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Tag 5

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Aline holte sich noch ein Croissant vom Buffet. Dazu ein paar Scheiben Schinken, etwas Camembert, ein Glas ganz bestimmt nicht frisch gepressten Orangensaft und ein Danone-Joghurt. Kaum hatte sie sich gesetzt, stand der für diesen Bereich zuständige Kellner an ihrem Tisch und schenkte Kaffee nach. Der Kerl ging ihr langsam auf die Nerven. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, wenn ihr die Typen bewundernd nachschauten. Sofern sie gut drauf war, natürlich. Nur sollte das mit ein bisschen Stil und einer gewissen Zurückhaltung geschehen. Dieser Kellner aber sabberte ihr fast in den Ausschnitt.

Zurück im Hotelzimmer warf sie sich aufs Bett, fingerte an ihrem Handy herum und tippte dann eine Zahlenreihe in den Laptop. »Schon wach? Wirst ja noch zum Frühaufsteher«, murmelte sie und zoomte auf der Karte näher ran. »Du armer Kerl, musstest in deiner alten zugigen Karre auf einer Raststätte schlafen.« Redete sie da gerade mit dem Computer?

Aline öffnete die Internetseite der »Nordost-Nachrichten« und betrachtete ihr Werk. »Feuerteufel auf dem Weg nach Südfrankreich«, stand da. Für einmal hatten die Online-Aasgeier sogar ihren Titel beibehalten. Auch das Bild war eingefügt. Gemäß Legende war auf der Aufnahme Richard Holsbein zu sehen, wie er in einem Shop auf einer Raststätte südlich von Vienne im Departement Isère eine Flasche Cola kauft. Das Foto, ganz offensichtlich die Aufnahme einer Überwachungskamera, war unscharf und verzerrt, sodass der Kopf bei genauerem Betrachten nicht wirklich zum Rest des Körpers zu passen schien. Außerdem waren die Augen mit einem dicken schwarzen Balken abgedeckt. Eigentlich konnte das eine beliebige männliche Person an einem beliebigen Ort sein.

»Die drucken wirklich alles ab«, sagte Aline zu sich selber und zuckte mit den Schultern.

Für das Bild hatte sie aus einer rund zwei Jahre alten, von der Perspektive her einigermaßen passenden Aufnahme Holsbeins mit Photoshop den Kopf ausgeschnitten, mit einem Screenshot einer Überwachungskamera irgendeines Tankstellenshops aus dem Internet zusammengefügt und das Ganze dann etwas bearbeitet: Kontrast runter, Helligkeit rauf, ein wenig an der Tonwertkorrektur und der Farbsättigung rumgeschraubt, zum Schluss noch ein kräftiges Bildrauschen darübergelegt und in alle Richtungen verzogen. Damit es auch richtig scheiße aussah, fotografierte sie das Bild auf dem Laptopmonitor mit ihrem Handy ab und schickte es an die Redaktion. Dazu ein bisschen Text, in dem eine frei erfundene Angestellte sagen durfte, dass sie von Holsbein auf eine ziemlich primitive Art angemacht worden sei. Außerdem ein paar längst bekannte Details aus der Tatnacht sowie einige Mutmaßungen, wohin Holsbein flüchten könnte. Zum Schluss durfte die Polizei noch sagen, sie gebe aus ermittlungstaktischen Gründen keine Auskunft über den Fall. Der Artikel war höchstens halb so lang wie die geforderten fünftausend Zeichen, aber Aline hoffte, dass das Foto als Ersatz für mehr Informationen ausreichte.

Das tat es offenbar. Gerade kam eine Whatsapp-Nachricht von Camenzind rein: »Ich will gar nicht wissen, wie du an die Aufnahme und an die Infos gekommen bist, aber mach weiter so! Gruß, C.«

Aline verfolgte auf dem Computer, auf welcher Route Holsbein bisher unterwegs gewesen war. Auch wenn die Ortung nicht immer sehr genau war, konnte sie durch das Bewegungsprofil dennoch deutlich ausmachen, dass er die Autobahn mied und stattdessen die Überlandstraße benutzte. Wenn sie selber schön auf der Autobahn blieb, würde sie ihn bald eingeholt haben.

* * * * *

Es war elf Uhr, und noch immer keine Neuigkeiten vom Feuerteufel. Leimbacher ging unruhig in der Redaktion auf und ab. Er sorgte sich, den Themenlead in der Sache an die »Nordost-Nachrichten« zu verlieren. Dass diese Arschlöcher Holsbein in Frankreich ausfindig gemacht hatten und dies sogar mit einem Bild beweisen konnten, war gar nicht mal so übel gewesen, das musste er zugeben. Dummerweise ließ das den »Amsheimer Boten« schlecht aussehen, schließlich hatte Frau Öztürk den Feuerteufel deutlich weiter im Norden ausgemacht.

Als Leimbacher hinter Püppy stehenblieb, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. »Was zum Teufel machst du da?«

»Ich schreibe einen Artikel über Richards Flucht.«

»Das sehe ich. Woher hast du das?«

»Hier.« Püppy reichte ihrem Chef die aktuelle Ausgabe des »Ostschweizer Tagblatts«.

»Dir ist schon klar, dass du hier gerade unsere Geschichte abschreibst?«

»Wie …?«

»Na hier, die beziehen sich in ihrem Artikel auf die Aussage von Frau Öztürk, die wir gestern in unserer Zeitung hatten.« Leimbacher knallte das »Tagblatt« auf Püppys Schreibtisch. »Okay, also, du rufst jetzt diese Frau Öztürk an und fragst sie, wie sie so weit danebenliegen konnte. Und dann fragst du sie auch noch, wohin Holsbein unterwegs ist. Hast du übrigens noch einmal versucht, den Wichser zu erreichen?«

»Ja, ein paar Mal, er scheint sein Telefon ausgeschaltet zu haben. Aber ich habe vorhin eine Mail von ihm bekommen. Also ich glaube, sie ist von ihm. Als Absender steht ›König Chumbawamba‹.«

»Zeig her!« Leimbacher beugte sich zum Bildschirm runter und las: »Hallo Sarah, die Sache mit Rotterdam hat leider nicht geklappt. Ich bin jetzt auf dem Weg nach Westfrankreich und versuche, irgendwo in Bordeaux einen Job in einem Weinberg zu bekommen. Die suchen immer Saisonarbeiter und stellen keine Fragen. Ich schreibe dir das nur, damit du dir keine Sorgen machst. Bitte erzähl dem Alten nichts davon, und auch nicht Kathrin. Liebe Grüße, Richard.«

Leimbacher kratzte sich am Hinterkopf. »Der Scheißkerl will uns doch reinlegen. Er kann ja nicht im Ernst glauben, dass du mir nichts von dieser Mail erzählen würdest. Also, du rufst jetzt Frau Öztürk an und quetschst sie ein wenig aus. Wenn sie auch etwas von Westfrankreich erzählt, hauen wir die Sache raus.«

* * * * *

Holsbein war unsicher, ob er nicht ein wenig zu dick aufgetragen hatte. Leimbacher war zwar ein verdammter Vollidiot, allerdings auch nicht komplett bescheuert. Aber selbst wenn es nicht klappen sollte, den »Amsheimer Boten« auf eine falsche Fährte zu locken: Rückverfolgen konnten sie seine Nachricht auf keinen Fall. Er hatte sein altes »König Chumbawamba«-Konto auf dem Anonymizer-Server eines griechischen Anarchisten-Computerclubs reaktiviert. Das hatte er einst eingerichtet, um auf seine ganz persönliche Art Stadtpräsident Ehrbar nach dessen Wahlsieg zu gratulieren. Und einigen seiner Stadtratskollegen noch dazu. Für den US-Nachrichtendienst würde die Verschlüsselung vielleicht nicht reichen, aber normale Bullen hätten nicht die geringste Chance, da irgendwas rauszukriegen.

Holsbein mochte es, wie sich bei der Fahrt in den Süden das mediterrane Klima immer deutlicher bemerkbar macht und sich die Landschaft langsam verändert. Anstelle der langweiligen satt-grünen Wiesen gab es von der Sonne versengte Felder, die Erde war nicht mehr kackbraun, sondern ockerfarben bis oxidrot. Es lag mehr Abfall herum. Und natürlich durfte auch der würzige Duft von Pinienholz-Feuern nicht fehlen. Irgendwo brannte schließlich immer ein Stück Wald.

Der Artikel der »Nordost-Nachrichten« hatte ihn nachdenklich gemacht. Auf dem Bild war möglicherweise sein Kopf, der Körper aber gehörte garantiert nicht ihm. Nie im Leben würde er so eine spießige Lederweste tragen. Der Tankstellenshop sah auch nicht typisch französisch aus. Und primitive Anmachen brachte er nur zustande, wenn er ziemlich breit war. Was also bezweckten die damit? Und wer war diese Silvia Aeschlimann, die als Autorin des Artikels zeichnete? Der Treffer mit Vienne konnte Zufall sein, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass da etwas nicht stimmte. Er musste vorsichtig sein.

Fünf Minuten nachdem Holsbein den Ort Lunel passiert hatte, konnte er das erste Mal im Dunst das Meer erahnen. Vor ihm tauchte La Grande Motte auf. Die pyramidenartigen Appartementhäuser dieses durchgeknallten Architekten Jean Balladur waren schon von Weitem zu sehen. Er bog in die Küstenstraße ein, die zwischen dem Meer und dem Etang de l’or in einem weiten Bogen nach Süden führte.

* * * * *

Aline funkte Holsbeins Handy an, das nach einigen Sekunden mit einer SMS antwortete. Sie tippte den Code in den Laptop ein und wartete, bis sich die Karte langsam aufbaute. »Scheiß Empfang hier«, fluchte sie. »Frontignan …, mal sehen …« In einem weiteren Browserfenster wählte sie einen Routenplaner an und checkte die Distanz. Holsbein Vorsprung war auf knapp eineinhalb Stunden zusammengeschmolzen. Kein Wunder: Während er sich auf staubigen Landstraßen Richtung Süden durchkämpfte, war sie auf der Autobahn erstaunlich schnell vorangekommen. Nur an den Zahlstellen verlor sie jeweils einige Minuten.

Aline musste für kleine Mädchen, aber die Toiletten auf den Autobahnparkplätzen waren ihr zuwider. Deshalb verzog sie sich zwischen die Büsche und versuchte zu vermeiden, dass sie auf dem abschüssigen Gelände mit runtergelassener Hose das Gleichgewicht verlor. Als sie sich wieder aus dem Dickicht gekämpft hatte und auf den Parkplatz trat, stieß sie beinahe mit zwei Lastwagenfahrern zusammen, die sie überrascht anglotzten.

Aline war gleich auf hundertachtzig. »Was wollt ihr denn, ihr verdammten Schwanzlutscher?«, schrie sie die beiden an und stapfte zurück zu ihrem Auto. Die zwei schauten ihr verwirrt nach. Sie hatten sich lediglich ein wenig die Füße vertreten wollen und standen nun plötzlich als Triebtäter da.

Wütend schlug Aline die Autotür zu und öffnete alle Fenster. Es war Zeit, sich um den nächsten Artikel zu kümmern. Sie rief über Facetime ihre Freundin Danica an. Auf dem Display erschien eine Brünette mit hochstehenden Wangenknochen und großen Lippen.

»Hey meine Süße«, schepperte es aus dem Lautsprecher, »hast du deine Haare geschnitten?« Aline drehte das Handy rund um ihren Kopf, damit Danica ihre Frisur besser sehen konnte. »Du siehst ja aus wie so eine Skinhead-Tussi.«

»Findest du?« Sie grinste, fuhr sich über die millimeterkurz geschorenen schwarzen Haare und zupfte ihren Pony und die langen Strähnen über ihren Schläfen zurecht. »Sieht doch geil aus, oder?«

»Na ja, ist nicht meins, aber das musst du selber wissen. Jetzt halt dich fest, ich habe vorhin mit meinem Vater telefoniert. Hast du was zum Schreiben?«

* * * * *

Auf der Straße war ziemlich viel los. Von allen Seiten latschten die Leute über die Fahrbahn und Holsbein musste tierisch aufpassen, dass er nicht einen dieser unbekümmerten Idioten plattmachte. Er wollte ein paar Tage in Marseillan-Plage unterkommen. Das Kaff kannte er von einem Zelturlaub mit Kollegen. Fünfzehn oder sechzehn Jahre alt mochte er da gewesen sein; sie hatten eine Woche lang durchgesoffen und sich die Birne weggekifft.

Auf den ersten Blick hatte sich der Ort kaum verändert. Er bestand im Wesentlichen aus einer Hauptstraße, die gesäumt war von Bars, Cafés, No-Name-Kleiderläden und Restaurants mit Pizza und Moules et frites auf der Karte. Er fragte sich, ob die drei oder vier schäbigen Clubs ein wenig außerhalb des Dorfes noch existierten. Im Hinterhof einer dieser Läden hatte er zwischen einem Altglascontainer und übereinandergestapelten leeren Bierfässern seine Unschuld verloren. Die Erinnerung daran war allerdings mehr als nur ein wenig vernebelt. Immerhin konnte er mit Gewissheit sagen, dass er mit einer Frau zusammen gewesen war. Oder zumindest redete er sich das ein. Allerdings fragte er sich noch heute, wie er im Vollsuff überhaupt einen hochgekriegt hatte.

Ob sie ihm nun auf den Fersen waren oder nicht, in dem Gewusel von Touristen war er so gut wie unsichtbar – und deshalb fühlte er sich erst einmal sicher. Nach den letzten Tagen hatte er eine kleine Erholung dringend nötig.

Er bog in eine Nebenstraße ein, in der sich rund ein Dutzend Campingplätze aneinanderreihten. Dabei war er selber überrascht, wie gut er sich noch auskannte. Holsbein wollte sich ein kleines Mobilhome mieten – in der Hochsaison keine einfache Sache. Während er langsam die Straße entlangcruiste, sah er vor den Rezeptionen jedenfalls nur »Complet«-Schilder. Beim zweitletzten Campingplatz stand nichts dergleichen, also parkte er sein Auto am Straßenrand und versuchte sein Glück. Doch die Rezeptionistin, eine ausgemergelte Hippiebraut mit strähnigen rot-blonden Haaren, winkte schon ab, bevor er auch nur einen Ton sagen konnte. »Tut mir leid, wir sind komplett ausgebucht«, nuschelte sie.

»Sie brechen mir das Herz, ich suche schon den ganzen Tag nach einer Unterkunft«, versuchte Holsbein die Mitleidsmasche. »Ich wäre auch mit einer ganz einfachen Bleibe zufrieden.« Jetzt fehlte nur noch eine Schwangere auf einem Esel, dann wäre das hier die Weihnachtsgeschichte, dachte er und grinste in sich hinein.

»Kommen Sie im September wieder«, zeigte sich die Rothaarige unbeeindruckt.

Holsbein machte kehrt und ging zum Auto zurück. Er stieg ein und wollte gerade losfahren, als ihm die Hippiebraut winkend hinterhergerannt kam. Sie schnaufte wie nach einem Tausend-Meter-Lauf.

»Mir ist gerade eingefallen: Eine Möglichkeit gäbe es da schon noch.«

»Und die wäre?«

»Wir haben im hinteren Bereich des Platzes noch ein altes Mobilhome. Das nutzen wir derzeit als Lagerraum, na ja, eigentlich ist es vollgestellt mit Gerümpel und Abfall. Aber wenn Sie das Zeug ein bisschen zur Seite räumen, kriegen Sie bestimmt eines der Schlafzimmer und die Küche frei. Die Toilette funktioniert allerdings nicht, da müssten Sie die Gemeinschaftsanlage benützen.« Sie deutete mit ihrem knochigen Zeigefinger auf ein rostrotes Gebäude. »Ach noch etwas: Haben Sie eine Allergie gegen Schimmel?«

Holsbein schüttelte den Kopf. »Ich nehme das Schmuckstück.«

* * * * *

Aline fand, dass sie mit ihren kakifarbenen Shorts und dem weißen T-Shirt mit Palmenmotiv aussah wie das Klischee einer Touristin. Sie rückte das Baseballcap zurecht und fädelte ihre Zehen in die Flipflops ein. Den Kram hatte sie für ein paar Euro in einem Ramschladen an der Zufahrtsstraße gekauft. Es war gar nicht mal so einfach gewesen, ein hochgeschlossenes T-Shirt zu finden, das ihre Tätowierungen verdeckte. Jetzt musste noch eine richtig uncoole Sonnenbrille her, dann war sie bereit für die Observierung.

Auch wenn sie sich in ihrem Outfit nicht wirklich wohlfühlte, war Aline mit sich und der Welt im Reinen. Der protzige Luxus des Fünfsternehotels amüsierte sie. Und die Bar in der Lobby war wirklich außerordentlich gut bestückt. Sie bestellte einen Gin Tonic mit Gurke und warnte den Barkeeper, ihr bloß nicht den billigen Fusel anzudrehen. Der junge Mann stellte ihr ein Tonicwater aus irgendeiner kleinen südfranzösischen Getränkeabfüllerei hin und daneben eine Flasche Plymouth Navy Strenght. Aline nickte mit Kennermiene, obwohl sie keine Ahnung hatte, was ihr da serviert wurde. Sie wartete, bis das Eis den Drink auf Wohlfühltemperatur runtergekühlt hatte und prostete dann in die Richtung, in der sie die Schweiz vermutete. »Zum Wohl, Herr Camenzind, und freuen Sie sich auf die Spesenrechnung.«

Eine Viertelstunde später kaufte Aline sich im nächstbesten Shop eine riesige Sonnenbrille und suchte dann eine Bar mit gutem Ausblick auf die Straße. »Le Poseidon« hieß das Lokal ihrer Wahl. Wenn Holsbein tatsächlich in dem Kaff war, dann würde er früher oder später hier vorbeikommen, da war sie sich sicher. Sie orderte ein Heineken, schaltete den Laptop ein und funkte mit ihrem Smartphone Holsbeins Handy an. Doch es kam kein Signal zurück. Vor zwei Stunden hatte sie das letzte Mal ein Lebenszeichen erhalten, seither herrschte Totenstille. Theoretisch konnte er schon über alle Berge sein, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er sich in Marseillan-Plage aufhielt. Holsbein war ein Gewohnheitstier, und hier war er bereits einmal als junger Mann gewesen, das wusste sie. Dass die letzten paar Ortungen alle aus dem Bereich der Campingplätze im Westen des Städtchens gekommen waren, stützte ihre Vermutung.

Aline bedauerte, dass es ihr nicht möglich war, Holsbein ganz einfach mittels GPS-Tracking auf den Meter genau zu lokalisieren. Die Treffsicherheit der Ortung hing vielmehr vom Standort der Mobilfunkantennen ab. Peilte jemand mit dem passenden Zugangscode das Handy an, sandte dieses sofort einen Impuls aus, um die Antennen im Empfangsbereich zu registrieren und schickte diese Daten dann als Code verschlüsselt in einer SMS zurück. Eine Software auf dem Laptop entschlüsselte die Zahlen- und Buchstabenreihe und lieferte die errechnete Position auf einer Karte. Bei leistungsstarken, weit auseinanderliegenden Antennen in ländlichen Regionen konnte die Position in einem Suchradius von bis zu fünf Kilometern liegen. In Städten hingegen, wo es mehr kleine Anlagen mit geringer Leistung gab, war im Idealfall eine Ortung mit einer Genauigkeit von zweihundert bis dreihundert Metern möglich.

Das Spezielle am System war, dass es nicht an eine Handynummer oder die SIM-Karte gebunden war, sondern über einen Trojaner funktionierte, der auf dem Smartphone der zu überwachenden Person installiert werden musste. Das Ganze lief über das alte, aber zuverlässige GSM-Netz und funktionierte sogar, wenn der Handybesitzer die mobile Datennutzung ausgeschaltet hatte, da der Trojaner diese Sperre überlistete. Die Malware war schon ziemlich in die Jahre gekommen und lieferte deshalb auf Smartphones der neusten Generation nur unzuverlässige Daten. In Holsbeins Fall war das kein Problem, denn der trug noch immer sein uraltes Galaxy mit sich herum. Um für die Zukunft gerüstet zu sein, hätte Aline dennoch gerne eine neuere Version des Trojaners zur Verfügung gehabt. Aber ihr Studienkollege, der das Programm vor einigen Jahren für seine Masterarbeit entwickelt hatte, war irgendwann wie vom Erdboden verschwunden gewesen. Einmal noch hatte er sie vor der Redaktion abgefangen und wirres Zeug über einen Van mit abgedunkelten Scheiben vor seiner Haustüre gelabert. Und von Männern des militärischen Geheimdienstes in schwarzen Anzügen, die im Supermarkt oder im Bus plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten und ihn verfolgten. Sie hatte ihm kein Wort geglaubt und den synthetischen Drogenscheiß, den er sich die ganze Zeit über reinpfiff, für den Verfolgungswahn verantwortlich gemacht.

* * * * *

Holsbein hatte gar nicht gemerkt, dass sein Handyakku leer war. Wahrscheinlich mal wieder eine Spontanentladung, dachte er. Irgendwann würde er sich ein neues Smartphone kaufen müssen. Aber das war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Der Schweizer Stecker des Ladegeräts wollte nicht so recht in die Euro-Steckdose passen, aber mit ein wenig Gewalt klappte es schließlich.

Das Mobilhome war ganz akzeptabel. Er hatte den ganzen Schrott in einem der zwei Schlafzimmer aufeinandergestapelt: Aufgerollte Weidezäune, mehrere leere Farbkübel, Fensterläden, irgendwelche Bretter, Dachpappe, ein alter Gasherd, der aus den Sechzigerjahren stammen musste, und ein paar Quadratkilometer Plastikfolie. In der kleinen Wohnküche und im zweiten Schlafzimmer ließ es sich aushalten, auch wenn der Schimmelgeruch wirklich recht penetrant war. Das Mobilhome war versteckt hinter einer hölzernen Sichtschutzwand, von der die weiße Farbe bis auf ein paar Flecken abgeblättert war. Die Hippiefrau hatte ihm für die Bruchbude 200 Euro pro Woche abknöpfen wollen, aber Holsbein konnte sie auf 150 runterhandeln. Für das Geld gab es sogar noch ein sauberes Bettlaken und eine Wolldecke. Einen Ausweis wollte sie nicht sehen, dafür beharrte sie auf Vorauszahlung der Miete in bar. Eine Quittung bekam er nicht.

Inzwischen hatte sich die Sonne verabschiedet. Doch die Hitze war trotz des andauernden Windes noch immer beträchtlich. Holsbein zog die Badehose an, kramte ein Badetuch aus dem Koffer und wunderte sich darüber, an was er zu Hause in Amsheim während der fünfminütigen Pack-Aktion mit der Angst vor den Bullen im Nacken alles gedacht hatte. Er prüfte noch einmal, ob der abgewetzte PVC-Bodenbelag auch wirklich eben war – und nickte zufrieden. Kein Schwein würde merken, dass da unter dem Kühlschrank 9000 Euro lagen.

Am Strand waren nicht mehr viele Leute anzutreffen. Ein älteres Pärchen spazierte mit hochgekrempelten Hosenbeinen barfuß durch den nassen Sand, ein Kitesurfer im Neoprenanzug packte seine Ausrüstung zusammen und etwa zweihundert Meter weiter hinten ließen ein paar Kinder Drachen steigen. Holsbein setzte sich in den noch warmen Sand und wartete, bis der Surfer und die zwei Alten außer Sichtweite waren. Dann streifte er die Badehose ab und sprintete splitternackt ins Wasser. Es war saukalt wie an den meisten Tagen in diesem Küstenbereich. Der Tramontana blies das ganze warme Oberflächenwasser hinaus auf das offene Meer.

»Ja super«, knurrte er, als er sah, wie es sich eine Gruppe Teenager mit Bier- und Wodkaflaschen direkt neben seinem Badetuch bequem machte. Nicht dass er ein Problem damit gehabt hätte, nackt vor fremden Menschen herumzulaufen. Aber mit einem halb eingefrorenen Schrumpelschwänzchen würde er bei der Damenwelt keinen guten Eindruck hinterlassen.

* * * * *

Nach sieben Flaschen Bier auf nüchternen Magen konnte Aline beim besten Willen nicht mehr von sich behaupten, ihre Umwelt besonders scharf wahrzunehmen. Vor allem die Shots, die der Barkeeper in immer kürzeren Abständen vorbeibrachte, machten ihr langsam zu schaffen. Und die beiden Typen am Nebentisch gingen ihr auf die Nerven. Am Anfang waren die zwei Belgier noch anständig gewesen. Sie hatte ein wenig mit ihnen geschäkert, aber dann wurden sie immer anhänglicher und suchten Körperkontakt. Sie hatte sie ein paarmal zusammengestaucht und war langsam richtig sauer. Wenn noch einmal eine Hand auf ihrem Oberschenkel landete, dann würde was passieren, hatte sie den beiden klargemacht.

Aline rief den Barkeeper zu sich, sie wollte zahlen. Den Belgiern gefiel das gar nicht. Sie bestellten noch drei Bier und versuchten sie zum Bleiben zu überreden. Und dann war sie da, die Hand, knapp oberhalb des Knies. Ihre Reaktion war mehr ein Reflex als eine bewusste Handlung, so schnell griff sie dem Typen an den Nacken und knallte seinen Kopf mit voller Wucht auf den Aluminiumtisch. Trotz des dumpfen Knalls und der scheppernden Bierflaschen war das Knacken der Nase deutlich zu hören. Der Belgier war völlig perplex und schaute benommen zu, wie das Blut auf sein hellblaues Poloshirt spritzte. Sein Freund war schon aufgesprungen und wollte auf sie losgehen. Doch der Barkeeper war schneller und hielt ihn mit einem routinierten Hebelgriff fest. Es sah lächerlich aus, wie er sich herauszuwinden versuchte. Aline steckte dem Barkeeper 50 Euro in die Jeans, packte den Laptop in ihre Umhängetasche und machte sich auf den Weg ins Hotel. Der Tumult hatte die Aufmerksamkeit der Touristen erweckt, die nun im Halbkreis um die Bar standen. Sie hofften auf noch mehr Action.

»Du verdammte Fotze«, kreischte der Belgier im Hebelgriff, »ich werde dich kriegen, und dann bist du dran!«

Aline drehte sich um und ging langsam auf den Schreihals zu, der ihr mit hochrotem Kopf noch weitere Beleidigungen an den Kopf warf. Sie trat ihm ohne Vorwarnung in die Eier. Er sackte augenblicklich zusammen und wand sich röchelnd auf dem Boden. »Na du Wichser, wie fühlt sich das an?«, brüllte sie das Häufchen Elend zu ihren Füßen an. »Willst du noch einen Nachschlag?«

Dann trat sie erneut zu.


Die Flucht des Feuerteufels

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