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Tag 4

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»Jetzt hab ich dich, mein Kleiner.« Aline tanzte mit dem Smartphone in der Hand durch ihre Zweizimmerwohnung und hätte dabei fast den frischen Frühstückskaffee auf ihrem Couchtisch verschüttet. Soeben hatte sie eine SMS mit einem 24-stelligen Code aus Zahlen und Buchstaben bekommen – das Zeichen, dass Holsbeins Handy geortet worden war. Sie startete ihren Laptop und tippte den Code in ein Formularfenster ein. Es öffnete sich eine Landkarte mit einem eingezeichneten Kreis. »Belfort?«, sagte Aline laut. »Ich hätte dich weiter südlich erwartet.« Sie tippte Camenzinds Nummer ins Handy und erzählte ihm von der Neuigkeit.

»Was macht der denn in Belfort? Kennt er da jemanden?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte sie.

»Und es gibt keinen Zweifel?«, wollte er sich absichern.

»Nope.«

»Wieso kannst du etwas, das die Polizei nicht kann?«

»Weil ich mich nicht um Datenschutz und Persönlichkeitsrechte kümmern muss.«

Sie vereinbarten, dass sie ihn von unterwegs regelmäßig über den neusten Stand informieren und um fünf Uhr einen pfannenfertigen Text mit fünftausend Zeichen schicken würde. Camenzind seinerseits versprach ihr, dass dieser und die folgenden Artikel jeweils erst am Tag der Veröffentlichung in der gedruckten Zeitung online gestellt würden, und nicht wie sonst üblich schon am Abend davor. Aline benötigte diesen zeitlichen Vorsprung, um Holsbein immer schön im Nacken sitzen zu können.

»Das wird ihn in den Wahnsinn treiben«, lachte sie.

»Was hältst du übrigens von Silvia Aeschlimann?«, wollte Camenzind wissen.

»Wie meinst du das?«

»Dein Pseudonym. Ich kann dich ja schwerlich suspendieren und dann schreibst du drei Tage später wieder für unsere Zeitung, ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.«

Okay, dachte Aline, dann hieß sie nun eben Silvia Aeschlimann. Sie klappte ihren Laptop zu und verstaute die Zahnbürste und ein paar Kosmetikartikel im Rollkoffer, der fertig gepackt neben der Tür stand. Zuletzt steckte sie sich noch die aktuelle Ausgabe des »Amsheimer Boten« ein. »Feuerteufel in Hannover untergetaucht«, stand da in der größten Titelschrift, welche die Layoutvorgaben erlaubten. »Diese Wahnsinnigen«, kicherte sie vergnügt. Hatten die doch tatsächlich Frau Öztürk, das Medium, nach Holsbeins Aufenthaltsort gefragt. Den Artikel würde sie später lesen.

* * * * *

Holsbein war zurück auf der Straße. Erneut ging es vorbei an Feldern, vielen Bäumen und Wiesen mit Kühen. Seit einer halben Stunde war immer mal wieder der Doubs zu sehen, auf dem sich Massen von Freizeitsportlern mit ihren leuchtgelben Plastikkanus tummelten. Gegen eine kleine Abkühlung hätte er nichts einzuwenden gehabt. Es war gar gerade einmal Mittag und der Thermometer zeigte schon zweiundreißig Grad. In seinem Family-Van ohne Klimaanlage schwitzte Holsbein wie ein Schwein. Aber eine weitere Verzögerung konnte er sich nicht leisten, denn auf der Landstraße kam er ohnehin schon langsam genug voran. Und eigentlich hatte er geplant gehabt, am Abend ein Bad im Meer zu nehmen.

Der Vormittag war ganz nach Plan verlaufen. Erst hatte er sein Auto abgeholt, das um zehn Uhr einwandfrei repariert bereitstand. Dann besorgte er sich in einem Geschäft, das im Schaufenster für internationale Geldtransfers und günstige Handytarife warb, eine Prepaidkarte mit 200 Euro Guthaben. Für ein paar Euro extra installierte der Ladenbesitzer eine App, die nötig war, damit das Schweizer Gerät und die französische Karte harmonierten. Um eine Registrierung kam er zwar nicht herum, doch Holsbein gab einen Fantasienamen und eine Fantasieadresse in Toulouse an und erklärte dem Typen, dass er seinen Pass im Hotelzimmer vergessen habe, worauf dieser für einen Zwanziger eine frei erfundene ID-Nummer eintrug.

Südlich von Besançon meldete sich Holsbeins Magen. In einem Burger King holte er sich zwei Whopper mit doppelt Käse und setzte sich an einen der Tische mit Sonnenschirm gleich neben der stark befahrenen Straße. Er versuchte gleichzeitig den riesigen, wabbeligen Burger zu essen und auf dem Handy rumzutippen, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Natürlich tropfte einiges an Sauce auf das Display. Holsbein leckte es sauber und schaute dann, was die Medien über ihn zu berichten hatten. Die »Nordost-Nachrichten« vermeldeten nichts, ebenso wenig die anderen Newsportale. Nur das »Ostschweizer Tagblatt«, dessen Online-Journalisten gerne aus dem »Amsheimer Boten« abschrieben, war offenbar an ihm dran. »Feuerteufel taucht in Hannover unter«, schrie ihm die Schlagzeile entgegen. Er las weiter und erfuhr, dass er bei einer linksautonomen Gruppierung in einem besetzten Haus am Rande Hannovers untergekommen war. Die Zelle mit Kontakten zu früheren Mitgliedern der Roten Armee Fraktion würde ihm nun helfen, seine Flucht nach Norden fortzusetzen. Dies habe das »international bekannte und geschätzte« Medium Frau Öztürk, die auch als Profilerin arbeite, dem »Amsheimer Boten« verraten.

»Ach du meine Fresse«, japste Holsbein und verschluckte sich fast an seinem Burger. Dieser Leimbacher war wirklich zu allem fähig. Wenigstens hatte er jetzt endlich einmal die Aufmerksamkeit von anderen Medien. Holsbein war nicht entgangen, dass sein Chef jeden Abend heimlich die seiner Meinung nach zwei, drei besten Artikel an sämtliche größere Zeitungen sowie an alle Radio- und Fernsehstationen des Landes verschickte. Nur hatte das bisher niemanden interessiert.

Zehn Minuten später saß er wieder in seiner Familienkutsche und ratterte auf einer Überlandstraße in Richtung Süden. Erst jetzt bemerkte er den imposanten Saucenfleck auf seiner Jeans.

* * * * *

Es gab Momente, in denen Widmer sich fragte, was er in seinem Job eigentlich den ganzen Tag machte. Soeben hatte eine Journalistin der »Nordost-Nachrichten« angerufen und sich erkundigt, ob er Kenntnis davon habe, dass Richard Holsbein in Ostfrankreich in der Nähe von Belfort gesehen worden war. Widmer hatte seine Standardantwort gegeben, wonach man eine heiße Spur verfolge, aus ermittlungstaktischen Gründen aber nichts zu dem Fall sagen könne. Woher nur glaubte diese junge Frau zu wissen, wo sich der Feuerteufel aufhielt? Sie schien sich ihrer Sache ziemlich sicher gewesen zu sein, wogegen die Polizei nicht die geringste Ahnung hatte, wo sich Holsbein versteckte und den Fokus aufgrund der Handyortung in Basel-Kleinhüningen eher auf Deutschland richtete.

Widmer rief Suter in der Einsatzzentrale an. Doch der wusste von gar nichts und badete in seiner niedergeschlagenen Lethargie. Also musste Armin Camenzind mit der Wahrheit rausrücken. Widmer schnappte sich zwei junge kräftige Typen von der Bereitschaft und fuhr mit Blaulicht und Martinshorn die knapp dreihundert Meter von der Wache an den Churfirstenplatz, wo sich die Redaktion der »Nordost-Nachrichten« befand.

Camenzind staunte nicht schlecht, als der bärtige Kommissar mit seinen lachsroten Hosen, dem bunt karierten Hemd und den zwei kampflustig dreinschauenden Muskelprotzen im Schlepptau ohne anzuklopfen sein Büro betrat und sich vor dem Schreibtisch aufbaute. »Das ist Hausfriedensbruch, meine Herren«, sagte er und versuchte erfolglos seine Verunsicherung zu überspielen.

Widmer schlug mit der Faust auf die Tischplatte. »So, mein Freund, und jetzt erzählen Sie mir, weshalb mich vorhin eine Ihrer Journalistinnen angerufen und blöde Fragen zu Holsbeins Aufenthaltsort gestellt hat. Er soll bei Belfort gesehen worden sein.«

Camenzind hatte seine Fassung wiedererlangt. Er steckte sich eine Marlboro zwischen die Lippen, fand aber keine Streichhölzer. »Ich weiß von gar nichts«, sagte er. Inzwischen hatte er unter einem Stapel nachlässig zusammengefalteter Zeitungen ein Feuerzeug entdeckt. Er lehnte sich zurück und zündete die Zigarette an. »Wie hieß denn die Dame?«

»Sie hat sich als ›Aeschlimann‹ vorgestellt«, knurrte Widmer.

»Na dann kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, bei uns arbeitet niemand mit diesem Namen. Schauen Sie im Impressum nach.« Camenzind legte dem Kommissar eine Ausgabe der »Nordost-Nachrichten« hin. »Seite drei, unten links.«

Widmer ging die Namen durch. Er fand niemanden, der auch nur annähernd so hieß. »Dann war es diese Journalistin, die den Namen des Täters herausbekommen hat. Holen Sie sie rein, ich will mit ihr reden.«

»Geht nicht«, sagte Camenzind. »Ich habe sie suspendiert, weil sie nicht damit rausrücken wollte, woher sie all die Informationen hatte.«

»Wen haben Sie denn dann auf den Fall angesetzt, Camenzind?«

»Derzeit niemanden. Wenn sich irgendein freier Schreiber der Sache annimmt und uns den Text dann anbietet, kann ich das aber auch nicht verhindern.« Er fischte einen Kugelschreiber aus der bunt bemalten Büchse, die ihm seine Nichte zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. »Wenn wir gerade so schön am Plaudern sind: Was weiß die Polizei über dem Aufenthaltsort des Feuerteufels?«

»Wir sind an ihm dran«, brummte Widmer. »Aus ermittlungstaktischen Gründen können wir aber keine Details verraten.«

* * * * *

Die Sache mit dem Bad im Mittelmeer konnte Holsbein erst einmal vergessen. Blöderweise hatte er sich für seine Flucht in den Süden ausgerechnet die Hauptreisezeit in den Schulferien ausgesucht – und war mitten in den Strom unzähliger Touristen hineingeraten. Vor Vienne staute sich der Verkehr auf über fünfundzwanzig Kilometern, und später in Valence nochmals auf etwa zwanzig. Deshalb waren die ganz Schlauen von der Autobahn abgefahren und verstopften damit auch noch die Überlandstraßen. Holsbein hatte es im Schneckentempo bis kurz nach Montélimar geschafft, wo er seinen Renault entnervt auf einem Rastplatz parkte. Sein Nachtessen bestand aus einem durchgeweichten Industrie-Sandwich und einer Packung Mini-Salami.

Mittlerweile hatte sich auch wieder seine Paranoia gemeldet, und so entschied er, sich andere Nummernschilder zu besorgen. Seine alten Schilder lässig in einem Plastiksack schwingend, schlenderte er auf dem Lastwagenparkplatz herum auf der Suche nach einem Mietwohnmobil aus der Schweiz. Es dauerte nicht lange, da entdeckte er ein wahres Prachtexemplar, eingeklemmt zwischen zwei Vierzigtönnern aus Polen. »Wunderlich Caravan und Wohnwagen Vermietung, Altbrunn« stand in großen Lettern auf der Rückseite der Kiste. Holsbein war zufrieden. Der kannte sein Kennzeichen bestimmt nicht und der Wechsel würde erst auffallen, wenn er das Gefährt wieder dem Vermieter zurückbrachte.

Holsbein klaubte sein Handy aus der Hosentasche. 22.35 Uhr. Dieser Teil des Parkplatzes war schlecht beleuchtet. Die Familie, oder wer auch immer mit diesem Wohnmobil in die Ferien fuhr, befand sich wahrscheinlich im Innern des Fahrzeugs, denn zwischen den zugezogenen Vorhängen war Licht zu sehen. Das würde ein Kinderspiel werden, machte sich Holsbein Mut. Er kauerte sich hin und inspizierte das vordere Schild. Es hatte einen einfachen Click-Verschluss. Nach nicht einmal zwanzig Sekunden hatte er das Kennzeichen ausgetauscht. Das hintere Nummernschild klemmte ein wenig, doch auch da war der Wechsel schnell erledigt. Holsbein hatte sich gerade aufgerichtet und das Stück Blech im Plastiksack verschwinden lassen, als ihn jemand mit der Taschenlampe blendete.

»Was machst du dich hier an meinem Auto zu schaffen, du Penner?«, fragte eine aufgeregte männliche Stimme auf Schweizerdeutsch.

Holsbein dachte kurz an Flucht, beschloss dann aber, den Reißverschluss seiner Hose zu öffnen und so zu tun, als würde er seinen Schwanz suchen. Mit der anderen Hand stützte er sich am Wohnmobil ab.

»Hubert, was ist da draußen los?«, tönte eine weibliche Stimme aus dem Wagen.

»Da will so ein Besoffener an unser Wohnmobil pissen.«

»Siehst du, ich habe doch gesagt, wir sollten besser auf einem Campingplatz übernachten«, schimpfte die Frau. »Aber nein, das war dir ja zu teuer.«

»Und ich habe dir schon hundertmal erklärt, dass um diese Jahreszeit entlang der Autobahn kein einziger Platz mehr frei ist«, rief Hubert über die Schulter. Der Strahl der Taschenlampe war inzwischen auf Holsbeins Schwanz gerichtet. Der stopfte sein Ding wieder in die Hose, nuschelte ein paar französische Wortfetzen und wankte langsam davon.

»Aber du hättest reservieren können«, keifte die Frau weiter.

»Theoretisch wäre es aber auch möglich gewesen, dass es weniger Verkehr hat und wir auf dem Weg nicht zu übernachten brauchen«, sagte Hubert.

»Hallo? Wir haben Ferien! Da ist ein Stau ja wohl keine Überraschung.«

Hubert ging ein paar Schritte hinter Holsbein her, um sich zu vergewissern, dass der auch wirklich das Weite suchte. Dann schlurfte er in seinen Badelatschen zurück zum Wohnmobil, stieg die zwei Stufen hinauf und schlug die Tür hinter sich zu.


Die Flucht des Feuerteufels

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