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Kapitel 1 Der verspottete Rabe

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Im Januar 1930 reiste der Wiener Ökonom Felix Somary nach Heidelberg, um an der dortigen Universität einen Vortrag über die Aussichten für die Weltwirtschaft zu halten. Somary war einer der angesehensten Analysten seiner Zeit. Wann immer eine Krise drohte, suchten Minister, Zentralbankdirektoren und Wirtschaftsführer – von der Wiener Familie Rothschild bis zu Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und dem sozialdemokratischen Finanzminister Rudolf Hilferding – seinen Rat. Er nannte sich einen „politischen Meteorologen“ und arbeitete als Partner in der kleinen Privatbank Blankart & Cie. in Zürich. Seine finanzielle Unabhängigkeit erlaubte es ihm, offen seine Meinung über die Lage der Dinge zu äußern.1

Seine Freunde in Heidelberg wollten wissen, ob der aktuelle Börsenkrach an der Wall Street der Beginn einer ernsthaften Rezession in Europa sei. Somary hatte den Schwarzen Donnerstag (24. Oktober 1929) in New York erlebt, als der Markt an einem Tag 10 Prozent seines Werts verlor. Er war von dem Zusammenbruch des Vertrauens alarmiert gewesen und hatte seinen Partnern in Zürich sofort telegrafiert: „Haltet Klienten vom Markt fern. Krise ist erst im Beginn.“ Noch schockierter war er von den Vorgängen in Europa einen Monat später. Binnen weniger Wochen wurde die Bodencreditanstalt, Österreichs zweitgrößte Bank, insolvent, und die Banque de Bruxelles, die zweitgrößte belgische Bank, musste wegen des Börsenkrachs einen großen Teil ihrer Aktivposten abschreiben.2

Somarys Botschaft in Heidelberg war düster: „Ich bin … der Ansicht, daß die Novemberereignisse die Einleitung zur schwersten seit einem Jahrhundert erlebten Krise bedeuten, die Einleitung nur, den ersten Akt und daß wir nicht in Wochen, auch nicht in Monaten, sondern erst in Jahren daraus herauskommen werden; der Zusammenbruch der Österreichischen Bodenkreditanstalt, die Sanierung der Banque de Bruxelles waren Wetterleuchten; Zusammenbrüche ungleich größeren Ausmaßes haben wir noch vor uns.“

Warum war er so pessimistisch? Für ihn waren diese beiden Bankenpleiten keine isolierten Ereignisse, sondern Symptome grundsätzlicher internationaler Ungleichgewichte, die kurz davor waren, sich auf chaotische Art aufzulösen. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Alliierten beschlossen, die Kriegsschuldforderungen untereinander aufrechtzuerhalten und Deutschland durch hohe Reparationen zu bestrafen. Für Somary war durch diese Übereinkunft eine Katastrophe vorprogrammiert: „Was treibt uns in die Krise hinein? Das ungeheure Maß an unerfüllten Forderungen. Die europäischen Staaten sollen Schulden an Amerika abzahlen, und da niemand weiß, wie dies auf die Dauer möglich sein soll, hat man den ganzen Betrag Deutschland als Reparationsverpflichtung angelastet.“

Der Grund dafür, dass dieser Schuldenberg noch nicht zusammengebrochen war, lag darin, dass er durch kurzfristige private Kapitalflüsse nach Deutschland stabilisiert worden war. Laut Somary machten diese zusätzlichen Kredite aber alles noch schlimmer: „Die Unmöglichkeit der Forderung wird durch ein System kurzfristiger Kredite verhüllt, die in einem Umfang gewährt werden, der durch finanzielle Erwägung nicht zu rechtfertigen ist. Um diese Kredite zu erlangen, müssen Landwirtschaft und Industrie der Schuldnerländer Zinsen bewilligen, die sie nie verdienen können. An dieser schwächsten Stelle wird und muß der Zusammenbruch erfolgen.“ Im Kreditgeschäft engagierte Banken würden dem Sturm nicht widerstehen können. „Die Kredit- und Hypothekenbanken arbeiten mit der Fiktion der Solvenz ihrer Schuldner und die Banken der Gläubigerländer mit der der Solvenz der Schuldnerbanken.“ Für Somary war in beiden Fällen die Zahlungsfähigkeit eine Fiktion, und das internationale Bankensystem glich einem Kartenhaus.

Um den völligen Zusammenbruch abzuwenden, bleibe nur wenig Zeit, warnte Somary. „Die Gefahr des Reißens der Kette im nationalen wie im internationalen Verkehr ist näher als man glauben will. Vielleicht verschwinden dann in dem Strudel Reparationen und internationale politische Schulden …; aber sehr wahrscheinlich wird auch der private Kreditverkehr von Land zu Land in einem Umfang getroffen werden, wie dies seit Generationen nicht gesehen wurde.“ Sobald die Abwärtsspirale beginne, werde Deutschland in einer besonders gefährlichen Lage sein, „denn je mehr die Krise vorrückt, um so schwieriger wird die Möglichkeit der Konsolidierung der kurzfristigen Schulden, um so größer die Gefahr der Rückziehung und damit der internationalen Insolvenz.“

Es gebe nur noch eine Strategie, die das System wieder ins Gleichgewicht bringen könne, schloss Somary, nämlich eine französisch-deutsche Zusammenarbeit, „denn Frankreich allein ist kräftig genug, die kurzfristigen Schulden Deutschlands zu konsolidieren. Gelingt dieses Werk nicht, dann werden wir noch in dieser Krise den ganzen furchtbaren Apparat von Devisenzwangswirtschaft und Aus- und Einfuhrverboten erleben und am Ende wird vielleicht nicht wieder die Inflation, aber etwas stehen, das das Gefüge der Wirtschaft noch tiefer zerreißt: Der Niederbruch der Banken und der staatlichen Finanzwirtschaft.“3

Wie wir wissen, fand diese Kooperation nicht statt, und die Einschätzung Somarys (Abb. 1) erwies sich als völlig richtig. Der Börsencrash an der Wall Street und die Bankenprobleme in Österreich und Belgien waren keine vorübergehenden Störungen, sondern der Beginn der schlimmsten Wirtschaftskrise der modernen Epoche. Von 1929 bis 1932 ging die weltweite Industrieproduktion um 36 Prozent zurück und erreichte erst 1937 wieder das Niveau von 1929. Die Arbeitslosigkeit wuchs zu zweistelligen Werten an, während die Preise für Rohstoffe und Industriegüter um 56 bzw. 36 Prozent fielen. Der Welthandel ging effektiv um zwei Drittel zurück. Ganz zu Recht identifizierte Somary auch Deutschland als das schwächste Glied, dessen finanzieller Zusammenbruch einen dramatischen Absturz der Weltwirtschaft beschleunigen würde. Zwischen 1929 und 1932 fiel die deutsche Industrieproduktion um fast 50 Prozent. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent und im industriellen Sektor sogar auf über 30 Prozent. Das reale Bruttoinlandsprodukt sank um etwa 25 Prozent, was pro Kopf einem Rückgang um 17 Prozent entsprach. Und wie Somary vorhergesehen hatte, wurden mit der Verschärfung der Krise die Reparationen und Kriegsschulden schließlich gekürzt oder gestrichen und Deutschlands Schulden bei ausländischen Banken eingefroren. Die Weltwirtschaft zerbrach in mehrere Währungs- und Handelsblöcke, womit ein Zeitalter der Globalisierung endete.4

Warum konnte Somary den wirtschaftlichen Kollaps mit solcher Genauigkeit vorhersagen? Gewiss kam ihm sein beruflicher Hintergrund zustatten: Er war ein gut ausgebildeter Ökonom mit reicher praktischer Erfahrung als Bankier und politischer Berater. Er hatte an der Universität Wien studiert und war Assistent von Carl Menger gewesen, einem führenden Wirtschaftswissenschaftler seiner Zeit. 1905 war Somary mit 25 Jahren in die Anglo-Österreichische Bank eingetreten, die in Wien von prominenten Londoner Bankiers gegründet worden war, darunter Sir Ernest Cassel. Somary war als Assistent des geschäftsführenden Direktors an fast allen wichtigen Transaktionen beteiligt. Die „Anglobank“ war in der Unternehmensfinanzierung in Osteuropa und auf dem Balkan aktiv, wodurch Somary tiefen Einblick in die politischen und sozialen Umstände dieser besonders turbulenten Ecke Europas gewann. 1909 ging er als unabhängiger Vortragsredner, Bankier und Berater nach Berlin und sammelte weitere Einblicke in die Funktionsweise der europäischen Politik und Diplomatie. Während des Ersten Weltkriegs entwarf er mit dem berühmten Soziologen Max Weber ein Memorandum für Kaiser Wilhelm II., das von der Ausweitung des U-Boot-Kriegs abriet.5 Nach dem Ersten Weltkrieg rettete er das Vermögen der Wiener Rothschilds zur kleinen Privatbank Blankart & Cie. in Zürich. Wenig später wurde er dort zum Partner gemacht.


Abb. 1 Felix Somary, Aufnahme aus den späten 1930er-Jahren

Ein weiterer Grund, warum Somary so präzise Vorhersagen treffen konnte, war sein sechster Sinn für drohende Katastrophen. Einer seiner Freunde, der Schweizer Diplomat Carl Jacob Burckhardt, bemerkte in einem Brief an den österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal: „Da ist ein sehr merkwürdiger Mann, den Sie auch kennen, dieser Somary. … Er gehört zu dem Typus, der die Krisen voraussieht; auch auf politischem Gebiet ist er äußerst hellsichtig. Alle Voraussagen, die ich ihn machen hörte, sind eingetroffen, einige in ganz erstaunlicher Weise.“ Somary sagte einmal zu seinem Sohn: „Ich spüre das Kommende in meinem Knochen; es hat nicht allein mit Wissen zu tun. Es meldet sich nicht im Kopf, sondern im Knochenmark.“6

Trotz all seines Talents besaß Somary kein „Geheimwissen“. Er dachte einfach die Sache konsequent zu Ende. Anfang der 1930er-Jahre war offensichtlich, dass gewaltige internationale Ungleichgewichte existierten. Die USA waren der größte Gläubiger, Deutschland der größte Schuldner (Diagramm 1). Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien hatten mehr oder weniger ausgeglichene Auslandsschuldenbilanzen – immer vorausgesetzt, dass Deutschland bereit und fähig war, ihnen Reparationen zu zahlen. Die alliierten Mächte und Deutschland bildeten eine Kette, die von „einem gewaltigen System zwischenstaatlicher Verpflichtungen“ zusammengehalten wurde, wie der Economist bemerkte.7

Es war auch allgemein bekannt, dass das Deutsche Reich, die deutschen Länder, Kommunen, Banken und Unternehmen gewaltige Summen an privaten Mitteln geborgt hatten, vor allem an der Wall Street, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und einen großen Teil der Reparationsrechnung zu bezahlen. Ende 1929 beliefen sich die Schulden bei ausländischen Banken auf 31 Milliarden RM – etwa ein Drittel des damaligen deutschen Bruttoinlandsprodukts. Einschließlich der Reparationsverpflichtungen lagen die Auslandsschulden des Reichs bei atemberaubenden 86 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Und ein großer Teil dieser Auslandskredite war kurzfristig und musste binnen weniger Wochen oder Monate zurückgezahlt werden. Ende der 1920er-Jahre waren Banken, Unternehmen und öffentliche Haushalte höchst verletzlich gegenüber den unbeständigen Stimmungen der Anleger geworden.8

Warum aber vergrößerten die Deutschen ihre Auslandsschuldenlast noch zusätzlich zu den Reparationszahlungen? Die Nachfrage nach ausländischem Kapital resultierte teilweise aus dem Mangel an inländischem Kredit und der Unterkapitalisierung von Unternehmen nach der Hyperinflation von 1923. Sie lag auch an der Unfähigkeit der deutschen Regierung, einen Haushaltsüberschuss und einen Leistungsbilanzüberschuss zu erzielen. Die schwache Weimarer Republik brauchte öffentliche Unterstützung, um die turbulenten Nachkriegsjahre zu überstehen, und das ließ sich nur durch steigende staatliche Leistungen und anständige Löhne erreichen. Ausländische Kredite erlaubten es dem Staat, unpopuläre Steuererhöhungen zu vermeiden, die Arbeiter gut zu bezahlen und die wahren Kosten des Wiederaufbaus in die Zukunft zu schieben. Weimar war eine „verpfändete Demokratie“, wie ein Historiker es formulierte. Bürgermeister wie Konrad Adenauer stießen große Infrastrukturprojekte an – U-Bahnen, Brücken, Parks, Schwimmbäder, Konzertsäle und Fußballstadien –, um die Loyalität der Wähler zu steigern.9


Diagramm 1 Alle zwischenstaatlichen Schulden am 1. Juli 1931 (in Milliarden US-Dollar)

Ein weiterer Grund für die deutsche Kreditaufnahme lag darin, dass manche Beamte im Auswärtigen Amt einen Vorteil darin sahen, Schulden gegenüber amerikanischen Banken anzusammeln. Sie argumentierten, hohe Schulden würden es wahrscheinlicher machen, dass Reparationen gestrichen würden, sobald das Reich damit drohe, seine Schulden gegenüber privaten Investoren nicht mehr zu bedienen. Außenminister Gustav Stresemann erklärte 1925 in einer Rede: „Man muß nur genug Schulden haben, man muß soviel Schulden haben, daß der Gläubiger seine eigene Existenz mit gefährdet sieht, wenn der Schuldner zusammen bricht (…). Diese wirtschaftlichen Dinge schaffen Brücken politischen Verständnisses und künftiger politischer Unterstützung.“ Ein hoher Beamter im Auswärtigen Amt schrieb 1927 in einem Memorandum: „Je größer unsere private Verschuldung, umso kleiner unsere Reparationszahlungen.“10

Schließlich wollten sich viele amerikanische und in geringerem Maße auch britische, holländische und schweizerische Banken nicht das Geschäft entgehen lassen. Sie bekamen höhere Zinsen von Investitionen in Deutschland als auf ihren heimischen Märkten, und es herrschte die allgemeine Auffassung, dies sei eine sichere Anlage.11 Deutschland war ja immer noch die stärkste Volkswirtschaft in Europa und würde sich mit der Zeit von den Kriegsschäden erholen. Natürlich war die Kriegslast für Deutschland gewaltig. Zwei Millionen Soldaten waren auf den Schlachtfeldern gefallen, mehr als von jedem anderen Kriegsteilnehmer. Über vier Millionen deutsche Soldaten waren verwundet worden, viele davon blieben für den Rest ihres Lebens schwerbehindert. Und fast eine Million deutsche Zivilisten waren gestorben. Außerdem zwang der Versailler Vertrag Deutschland dazu, Elsass-Lothringen an Frankreich und einige Ostgebiete an den neu geschaffenen polnischen Staat abzutreten. Er nahm dem Land auch seine Kolonien in Übersee, enteignete deutschen Besitz im Ausland und stellte das Saargebiet samt seines Kohlebergbaus für 15 Jahre unter französische Verwaltung (Karte 1). Dennoch war Deutschland nicht wirtschaftlich verkrüppelt. Die industrielle Grundlage war intakt, da der Krieg nicht auf deutsches Gebiet übergegriffen hatte. Deutsche Unternehmen waren weiterhin führend in der Kohle-, Eisen- und Stahlproduktion, in der Elektrotechnik, der chemischen Industrie und dem Automobilbau.12


Karte 1 Deutschland nach dem Versailler Vertrag

Die Erholung wurde 1924 durch die Wiederherstellung der auf dem Goldstandard beruhenden deutschen Währung angestoßen. Damit war das Wechselkursrisiko für ausländische Kreditgeber zumindest auf absehbare Zeit minimiert. Einige etablierte Akteure an der Wall Street waren zwar skeptisch gegenüber der ungehemmten Kreditvergabe. John Pierpont Morgan Jr. schrieb im August 1929 an einen Geschäftspartner: „Nach dem, was ich von den Deutschen sehe, sind sie ein zweitklassiges Volk und möchten ihre Geschäfte von jemand anderem erledigen lassen.“ Für die meisten Anleger war der Anreiz, in den deutschen Markt zu investieren, aber viel stärker als die Furcht, Geld zu verlieren. Auch alliierte Regierungen sahen diese Kreditgeschäfte positiv als einen Weg zur Stabilisierung der schwachen Weimarer Republik.13

Die Kreditvergabe an Deutschland ging auch weiter, nachdem die US-Notenbank Anfang 1928 den Leitzins angehoben hatte, um den Aktienboom zu bremsen. Der langfristige Kapitalfluss aus den USA endete zwar abrupt im Herbst 1928, doch Kapital aus anderen Ländern kompensierte diesen Ausfall. 1928 war sogar ein Rekordjahr beim Bruttokapitalimport. Und selbst 1929, als die US-Notenbank den Leitzins erneut anhob, gab es keinen plötzlichen Stopp. Kurzfristige Kredite flossen weiterhin nach Deutschland (Diagramm 2). Das war sicherlich nicht nachhaltig, aber die Vorstellung, Deutschland sei wegen hoher US-Zinsen von ausländischem Kapital abgeschnitten worden, ist ein Mythos. Als Somary Anfang 1930 in Heidelberg sprach, erhielt Deutschland immer noch kurzfristige Kredite aus dem Ausland.14

Somary war nicht der einzige Zeitgenosse, der das Schuldenkarussell kritisierte. Sir Frederick Leith-Ross, ein hoher Beamter im britischen Finanzministerium, äußerte eine ähnliche Warnung: „Ich erinnere mich, dass ich 1927 einer Gruppe wichtiger Bankiers in der City sagte, die deutschen Banken seien zu illiquide und sie sollten ihre Kredite einschränken, aber meine Ansicht wurde als zu pessimistisch abgetan.“ Parker Gilbert, der Generalbevollmächtigte für Reparationszahlungen in Berlin, ein junger und energischer Amerikaner, warnte wiederholt die Regierungen der Gläubigerstaaten. Im Februar 1928 schrieb er an die Reparationskommission: „Unter den gegenwärtigen Umständen fehlt Deutschland der normale Anreiz zum Sparen. Vielmehr … hat sich in den letzten Jahren die Tendenz zu öffentlichen Ausgaben und staatlicher Kreditaufnahme im Inland wie im Ausland verstärkt.“15


Diagramm 2 Bruttokapitalströme nach Deutschland (in Milliarden US-Dollar)

Auch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht war ein hartnäckiger Kritiker der kurzfristigen Kapitalbewegungen von den USA nach Deutschland. Er sagte im Oktober 1926 vor einem Untersuchungsausschuss: „Was geschieht eigentlich heute? Die privaten Banken und Bankiers des Auslandes überschütten uns mit Gold. Sie können gar nicht genug nach Deutschland hereinbringen. Die Konsequenz ist, daß die ausländischen Regierungen über den Reparationsagenten dieses Gold wieder in ihre Länder zurückführen. Sie nehmen es uns wieder ab, und die Sorge dafür, wie der private Investor, der Kapitalanleger, letzten Endes bei dieser Politik abschneiden wird, ob er seine Zinsen und sein Kapital einmal wieder bekommen wird, wird dem lieben Gott überlassen.“16

Da Somarys präzise Voraussage auf korrekten ökonomischen Einsichten beruhte, die von anderen bedeutenden Analysten geteilt wurden, stellt sich die Frage, warum die politisch Verantwortlichen Deutschland nicht stabilisieren konnten, bevor es die gesamte Weltwirtschaft mit sich herabzog. Anderthalb Jahre vergingen zwischen Somarys Vortrag in Heidelberg und der Eskalation der deutschen Krise im Juli 1931. Das hätte ausreichen sollen, um ein internationales Abkommen zu erreichen, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland.

Eine Antwort findet man in den skeptischen Reaktionen von Somarys Zuhörern in Heidelberg. Sie akzeptierten einfach nicht die Voraussetzungen, auf denen seine pessimistische Einschätzung beruhte. Der leitende Wirtschaftsredakteur der Frankfurter Zeitung zum Beispiel bezweifelte lebhaft, dass man sich in einer Krise befinde. Dieselbe Reaktion erhielt Somary, als er wenige Tage später seine Ansichten vor einem prominenten Kreis im noblen Hotel Kaiserhof in Berlin darlegte. Der Finanzchef von Siemens, Max Haller, und der berühmte Wirtschaftsprofessor Werner Sombart waren „gegen die Betonung der Bedeutung der New Yorker Börse für die gegenwärtige Krise“. Nach Hallers Meinung war „der Verlust des einen Gewinn des andern“ und die Börsennotierungen „für die Wirtschaft belanglos“. Und mehrere deutsche Unternehmer waren überzeugt, die New Yorker Börsenkrise werde bald durch industrielle Umstrukturierung und staatliche Maßnahmen beendet sein. Somary blieb bei seiner Meinung: „Ich bedauere, in allen Punkten diametral entgegengesetzter Auffassung zu sein.“ Doch er konnte sie nicht überzeugen.17

Somarys Zuhörer in Berlin und Heidelberg waren nicht die einzigen Zeitgenossen, die den aufziehenden Sturm nicht sahen. Am 29. Oktober 1929, wenige Tage nach dem Crash an der Wall Street, schrieb die französische Zeitung Le Figaro: „Unser Markt wird durch die Krise in New York beruhigt. Nun, da das Geschwür an der Wall Street geplatzt ist und die nord- und mitteleuropäischen Märkte die überschüssigen Aktien in ihrem Besitz abgestoßen haben, können wir die Zukunft in helleren Farben sehen.“ Pierre de Margerie, der französische Botschafter in Berlin, glaubte Anfang Februar 1930 fest daran, die deutsche Wirtschaft sei im Grunde gesund. De Margerie war der Sohn eines Philosophen und verheiratet mit Jeanne Rostand, Schwester von Edmond Rostand, dem Autor des Cyrano de Bergerac. Es überrascht nicht, dass der kultivierte französische Botschafter mehr an den Künsten interessiert war als an den Ungleichgewichten der Weltwirtschaft.18

Doch selbst ein bedeutender Ökonom wie John Maynard Keynes, der einer der scharfsinnigsten Analytiker der Weltwirtschaftskrise werden sollte, unterschätzte Ende 1929 die Krise und verlor dadurch einen Großteil seines Vermögens. Einen Tag nach dem Börsenkrach schrieb er in der New York Evening Post: „Vielleicht bin ich ein schlechter Prophet, aber ich bin sicher, dass ich die instinktive Reaktion der britischen Finanzmeinung auf die jetzige Situation wiedergebe. Es wird in London keine ernsten direkten Konsequenzen aus dem Abschwung an der Wall Street geben, ausgenommen für die begrenzte Zahl angloamerikanischer Wertpapiere, die sowohl hier als auch in New York aktiv gehandelt werden. Dagegen finden wir den längerfristigen Ausblick entschieden ermutigend.“ Keynes glaubte, das Ende des Aktienbooms werde die Zinssätze stark sinken lassen und damit der Wirtschaft Auftrieb geben: „Nachdem das billige Geld gekommen ist, müssen ein paar Monate vergehen, bevor die Geschäftsentscheidungen, die es anregt, sich in neuer Handels- und industrieller Aktivität materialisieren können. Wenn das billige Geld aber erst kommt, zweifle ich nicht an seiner heilenden Wirkung.“19

Somary war nicht überrascht, dass Keynes die drohende Krise unterschätzte. Im Juni 1926 hatte er bei einem Empfang des deutschen Bankiers Carl Melchior in Berlin mit ihm gesprochen. Auf die Frage von Keynes, was er seinen Mandanten rate, antwortete Somary auf die übliche pessimistische Art: „Sich von der kommenden Krise so weit als möglich fernzuhalten und den Markt zu meiden.“ Keynes widersprach entschieden: „Es kommt keine Krise mehr in unserer Zeit. … Ich halte den Markt für sehr interessant und die Preise für niedrig. … Von woher soll denn eine Krise kommen?“ Somary erwiderte: „Vom Unterschied zwischen Schein und Wirklichkeit. Ich habe noch nie so schwere Unwetter heraufziehen sehen.“ Keynes ließ sich nicht überzeugen und wollte weiter über die Aktien einzelner Unternehmen reden.20

So sehr Somarys analytische und prognostische Fähigkeiten geschätzt wurden – seine Voraussagen wurden ignoriert. Seinen Zuhörern gefiel sein unabhängiges Denken, aber sie waren verwirrt von seinem Mangel an Orthodoxie. Das bedrückte ihn oft: „Damals stand ich mit meiner Haltung völlig isoliert da, und man nahm mir meine dringenden Alarmrufe – in den Regierungen wie in der Geschäftswelt – allseits übel. … Von den Nationalökonomen hatte ich keine Unterstützung zu erwarten. Nur die allerwenigsten sahen die furchtbare Krise herankommen. Wohin ich blickte, fand ich Unverstand oder Feindseligkeit.“21

Bei einer Bankenkonferenz in Berlin im Sommer 1929 verspottete Charles E. Mitchell, der Präsident der National City Bank, Somary als „Raben von Zürich“, der das Schlimmste voraussage, aber stets falsch liege und deshalb kein Glück habe.22 Die Leute lachten den einsamen Raben aus.

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