Читать книгу Zielobjekt: Untreue Ehefrauen - Toby Weston - Страница 7
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ОглавлениеDr. Greulichs Praxis lag in einem Geschäftshaus mit Blick auf die Leopoldstraße. Es war ein großer Raum mit dickem Teppich. Das Licht war sehr gedämpft. Der Psychiater hielt ein solches Behandlungszimmer für perfekt, weil es den Patienten irgendwie das Gefühl verlieh, sich wieder im Mutterschoß zu befinden, von ihrer Seite aus natürlich nur eine unbewusste Reaktion.
Der Psychiater nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. Er war ein drahtiger kleiner Mann mit einem sorgfältig gestutzten Schnäuzer und Gesten, die manchmal eine Spur geziert wirkten. Er machte nie Aufzeichnungen oder Notizen. Für die absurde Fülle von Daten hinsichtlich seiner Patienten konnte er im Computer nachsehen.
Die Hände im Schoß zusammengelegt, saß Toby artig auf einem bequemen weißen Polstermöbel, während Dr. Greulich mit einem schwarzen Kugelschreiber spielte.
„Sie hatten mir zuletzt von einer Stimme erzählt, die durch ihren Kopf spukt“, begann der Psychiater.
„Handelt es sich dabei nicht um ein weit verbreitetes Problem?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Gibt uns nicht laufend unser Unterbewusstsein bestimmte Befehle?“
„Sagen Sie es mir. Was erhalten Sie für Befehle?“
„Egal. Ich möchte, dass Sie mir die befehlende Stimme vom Leib halten! Ich bin ein freier Mensch und akzeptiere keine Befehle. Besonders nicht von irgendeinem Arschloch, das in meinem Kopf sitzt. Also vertreiben Sie die Stimme!“, sagte Toby in einem trotzigen, kindlichen Ton.
„Ich? Wie kann ich das tun?“, fragte der Psychiater. „Schließlich ist es Ihre Stimme, und sie sitzt in Ihrem Kopf.“
„Ich zahle Ihnen neunzig Euro die Stunde! Also verdienen Sie sich das Geld. Ich will diese Stimme nicht mehr hören.“
„Hören Sie sie im Augenblick?“
Ehe er antwortete, wartete Toby, als horche er in weite Fernen.
„Nein.“
„Wie klingt die Stimme?“
„Winselnd, vorwurfsvoll, wie sich ein Arschloch eben anhört.“
„Wann haben Sie diese Stimme zum ersten Mal gehört?“
„Vor Jahren.“
„Was haben Sie getrieben, als Sie sie zum ersten Mal gehört haben?“
„Warum interessiert Sie das?“, hakte Toby nach und zog die rechte Augenbraue empor.
„Ich bin ein Voyeur.“
„Wollen Sie mich verarschen?“
„Ich sage Ihnen die Wahrheit“, antwortete Dr. Greulich. „Auf meine Art bin ich ebenso verrückt wie Sie es sind. Ich bin ein Voyeur. Es macht mir Spaß, in schmutziger Wäsche herumzuwühlen. Was glauben Sie, warum ich Psychiater geworden bin? Nur, um meinen lieben Mitmenschen zu helfen? Niemand tut irgendetwas ausschließlich aus humanitären Gründen. Da ist immer noch etwas Anderes im Spiel, ein zusätzlicher Kitzel.“
Er war mit Toby vollkommen offen. Er belog seine Patienten nie, und schizoide Patienten schon gar nicht, weil er, selbst schizoid veranlagt, allzu gut wusste, wie empfindlich sie auf Lügen reagierten.
„Ein Test für die normale oder psychotische Veranlagung ist das Maß an gegebener oder nicht gegebener Verständigungsmöglichkeit zwischen zwei Personen, von denen die eine das ist, was man gemeinhin als »normal« bezeichnet. Von diesem Test ausgehend, kann ich Sie unmöglich als verrückt und mich selbst als geistig gesund bezeichnen. Ich bin ebenso verrückt wie Sie es sind. Nur dass ich persönlich gelernt habe, normal zu funktionieren. Die Schizophrenie ist ein geistiges Land, und ich bin dort gewesen und zurückgekehrt - ein Reisender, der sich auskennt. Das ist der Grund, warum Sie mir neunzig Euro die Stunde zahlen. Ich bin ein Reiseführer, der große weiße Jäger des Geistes, der alle Fluchtwege kennt.“
Er lachte vergnügt über seine Metapher und ließ den schwarzen Kugelschreiber durch deine Finger rollen.
„Sie reden wie ein unreifes, eitles Kind!“, sagte Toby geradeheraus.
„Und? Ich bin eingebildet und eitel, aber ich kann funktionieren. Ich habe die Splitter meiner Schizophrenie gebündelt. Ich halte sie fest und Sie fallen auseinander. Wenn Sie dieses Auseinanderfallen verhindern wollen, müssen Sie mir sagen, was ich wissen will. Wenn nicht, dann verschwinden Sie. Ich brauche Sie nicht. Für einen Patienten, der geht, finde ich im Handumdrehen ein Dutzend neue!“
„Warum haben Sie mich als Patienten überhaupt angenommen?“ Tobys Stimme war unbewegt, aber in seinen Augen zuckte es.
„Weil Sie ein Verrückter unter Verrückten sind. Ein Mann dessen Hobby es ist, verheiratete Frauen zu verführen. Wie bescheuert ist das denn? Ich könnte Ihren Fall in einem Bericht für eine Fachzeitschrift abhandeln. Sie sind etwas Besonderes. Nicht die Geist-Körper-Trennung. Die ist das Übliche. Das Ungewöhnliche an Ihrem Fall ist der Keil, der die Trennung zwischen Ihrem Geist und Ihrem Körper herbeigeführt hat, der physiologische Faktor, der hier mitspielt. Sie besitzen das, was wir in der Ausbildung feixend einen Expressauslöser genannt haben. Der flüchtigste Reiz, den eine Frau aussendet, führt bei ihnen zu einer Erektion.“
„Und was, sollte dass, mit der Stimme in meinem Kopf zu tun haben?“
„Alles hat mit dieser Stimme zu tun. Sie ist der Anfang und das Ende unserer Existenz.“
„Aber meine Stimme und dieser Drang, ständig Frauen ficken zu müssen, ist ein Problem, oder?“
„Seien Sie kein Narr. Die meisten Männer würden einen Hoden dafür hergeben, wenn sie dadurch die Fähigkeit erwerben könnten, so schnell eine Frau flachzulegen, wie sie es schaffen.“
„Wo liegt dann mein Problem?“
„Geist und Körper sind symbiotisch. Jeder ist für den anderen lebensnotwendig. Das ist der Grund, warum Sie eine Stimme hören. Es ist die Stimme Ihres Körpers, der sich rächt.“
Toby betrachtete seine Fingernägel. Ob er mal wieder einen Termin bei der Maniküre vereinbaren sollte? Er begann sich bei diesem Volltrottel von Therapeuten zu langweilen.
Den Psychiater überraschte es nicht, dass Toby ihm nicht zuhörte. Einem Patienten zu erklären, was nicht in Ordnung war, war als Therapie ungefähr so wirksam wie der Versuch, Warzen mit Zaubersprüchen zu beseitigen. Der Trick – und Dr. Greulich betrachtete es als Trick, eine Fähigkeit, die manche Analytiker besaßen und andere nicht -, war, in den Kopf des Patienten einzusteigen und in den Landschaften seines Geistes spazieren zu gehen. Dann konnte man die Auswege finden, falls es welche gab. Aber um das zu bewerkstelligen, musste man wissen, wie sie die Realität sahen. Und um zu verstehen, wie sie die Realität sahen, musste man wissen, wie ihre Realität aussah.
„Sie müssen mir etwas mehr erzählen, wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe!“
„Über was?“, fragte Toby im gleichen, ausdruckslosen Ton. Er hatte sich noch nicht entschieden, wann er einen Termin für die Maniküre buchen sollte.
„Über diese Stimme. Ja, über die Stimme möchte ich mehr wissen.“
„Sie können Sie sich ja ansehen. Alle haben sie gesehen. Aber das ist schon lange her.“
„Sie weichen schon wieder aus. Das sind typische paranoide Fluchtversuche. Und obendrein sind sie kindisch. Wenn Sie mich nicht verstehen können oder wollen, dann müssen Sie bitte einen anderen Psychiater aufsuchen.“
Toby blickte genervt von seinen Fingernägeln auf. Scheiße! Er brauchte doch dieses Stück Papier, dass seine geistige Gesundheit diagnostizierte.
„Was wollen Sie wissen?“, fragte er.
„Nun, Toby. Erstens haben Sie gelogen. Sie haben meiner Sekretärin eine falsche Adresse angegeben. Das machen paranoide Patienten häufig. Die Angaben werden von meiner Sekretärin stets überprüft.“
„Das ist nicht wichtig.“
„Es ist sehr wichtig. Wäre es nicht wichtig, dann würden Sie die Wahrheit sagen. Menschen lügen nicht, wenn es um nebensächliche Dinge geht. Lügen sind Ausflüchte. Lügen werden vorgeschoben, um abzulenken und zu blenden.“
„Ich wohne aber in einer Villa am Starnberger See. Außerdem gehören mir eine Dachterrassen Wohnung in Schwabing, ein Chalet in St. Moritz und ein Strandhaus auf Mallorca. Ich habe nicht gelogen!“
„Sicher, sicher.“
„Sie können mich gerne besuchen kommen, wenn Sie es mir nicht glauben. Dabei sollten Sie die hübsche blonde Angestellte aus Ihrem Vorzimmer mitbringen.“
Der Psychiater schüttelte genervt den Kopf.
„Toby, ich möchte mit Ihrer Stimme im Kopf sprechen.“
„Ich werde mich schön hüten, sie miteinander sprechen zu lassen. Da kann nur ein Riesenmist rauskommen.“
„Was haben Sie getrieben, als Sie ihre Stimme zum ersten Mal gehört haben, zum allerersten Mal?“
„Das haben Sie schon einmal gefragt!“
„Ja, aber Sie haben nicht geantwortet.“
„Das werde ich jetzt auch nicht tun.“
„Haben Sie onaniert?“
„Ich kann mich nicht entsinnen.“
„Was war das für ein Gefühl, als Sie damals onanierten?“
„Weiß ich doch jetzt nicht mehr! Ich erinnere mich an keine Gefühle.“
„Kommen Sie. Sie müssen etwas fühlen, sonst könnten Sie keinen heißen Kaffee trinken, ohne sich die Zunge zu verbrennen. Sie könnten nicht laufen, wenn Ihre Füße nicht den Boden spüren würden. Irgendwelche sensorischen Informationen müssen immer aufgenommen und verarbeitet werden.“
„Nein.“
„Schmecken Sie Dinge? Schmecken Sie, ob etwas süß oder sauer oder salzig ist?“
„Klar.“
„Toby, fühlen Sie Liebe zu anderen Menschen?“
Es schoss aus ihm heraus: „Nein!“
Dr. Greulich lachte, um die Sache zu verharmlosen. „Das ist gelogen. Jeder Mensch empfindet Liebe und Schmerz.“
„Schmerz ist gut für die meisten Menschen. Das lehrt sie, sich zu benehmen.“
„Irrtum. Schmerz ist gut und wichtig für einen Menschen, es zeigt, dass man immer noch lebt, in einem Körper existiert.“
„Ich empfinde nichts für andere Menschen. Ich lebe an einem kühlen, trockenen Ort.“
„Wo ist dieser kühle, trockene Ort? Wie sieht er aus?“
Toby schloss die Augen und verstummte. Obwohl er einen mächtigen Drang empfand zu schreien, redete er sich selber gut zu, stumm zu bleiben. Ob der Schrei Angst oder Erlösung zum Ausdruck gebracht hätte, wusste er nicht. Die Augen waren nach wie vor geschlossen, und er fühlte sich plötzlich von einer atemberaubenden Welle emporgehoben, ein himmlisches Gefühl, dem gleich darauf ein übelkeitserregender Absturz folgte. Die Angst packte ihn, da ihm klar wurde, dass das Vokabular, mit dem er seine Gefühle beschrieb, aus körperlichen Empfindungen abgeleitet war: atemraubend und übelkeitserregend. Ein böser Streich, den die Sprache mitspielt, dachte er. Ich lebe an einem kühlen, trockenen Ort. In dem verzweifelten Bedürfnis, diese Aussage, um selbst daran glauben zu können, nochmals bestätigt zu hören, sagte er:
„Ich lebe an einem kühlen, trockenen Ort.“
„Beschreiben Sie diesen kühlen, trockenen Ort. Wie schaut er aus, die Topographie. Sind Sie innerhalb oder außerhalb, ist es Winter oder Sommer?“
„Ich lebe in einer Burg, einer Festung.“
„Ist diese Festung von einem Graben umgeben?“
„Ja! Woher wissen Sie das?“
„Festungen sind meistens von Gräben umgeben. Ein beliebtes Traummotiv. Sagen Sie, hat diese Festung oder Burg ein Fallgatter?“
„Was ist das?“
„Eine Eisentür, die man herunterlassen kann, um Eindringlinge abzuwehren.“
„Ja.“
„Führt eine Zugbrücke über den Graben?“
„Nein.“
„Wie kommt man dann über den Graben? Irgendein Weg muss doch hinüberführen, richtig?“
„Man muss schwimmen!“
Die Stimme, die aus Tobys Kehle drang, klang tiefer, sonorer. Die neue Stimme ließ gut zehn Sekunden lang ein höhnisches Glucksen vernehmen, dann streckte Tobys Körper sich, als hätten unsichtbare Hände ihn in seinem Sessel aufgerichtet.
Als er jetzt fortfuhr, hatte seine Stimme wieder ihr übliches Timbre.
„Das Scheusal lebt dort, in dem Graben, wo es hingehört. Im Morast! Ich lebe drinnen, wo es sauber und trocken ist. Die Mauern sind dick und fest. Da kommt niemand rein.“
„Ja, und raus kommt auch niemand“, sagte Dr. Greulich.
„Na und. Die Burg ist wunderschön.“
„Ich verstehe. Wenn sie in Ihrer steinernen Festung so glücklich sind, warum suchen Sie diese Burg dann nicht?“
Toby sah ihn an.
Der Psychiater sah ihn an.
Beide kannten keine Antwort.