zweitens wurde Deutschland von der ausländischen Finanzkontrolle befreit. Die Reparationskommission wurde aufgelöst, und die Arbeit von Parker Gilbert, dem Generalbevollmächtigten für Reparationszahlungen, endete. Nun bestimmte wieder Berlin über den Transfer von Reparationen, und die neu gegründete Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel diente als Treuhandstelle. Der Young-Plan beendete auch die alliierte Aufsicht über Reichsbahn und Reichsbank. Drittens garantierten die Alliierten, ihre Truppen fünf Jahre früher aus dem Rheinland abzuziehen, als im Versailler Vertrag festgelegt (Karte 2). Das neue Datum war der 30. Juni 1930. Diese Klausel stand nicht im Vertragstext des Young-Plans, war aber Vorbedingung für die deutsche Zustimmung.24


Karte 2 Die Besetzung von Ruhrgebiet und Rheinland

Andererseits enthielt der Young-Plan zwei große Nachteile für Deutschland. Zum einen sollte das Reich Reparationen bis 1988 zahlen, mithin 58 Jahre lang. Eine so lange Dauer war äußerst merkwürdig. Sogar Owen Young, der Architekt des Plans, gab während der Verhandlungen zu, dass „kein Mann der Praxis die Zahlungsfähigkeit eines Landes länger als 15 Jahre im Voraus beurteilen würde“. Außerdem war die Bestimmung politisch kontraproduktiv, denn sie lieferte den Gegnern des Young-Plans das Argument, Deutschland werde bis in die dritte Generation von der Schuldenlast bedrückt sein. Zum anderen änderte der Plan die Transferschutzklausel. Von nun an war Deutschland verpflichtet, in jedem Fall mindestens 612 Millionen RM pro Jahr zu zahlen. Diese Tranche wurde ungeschützte Annuität genannt. Die Zahlung der Restsumme – rund 1,3 Milliarden RM – konnte um zwei Jahre aufgeschoben werden, wenn die deutsche Regierung eine zeitweise Aussetzung wünschte, etwa wegen einer Rezession. Auf den ersten Blick sah das wie eine kleinere formale Änderung aus, aber es war sehr viel mehr. Es kehrte nämlich die Rangfolge der deutschen Auslandsschulden um. Von nun an kamen Reparationszahlungen zuerst, das Bedienen ausländischer Privatkredite danach. Das Borgen im Ausland wurde dadurch viel schwieriger, weil ausländische Banken und Investoren befürchten mussten, ihre Ansprüche würden in Krisenzeiten nicht anerkannt werden. Das wiederum schränkte den Spielraum der Politiker in Berlin ein. Das Reich musste nun einen Haushalts- und Außenhandelsüberschuss erzielen, um die Reparationen bezahlen zu können. Und da die deutsche Wirtschaft 1929 in eine Rezession geraten war, verstärkte die neue Klausel des Young-Plans den Abschwung. Denn Haushalts- und Außenhandelsüberschuss waren nur über Budgetkürzungen, höhere Steuern, niedrigere Löhne und Preise zu bewerkstelligen. Auch politisch war die Einschränkung der Binnennachfrage in einer Krise kontraproduktiv, ja geradezu gefährlich für eine instabile Demokratie wie der Weimarer Republik.25

Einige Deutsche erkannten sofort die negativen Auswirkungen dieser neuen Klausel des Young-Plans. Unter ihnen waren Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und Albert Vögler, ein führender deutscher Stahlfabrikant, die beide der deutschen Delegation im Young-Ausschuss in Paris angehört hatten (Abb. 4). Die Umkehrung in der Rangordnung der Schulden war einer der Gründe, die Schacht im März 1930 als Reichsbankpräsident zurücktreten ließen. Vögler hielt die neue Regel zur Vorrangigkeit für einen hinreichenden Grund, um den Young-Plan abzulehnen, und reiste vor Abschluss der Verhandlungen aus Paris ab. Doch die neue Klausel blieb bestehen. Denn Schacht genoss wenig Rückhalt in Regierungskreisen, seit sein Widerstand gegen den Young-Plan fast den Abschluss der Zweiten Haager Konferenz gefährdet hatte. Auch Vögler hatte an Ansehen verloren, seit er 1924 die Deutsche Volkspartei (DVP) voller Abscheu vor Stresemanns „Erfüllungspolitik“ verlassen hatte.26

Entscheidend für den Erfolg war schließlich, dass hohe deutsche Regierungsbeamte und Politiker überzeugt waren, ein Scheitern des Young-Plans werde eine Finanzkrise auslösen, und auf positive ökonomische Auswirkungen des diplomatischen Durchbruchs in Den Haag bauten. Finanzminister Paul Moldenhauer war zuversichtlich, nach dem Sieg der Regierung im Reichstag würden sich die politischen Spannungen in Deutschland auflösen und die Wirtschaft angeregt werden. Hans Schäffer, sein einflussreicher Staatssekretär, der der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der SPD nahestand, teilte seinen Optimismus. Er glaubte, der Young-Plan werde eine ebenso starke Erholung der Weltwirtschaft bringen wie der Dawes-Plan sechs Jahre zuvor. Auch Jakob Goldschmidt, der Chef der Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank), einer der größten deutschen Geschäftsbanken, und Max Warburg, wichtigster Partner der Handelsbank M. M. Warburg & Co. in Hamburg, sagten eine starke Zunahme der internationalen Kreditvergabe voraus. Sogar Carl Melchior, ebenfalls Partner bei Warburg & Co., der an vielen Konferenzen nach dem Krieg beteiligt war und für sein zurückhaltendes Urteil geschätzt wurde, war vorsichtig optimistisch.27


Abb. 4 Die Konferenz zum Young-Plan unter Vorsitz von Owen Young (am Kopf des Tisches) im Hôtel George V in Paris, 1929

Dagegen blieb Felix Somary zutiefst pessimistisch. Als er von dem neuen Plan hörte, sagte er: „Ave Caesar, moratoria te salutant!“ Für Somary war es offensichtlich, dass Diplomaten und Politiker an einem kollektiven Mangel an wirtschaftlicher Kompetenz litten: „Die materialistische Geschichtsauffassung und der jüngere Sozialismus haben die Bedeutung der Wirtschaft für das politische Leben der Völker überschätzt, aber die bürgerlichen Staatsmänner und Diplomaten haben sie zum namenlosen Schaden ihrer Völker unterschätzt. Wie oft erklären führende Diplomaten wirtschaftliche Kenntnis als überflüssig und preisen ihre eigene Unwissenheit.“

Stattdessen investierten sie zu viel in neue Institutionen wie die BIZ, beklagte er: „Es war ein merkwürdiger Zug in unserer Generation: Wo eine Idee nötig war, um einen Notstand zu beseitigen, schuf man eine Organisation; diese brachte aber nicht Abhilfe, erhöhte vielmehr nur die Ratlosigkeit, leistete nicht das, was sie sollte, kreierte eine wachsende Bürokratie, die aber zum Selbstzweck wurde und noch fortexistierte, wenn schon alle Welt vergessen hatte, wann und warum eigentlich diese Organisation begründet worden war.“

Somary konnte kaum den Kontrast zwischen der langen Zahlungsdauer der deutschen Reparationen und dem prekär kurzfristigen Horizont der Verschuldung Deutschlands glauben: „Da verhandeln jetzt seit Monaten fast alle Großmächte über die Frage, wieviel tausend Millionen jährlich bis 1966 und wieviel von 1966 bis 1988 von einem Land gezahlt werden sollen, das die Beamtengehälter am nächsten Tag zu zahlen nicht in der Lage ist.“28 Aus eigener Erfahrung wusste er, wie prekär die finanzielle Lage des Reichs geworden war. Im Frühjahr 1929 hatte Deutschland vor einer plötzlichen Währungskrise gestanden, weil die Presse gemeldet hatte, es drohe ein Zusammenbruch der Pariser Verhandlungen über den Young-Plan. Am 25. April erlebte die Reichsbank einen dramatischen Abfluss ihrer Reserven und erhöhte den Leitzins auf 7,5 Prozent, während den Geschäftsbanken schwere Liquiditätsengpässe drohten. Die Reichsbank geriet unter so starken Druck, dass sie die Schatzanweisungen des Reichs nicht mehr akzeptierte. Die Lage drohte außer Kontrolle zu geraten. Finanzminister Rudolf Hilferding (SPD) wurde immer verzweifelter. Der 52-jährige Hilferding war durch sein Buch Das Finanzkapital (1910) berühmt geworden, in dem er die zunehmende Dominanz des Finanzsektors über die Wirtschaft prognostizierte, die schließlich zum Monopolkapitalismus führen werde. Nun suchte er alles Finanzkapital, das er bekommen konnte, um die Krise zu beenden.

Anfang Mai schlug Hilferding die Ausgabe einer steuerfreien langfristigen Anleihe vor, stieß aber auf heftigen Widerstand in Kabinett und Parlament. Mitte Mai wandte er sich entnervt von den langen Verhandlungen an Somary, seinen langjährigen Freund aus Studienzeiten. Er brauchte 100 Millionen Schweizer Franken, um die Gehälter der Beamten zu zahlen. Somary erinnerte sich an seine verzweifelte Stimmung: „Er bitte mich namens der ganzen Reichsregierung dringlich um Hilfe; es sei sonst niemand, an den er sich wenden könne.“ Es war eine hohe Summe, die zur Überbrückung der Finanzlücke notwendig war.

Somary fühlte sich verpflichtet, seinem Freund zu helfen, und informierte sofort die Schweizerische Nationalbank. Zwei Tage später wurde ein Konsortium unter Leitung von Somarys Bank Blankart & Cie. gebildet, das unter Beteiligung führender schweizerischer Versicherungsgesellschaften einen kurzfristigen Kredit von 50 Millionen Franken an das Reich vergab. Auf Bitten Hilferdings flog Somary dann nach Paris, wo Schacht an einer Sitzung des Young-Komitees teilnahm. Der Handel ging vonstatten, und die deutsche Regierung erhielt das Geld gerade rechtzeitig. Als die Währungskrise später abflaute, zahlte Hilferding den Kredit prompt zurück.29

Somarys skeptische Einschätzung der Zweiten Haager Konferenz erwies sich letztlich als richtig. Der Young-Plan war ein Projekt, das auf einem unrealistischen Szenario beruhte. Ein finanzpolitischer Sturm braute sich zusammen, aber leider ignorierten Diplomaten und Politiker die Warnzeichen. Als sie im Januar 1930 in der niederländischen Hauptstadt zusammenkamen, hatten sie überhaupt kein Bewusstsein für die dringliche wirtschaftliche Lage, in der sich Deutschland befand.

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