Читать книгу Terapolis - Tom Dekker - Страница 3

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I

Die Stadt war noch nicht zur Ruhe gekommen. Das Stampfen und Dröhnen des Verkehrs auf den Hauptverkehrsadern drang bis in die hintersten Winkel und Gassen auch der heruntergekommenen Viertel vor, in die sich nie eine Dampfkutsche verirrte. Der allgegenwärtige Dunst, der sämtliche Gegenden der Stadt durchwaberte, ließ im Zwielicht des Abends die Menschen, die durch die Straßen und Gassen hasteten, nur als gespenstische Schatten erahnen.

Gäbe es eine Rangliste der heruntergekommensten Viertel der City, hätte die Gegend, durch die sich der alte Nick gerade bewegte, eine realistische Chance auf einen Podestplatz gehabt. Vorsichtig tastete der alte Mann sich mit den in heruntergetretenen Stiefeln steckenden Füßen durch die unbeleuchteten Gassen. Rechts und links drängten sich dicht an dicht fünfgeschossige Ziegelhäuser aneinander, so als müssten sie sich gegenseitig stützen. Die Straßen und Gassen, in die schon bei Tage nur wenig Licht fiel, waren nicht an das städtische System der Gasbeleuchtung angeschlossen, so dass nur die sich gelegentlich durch Fensterläden stehlenden Lichtstrahlen eines Kamins oder einer anbarischen Birne hier und da helle Flecken auf den Gehsteig zauberten. Was Nick in diesen vom Dunst der Stadt umhüllten Lichtpunkten erkennen konnte, ließ ihn wenig Gutes für die großen Bereiche des Weges, die bereits in völliger Dunkelheit lagen, erahnen.

Aufmerksam lauschte Nick in die Nacht, doch es drangen keine Geräusche anderer Lebewesen an sein Ohr. Er spürte sein Herz vor Aufregung rasen. Er wäre nicht der erste, der in die Schemen ging und nie wieder gesehen ward. Besser, er beeilte sich, solange niemand sonst auf den Straßen unterwegs war. Nick beschleunigte seine Schritte. Verdammt! Er sollte sich lieber auf seinen Weg konzentrieren, als nach Schatten zu suchen. Langsam hob er den rechten Fuß, der soeben in etwas weiches, glibberiges getreten war, und kratzte ihn mehr recht als schlecht an der Kante einer Rinne ab. Ein Geruch, der, so unglaublich das auch scheinen mochte, noch übler war als der ohnehin allgegenwärtige Gestank von Unrat und Fäkalien, der die Schemen tagein, tagaus durchzog, drang von unten her an seine Nase. Nick zuckte unbeholfen mit den Schultern. Das war jetzt nicht zu ändern. Nach einem weiteren Blick über die Schulter setzte er seinen Weg vorsichtig fort. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!

Nach einigen Metern blieb er stehen und wandte sich um. Beinahe hätte er die schmale Gasse übersehen, die ihm der Junge beschrieben hatte. Er hatte sie in dem von Dunstschleiern durchwobenen Gewirr aus Schwarz- und Grautönen aus dem Augenwinkel heraus nur daran erkannt, dass sie eine Spur schwärzer erschien als die sie rechts und links flankierenden Hauswände. Nick lauschte in die Gasse hinein und sah sich erneut um. Immer noch nichts. Wüsste er es nicht besser, er hätte angenommen, die Bewohner der Schemen wären durch die Bank friedfertige, brave Bürger, die ihren Feierabend mit der Familie vor dem heimischen Ofen verbrachten. Natürlich gab es auch so etwas, sogar hier, in diesem Vorhof der Hölle, aber es gab auch die anderen. Das Viertel hatte sich seinen Namen redlich verdient.

Nick machte einen schnellen Schritt in die Gasse hinein. Vor neugierigen Blicken sollte er nun verborgen sein. Wenn er nur leise genug ging, würde ihn in dieser Finsternis, in der man die eigene Hand vor Augen nicht sehen konnte, niemand bemerken. Die Häuserwände warfen jedes Geräusch wie ein Echoverstärker lauthals in die Gasse zurück, aber Nick war nicht zum ersten Mal in stummer Mission unterwegs. Er wusste, wie er sich verhalten musste, um lautlos voranzukommen.

Ein Geräusch schräg über ihm ließ ihn zusammenzucken. In eine Mauernische gedrängt, spähte er nach oben. Hinter einem Fensterladen drang Babygeschrei auf die Straße. Die Mutter versuchte, beruhigend auf das schreiende Kind einzureden. Ein Lächeln stahl sich auf Nicks Gesicht. Diese Geräuschkulisse sollte es ihm leichter machen, unbemerkt voranzukommen. Er schob sich zurück in die schwarze Gasse und hastete, soweit es ihm die Sichtverhältnisse erlaubten, eine Hand an der rechten Hauswand entlangstreifend voran.

Plötzlich hielt er inne. Das Kindergeschrei hatte aufgehört. Wichtiger aber war das Gefühl an seiner rechten Hand. Deutlich hatte er das metallene Abflussrohr erspürt, das hier die Hauswand herunterlief. Es musste das einzige Abflussrohr in der ganzen Gasse sein. Seine Hand tastete suchend an dem Rohr entlang, bis sie einen kleinen versteckten Vorsprung auf dem Metall entdeckte. Er drückte auf die Erhebung und blieb in angespannter Erwartung stehen.

Nicks Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Kein Geräusch drang an seine aufmerksamen Ohren. Umso mehr schrak er zusammen, als sich plötzlich eine starke Pranke auf seinen Mund presste und drei kräftige Hände ihn zur Seite zogen. Ein Stück Stoff wurde ihm um die Augen gebunden. Nicht, dass er in dieser sternenlosen, vernebelten Nacht dadurch weniger gesehen hätte als zuvor. Aber der Junge hatte ihm erklärt, dass es so ablaufen würde, also ließ er die Maßnahmen ohne Gegenwehr über sich ergehen. Er wurde eingehend abgetastet und danach einige Male um die eigene Achse gedreht, so dass er auch noch den letzten Rest an Orientierung, den er sich in den Schemen bewahrt hatte, verlor.

Einer der beiden Männer, Nick war sich sicher, dass die großen, starken Hände, die ihn gepackt hielten, Männern gehören mussten, bohrte ihm seinen Finger sanft aber bestimmt in den Rücken und Nicks Füße setzten sich automatisch in Bewegung. Mehrmals bogen sie nach rechts oder links ab. Die Straßengeräusche wurden immer leiser, was Nick vermuten ließ, dass es noch weiter in die Elendsviertel hinein ging. Einmal spürte er einen starken Luftzug von links, ein andermal roch es nach verbranntem Rattenfleisch und billigem Fusel, vielleicht ein Sammelplatz von Streunern, überlegte Nick. Die meiste Zeit über aber waren nur Stille und die beiden schweigsamen Männer seine Begleiter.

Nick konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie gelaufen waren, als er plötzlich am Arm zurückgezogen wurde, eine deutlich Aufforderung, stehenzubleiben. Er hörte, wie ein Schlüssel in ein Schloss geschoben wurde und dieses mit einem leisen Knacken aufsprang. Dann drang das unscheinbare Geräusch einer sich lautlos öffnenden Tür an seine Ohren, ein Geräusch, das man nur wahrnehmen konnte, wenn man, so wie Nick notgedrungen, alle anderen Sinne ausgeschaltet hatte. Er wurde nach vorn geschoben und kurz danach fiel hinter ihm die Pforte ins Schloss.

Das erste, was Nick sah, als ihm die Augenbinde abgenommen wurde, war ein gleißendes Licht, das ihm fast die Netzhaut versengte. Er kniff die Augen zusammen und hob schützend eine Hand vor das Gesicht. Allmählich ließen die flackernden Flammen vor dem Inneren seiner Augen an Intensität nach und er blinzelte in den Raum, der sich als ein von einer Kerze erleuchteter Hausflur herausstellte.

„Mister Fingrey erwartet dich.“, sagte einer seiner beiden Begleiter mit tiefer Stimme in seinem Rücken. Nick verspürte den Drang, sich umzudrehen, vermutete aber, dass es für seine Gesundheit und Sicherheit besser wäre, die Gesichter der beiden nicht zu kennen. Also schritt er mit möglichst gelassener Haltung auf die einzige Tür zu, die am Ende des Hausflurs zu sehen war.

Er drückte die Klinke herunter und schob die Tür so weit auf, dass er hindurchschlüpfen konnte. Nick zuckte kurz zusammen, als sie hinter ihm zugezogen und verschlossen wurde. Die beiden waren wirklich gut, stellte er anerkennend fest.

Der Raum, in dem er stand, war geschmackvoll, wenn auch spartanisch eingerichtet. Die Pflanzenranken auf den bordeauxroten Brokattapeten schienen sich im Schein der Kerzen des Kornleuchters hin und her zu bewegen. Auf einem Sekretär lagen mehrere Stapel mit Papieren. Die Differenzmaschine auf dem Beistelltisch direkt daneben zeugte davon, dass dieser Raum zum Arbeiten gedacht war. Beherrscht wurde er aber von einem ovalen, mit Ornamenten reich verzierten Teakholztisch, hinter dem eine riesige grüne Chaiselongue stand. Darauf saßen zwei Männer, die dem Neuankömmling neugierige Blicke zuwarfen. Die drei Kerzen in dem geschwungenen Silberleuchter auf dem Tisch warfen unruhige Schatten auf ihre Gesichter. Das sich in den Augen der beiden Männer spiegelnde Interesse wich abrupt einer deutlichen Abneigung und Nervosität, als sie Nicks heruntergekommener Erscheinung gewahr wurden.

„Sind Sie sicher, dass es eine gute Idee war, ihn hierher zu bringen, Fingrey?“, fragte der eine, hager, elegant gekleidet, mit dem Blick und der überheblichen stocksteifen Körperhaltung eines Angestellten im Dienste der City.

„Angus hat recht, Jesua. Woher wissen wir, dass wir ihm trauen können?“, fragte der zweite Mann. Er war wesentlich kleiner als der Mann namens Angus. Sein korpulenter Körper zeugte davon, dass er wenig Not zu leiden hatte, ebenso seine Brokatweste und die teuren Tweedhosen. Sein Blick wanderte zwischen Nick und einem Mann, der offenbar in einem der beiden grünen Ohrensessel mit dem Rücken zu Nick saß, hin und her.

„Glaubt mir, Angus, Patty. Ich vertraue Nick voll und ganz. Gäbe es den kleinsten Zweifel an seiner Loyalität, hätte ich ihn heute Abend nicht hierher gebeten.“ Eine schwarze Hand erschien neben dem Sessel und winkte energisch. „Kommen Sie näher, Nick! Gesellen Sie sich doch zu uns.“

Auf dem Weg zum Tisch nahm Nick die vergilbte Melone ab und zog seine löchrigen Handschuhe aus. Er verbeugte sich knapp. „Das ist der alte Nick. Diese beiden Herren sind Angus Lineman“ - Nick hatte diesen Namen schon einmal gehört, der Hagere war also tatsächlich Beamter im Ministerium für außergewöhnliche Angelegenheiten - „und Patty Song.“, stellte Jesua Fingrey, der die Unterredung einberufen hatte, die Herren einander vor. Auch Patty, einer der reichsten Unternehmer der City, war Nick vom Namen her ein Begriff. Dennoch war es das erste Mal, dass er beiden leibhaftig gegenüber stand. Er nickte kurz und ließ sich in dem ihm angebotenen zweiten Ohrensessel nieder. Lineman rümpfte die Nase, als sich Nick mitsamt des von seinem Schuh ausgehenden Geruchs ihm gegenüber niedergelassen hatte.

„Wir sprachen gerade über die anstehenden Gouverneurswahlen in der City.“, setzte Fingrey Nick ins Bild. „Wir sind uns einig, dass es für uns alle von Nachteil wäre, wenn Collin Rand tatsächlich den Posten übernehmen würde.“

„Was aber wohl so kommen wird, da es bisher keinen weiteren ernsthaften Kandidaten gibt.“, warf Lineman hitzig ein.

„Genau.“, stimmte Patty Song ihm zu. „Und wo soll der auch herkommen? Rand kontrolliert mit seinem Mob die Straßen und verbreitet Angst und Schrecken. Es würde mich nicht wundern, wenn an den Gerüchten etwas dran ist.“

Nick strich sich eine Strähne seiner grauen, fettigen Haare aus dem Gesicht und schaute aufmerksam von einem der Männer zum nächsten. Er war sich bewusst, dass Song und Lineman ihm misstrauten. Wollten sie ihm eine Falle stellen? Auch Fingrey, auf dem sein Blick einen Moment länger geruht hatte, konnte er nur schwer einschätzen. Warum hatte er den Jungen zu ihm geschickt und ihn hierher bestellt? Diese Versammlung ergab für ihn keinen Sinn. Nicks Blick wanderte zurück zu Song. Das Gespräch war zum Erliegen gekommen. Das Knistern des Kaminfeuers wirkte unnatürlich laut und das Flackern der Gaslampen ließ die Schatten an den Wänden gespenstisch tanzen. „Welche Gerüchte?“, fragte Nick in die kurze Stille hinein und versuchte dabei, so unwissend wie möglich zu erscheinen.

„Die Gerüchte, dass Rand etwas mit dem Tod Vincent Greystones zu tun hat.“, platzte es aus Lineman heraus, bevor er den warnenden Blick Songs bemerkte.

„Soweit ich weiß, wurde Greystone tot in seinem Bett aufgefunden.“, erwiderte Nick gelassen. Er kannte die Gerüchte, auch jene, die seinen Namen in Verbindung mit dem Tod des Gouverneurs brachten, aber er wollte auf dieses Spiel nicht eingehen und seinerseits lieber versuchen herauszubekommen, wie viel die anderen von der Sache wussten. „Ein Mann seines hohen Alters kann schon mal im Schlaf versterben.“, setzte er halb scherzhaft hinzu.

„Dennoch ist es eigenartig, dass es genau am Vorabend des Tages geschah, an dem Greystone eine lang angekündigte Rede halten wollte, in der es wohl auch um eine mögliche Hochzeit seiner einzigen Tochter gehen sollte. Meint Ihr nicht?“, mischte sich Fingrey in das Gespräch ein.

„Und es liegt ja wohl auf der Hand, dass Greystones zukünftiger Schwiegersohn von dessen Beliebtheit profitiert hätte und wahrscheinlich der nächste Gouverneur geworden wäre.“, spann Song den Faden weiter.

„Was auch immer noch der Fall sein könnte, würde nicht die unbedeutende Tatsache, dass Amelia Greystone seit der Todesnacht ihres Vaters spurlos verschwunden ist, einer solchen Entwicklung im Wege stehen.“, setzte Lineman hinzu. „Das Ministerium ist völlig ratlos.“

„Vielleicht hat sie selbst mit dem Mord zu tun, weil sie sich nicht mit einem von ihrem Vater ausgesuchten Emporkömmling vermählen wollte und ist mit ihrem Liebhaber durchgebrannt?“, warf Nick, selbst für seinen Geschmack eine Spur zu gehässig, ein. „Ich verstehe nicht, dass alle Welt nur Collin Rand für den Tod des Gouverneurs verantwortlich macht.“

„Weil er der größte Nutznießer ist, verdammt noch mal!“, donnerte Song und hieb mit der Faust auf die Chaiselongue. „Nicht nur, dass für ihn der Weg zum Gouverneursposten jetzt geebnet ist, durch den plötzlichen Tod des Gouverneurs konnte er auch verhindern, dass das Gesetz zur Begrenzung der finanziellen Abhängigkeit von Privatleuten und damit des Klientelwesens erlassen wurde, was seine Kettenhunde endlich an die Leine genommen hätte. Jetzt hat er freie Hand und gnade uns Gott, wenn er erst Gouverneur ist.“

Lineman nickte bedächtig. „Er ist dabei, ein Überwachungsregime zu errichten, von dem sogar der Doge in der Terapolis nur träumen kann.“

„Nichts gegen den Dogen.“, warf Song mit einem besorgten Blick in Richtung Nick, der auch den anderen beiden nicht entging, ein. „Aber wenn Rand erst uneingeschränkte Macht hat, wird er uns andere der Reihe nach zur Strecke bringen, und sich alles, was in der City an Wert ist, unter den Nagel reißen. Und dass er nicht vor Morden zurückschreckt, wissen wir seit der Sache mit Heyworth ohne jeden Zweifel.“

Dem musste Nick zustimmen. „Ja, das war in der Tat eine üble Sauerei. Andererseits glaube ich kaum, dass wir besser dran wären, wenn damals Rand von Heyworths Männern mit einer Dampfwalze überrollt worden wäre.“

Lineman schnaubte verächtlich, Song machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das mag stimmen.“, mischte sich Fingrey, der sich bisher vornehm zurückgehalten hatte, erneut in die Diskussion ein. „Für solche Spekulationen ist jetzt aber nicht der geeignete Zeitpunkt.“, gab er bedächtig, aber entschieden, den Rahmen der Unterredung vor. „Wir sind uns zumindest einig darüber, dass Collin Rand eine Gefahr für alle rechtschaffenen Menschen in dieser Stadt darstellt und unter keinen Umständen Gouverneur werden darf.“ Bei diesen Worten blickte er mit ernstem Ausdruck in die Gesichter der drei Männer. Alle drei erwiderten seinen Blick offen und nickten. „Dann sollten wir unsere Kräfte darauf konzentrieren, wie wir verhindern können, dass er die Wahl gewinnt.“

Eine angespannte Stille entstand, während die Männer jeder ihren eigenen Gedanken nachhingen und Pläne und Strategien abwogen.

„Wir werden auf jeden Fall kaum nahe genug an ihn herankommen, um ihn zu beseitigen.“, setzte Song als erster zu sprechen an.

Lineman schüttelte den Kopf. „Das dürfte in der Tat ausgeschlossen sein, so gut, wie er ständig bewacht wird. Bei öffentlichen Auftritten ist er von einem dreifachen Ring aus Leibwächtern umgeben. Da bräuchten wir schon eine kleine Armee, um gegen diese Truppe anzukommen.“

„Das würde die Probleme auch nicht lösen und nur in noch mehr Blutvergießen münden.“, schaltete sich Nick ein. „Bedenken Sie, Rand hat mächtige Verbündete und eine ganze Menge Schlägertrupps überall in der City.“

Lineman nickte zerknirscht. „Die Akte darüber im Ministerium verschlingt allein mehrere Regalmeter.“

„Aber wir können ihn doch nicht einfach so mit allem durchkommen lassen!“, echauffierte sich Song. „Vielleicht sollten wir tatsächlich in Erwägung ziehen, den Dogen um Hilfe zu bitten.“, grunzte er und blickte Nick dabei herausfordernd an.

„Um was zu tun?“, fragte dieser mit zynischem Unterton. Er fragte sich besorgt, wieviel Song tatsächlich über ihn wusste. „Er hat alle Hände voll in der Terapolis zu tun. Die inneren Schwierigkeiten einer City berühren ihn nicht, so lange die Steuern und Abgaben ordnungsgemäß fließen. Und daran wird nicht einmal Rand rütteln, sollte er Gouverneur werden.“

„Noch nicht jedenfalls.“, stimmte ihm Lineman zu.

„Dann bleibt uns nur, unsere eigenen Truppen in der Stadt zu verstärken und so wie Rand Kettenhunde an uns zu binden.“, stellte Song resigniert fest. „In der richtigen Gegend dafür sind wir hier ja schon.“, setzte er naserümpfend in Richtung Fingrey gewandt hinzu.

Dieser räusperte sich verlegen. „Das würde nur zu Blutvergießen und einem Bürgerkrieg in der City führen. Das sollten wir noch nicht riskieren. Ich sehe nur einen Ausweg.“

Alle starrten gebannt auf ihren Gastgeber. Die Stille im Raum war fast körperlich greifbar. Die drei Männer warteten gespannt, was Jesua Fingrey ihnen gleich eröffnen würde. Sie schienen endlich zum eigentlichen Sinn ihrer Zusammenkunft gekommen zu sein.

Fingrey atmete einmal tief ein. „Ich werde gegen Rand um das Amt des Gouverneurs kandidieren.“, verlautbarte er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Lineman und Song klappte der Unterkiefer herunter. Mit offenen Mündern starrten sie Fingrey an, so als hätte er ihnen gerade verkündet, dass er all seine Fabriken verkauft und das Geld unter den Armen der Stadt verteilt hätte.

„Jetzt schauen sie nicht so, meine Herren! Es ist die einzige Möglichkeit.“, stellte dieser noch einmal kategorisch fest.

„Aber es ist viel zu gefährlich! Rand wird niemals zulassen, dass ein Kandidat mit wirklichen Aussichten auf den Wahlsieg gegen ihn antritt.“, platzte es aus Song heraus.

„In der Tat.“, stimmte Lineman ihm zu. „Und Sie haben gute Chancen, Jesua. Sie sind beliebt bei den einfachen Leuten, haben gute Kontakte in der feinen Gesellschaft und sind in der ganzen Stadt als hart arbeitender, ehrlicher und vertrauenswürdiger Mann bekannt. Sie sind eine echte Gefahr für Rand.“

„Dem kann ich nur zustimmen.“ Nick nickte trocken.

„Und genau deshalb ist es viel zu gefährlich!“, beharrte Patty Song auf seinem Standpunkt. „Wir haben nicht genügend Leute, um Sie rund um die Uhr zu beschützen. Es muss einen anderen Weg geben. Sie dürfen unter keinen Umständen an der Wahl teilnehmen.“

„Ich fürchte, dafür ist es bereits zu spät.“, antwortete Fingrey ganz im ruhigen Tonfall des Staatsmanns, der er zu werden gedachte. „Ich habe bereits vor unserer Unterredung die erforderlichen Unterlagen fertiggestellt und durch einen vertrauenswürdigen Boten bei den Wahlbehörden abgeben lassen.“

„Damit gibt es kein Zurück mehr.“, stellt Nick fest und lächelte versonnen vor sich hin.

„So ist es.“, stimmte Fingrey ihm zu. „Es stellt sich also nicht mehr die Frage des Ob, sondern nur noch die Frage des Wie.“

Patty Song betrachtete seinen Gegenüber mit besorgter Miene. Dann seufzte er lautstark. „Wenn das mal gut geht. Auf meine Unterstützung können Sie zählen.“

„Auf meine auch.“, pflichtete ihm Lineman bei. „Ich werde meine vertrauenswürdigen Kontakte im Ministerium einschalten, damit wir möglichst effektiv gegen Rand vorgehen und vor allem Sie schützen können.“

„Vielen Dank. Tun Sie das.“, antwortete Fingrey sichtlich erleichtert. „Aber warten Sie noch bis morgen Mittag. Dann wird die Wahlkommission meine Kandidatur offiziell bekannt geben. Vorher sollte niemand von dieser Unterredung und meinen Plänen erfahren.“ Bei diesen Worten schaute er ernst von einem der drei Männer zum nächsten. „Unsere Chance, Rand zu stoppen, hängt davon ab, dass er nicht zu zeitig gewarnt ist.“

II

„Greg, heb deinen verdammten Hintern höher! Du siehst aus wie ein ausgelutschter Wasserschlauch!“

Greg streckte mit größter Anstrengung seinen Hintern nach oben und bog den Körper zurück in einen anständigen Liegestütz. Aus vor Schweiß brennenden Augen warf er Josh einen bösen Blick zu. Unter dessen schwarzer Haut, die gespenstisch im Licht der Feuerschale glänzte, zeichneten sich stahlharte Muskeln ab. Seine Tuchhose und das Baumwollhemd waren bestimmt noch trocken, während Greg, wie jeden Abend, die Kleidung schweißgetränkt am Körper klebte und kalt gegen die enorme Hitze, die sich aus seinem Körper heraus Bahn brach, ankämpfte.

Josh grinste unbekümmert zurück. „Noch zehn. Aber ordentlich bis ganz nach unten.“, brüllte er genüsslich und ging mit gutem Beispiel voran.

Greg biss sich auf die Lippen und machte sich daran, irgendwie die nächsten zehn Liegestütze zu überstehen. Ohne Training kein Essen, so lautete ihre Regel. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Philt, Peanut und Suri ebenso große Schwierigkeiten hatten, sich wieder nach oben zu drücken, aber er war viel zu erschöpft, um daraus irgendeine Art von Genugtuung ziehen zu können. Stoisch blickte er auf den Schweißfleck, der sich im Sand unter seiner Stirn gebildet hatte, und zählte in Gedanken rückwärts die letzten Liegestütze mit. ,Noch drei.' Er drückte die Schultern nach oben und achtete darauf, den Hintern nicht wieder hängen zu lassen. Oben angekommen, holte er mehrmals Luft. Josh war bereits fertig und saß so entspannt im Sand, als wäre er gerade von einem Nachmittagsnickerchen aufgestanden. Greg spürte seinen strengen Blick auf sich ruhen. ,Noch zwei.' Erneut senkte er den Körper ab. Kurz bevor der Bauch den staubigen Boden berührte, drückte er sich wieder nach oben. Er spürte das Ziehen in Schultern, Bauch, Rücken und Po. Wie leicht wäre es jetzt, einfach die Knie zu beugen oder den Bauch hängen zu lassen, um erst einmal die Schultern nach oben zu bekommen. Aber das würde Josh nicht gelten lassen. Greg biss die Zähne zusammen und schob mit einer gewaltigen Kraftanstrengung den Körper nach oben. ,Nur noch einer.', dachte er bei sich. ,Bringen wir es hinter uns!' Schon beim Absenken spannte er alle Muskeln an, so dass sich sein Körper wie ein hartes, verknöchertes Brett anfühlte. Neben ihm ließ sich der kleine drahtige Philt keuchend auf den Boden fallen. Verdammt! Er war schon wieder langsamer gewesen. Mit letzter Willenskraft ignorierte Greg die Schmerzen in seinem Körper und kämpfte gegen den unbändigen Drang an, die Arme einfach einzuknicken und mit dem Gesicht nach unten liegen zu bleiben. Stattdessen spannte er die zum Zerreißen gespannten Muskeln der Oberarme ein letztes Mal an, stieß einen markerschütternden Schrei aus und stemmte sich nach oben. Geschafft! Endlich ließ er sich auf den Bauch fallen und rang in kurzen, keuchenden Atemzügen nach Luft. Peanut und Suri kämpften sich noch durch ihre letzten Liegestütze. Wenigstens war er seit einiger Zeit nicht mehr letzter, aber wer verglich sich schon mit Mädchen? Das war keine große Leistung.

Als Peanut und Suri endlich keuchend im Sand saßen, klatschte Josh in die Hände. „Na, das ging doch schon ganz flott. Jetzt noch drei Runden um den Hof gerannt und schon sind wir fertig.“, sagte er mit fröhlicher Stimme.

„Warum musst du sie immer so quälen? Du siehst doch, dass sie völlig erschöpft sind.“, empörte sich plötzlich aus dem Halbdunkel der verfallenen Toreinfahrt eine Mädchenstimme.

„War doch nur ein Scherz, Natty“, kicherte Josh und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne. „Denkst du, ich könnte mit dem Ding ernsthaft über den Hof rennen?“, lachte er und zeigte auf die einfache hölzerne Prothese, die statt eines Unterschenkels aus seiner Tuchhose schaute. „Wir sind fertig für heute. Guter Einsatz von allen. Greg, du entwickelst dich prächtig.“, richtete er noch ein paar Worte der Anerkennung an den Jungen. Dessen Herz begann zu rasen. Er spürte, wie die Schlagader am Hals hämmerte und ihm die Röte ins Gesicht schoss. Josh hatte ihn nach dem Training noch nie gelobt.

„Außerdem wisst ihr selbst, dass es notwendig ist. Nur, wenn wir in guter körperlicher Verfassung sind, können wir in der City überleben. Es haben nicht alle so leicht wie du, Natty.“, erklärte er, wie fast jeden Abend nach den schweißtreibenden Übungseinheiten, warum es so wichtig war, dass sie sich dieser Tortour unterzogen.

„Sie hat sich das nicht ausgesucht, Josh.“, sprang Peanut Natty zur Seite.

„Schon gut, schon gut!“ Josh hob beschwichtigend die Hände. „Es war keine Anklage. Aber es ist nun einmal so, dass wir hier jeden Tag damit rechen müssen, um unser Leben zu kämpfen. Schaut euch doch mal um!“ Mit seinen Händen zeigte er auf das halb verfallene Lagerhaus, das ihr Zuhause darstellte, und die bröckelige übermannshohe Mauer, die den kleinen Innenhof umfasste, in dem die kleine Gemeinschaft für gewöhnlich den Großteil des Abends verbrachte. „Das hier ist alles, was wir haben.“

„Ich find's toll.“, sagte Philt und wand seinen zerschlissenen Statson-Hut in den Händen. „Es gibt nicht viele Gemeinschaften, die so eine tolle Hütte haben, das kann ich dir sagen.“

Josh strubbelte ihm mit der Linken durch seine braunen zerzausten Haare. „Das weiß ich doch, Kleiner. Aber genau deshalb müssen wir in der Lage sein, unser Zuhause zur Not zu verteidigen. Und wenn du jeden Tag draußen unterwegs bist und Sachen suchst, ist es sicher auch von Vorteil, wenn du stark bist und auch mal schnell weglaufen kannst, oder?“

Philt schaute mit seinen großen grünen Augen zu ihm auf und nickte.

„Trotzdem musst du nicht so auf Natty herumhacken.“, schaltete sich Peanut wieder in das Gespräch ein.

„Ich hacke nicht auf ihr herum.“, dozierte Josh, „Ich erkläre ihr nur, warum wir uns jeden Abend schinden müssen, und sie nicht. Am Ende des Tages schlafen wir im Strohlager hier in unserem halb verfallenen Häuschen, während sie sich in ihrem warmen Bett in der Villa ihrer Eltern einkuschelt. Trotzdem würde dir ein bisschen mehr körperliche Ertüchtigung auch nicht schaden, schließlich ist es für ein Mädchen in deinem Aufzug nicht ganz ungefährlich, allein durch die Stadt zu laufen.“, wandte er sich direkt an Natty und deutete auf ihren weißen breitkrempigen Hut und den mit bunten Stickereien gesäumten Wollmantel, unter dem ein hellblaues Korsettkleid und braune Lederstiefeletten hervorlugten. „Ich kenne einige Leute, die dafür töten würden.“

„Ich kann schon gut auf mich selbst aufpassen. Noch dazu bin ich mit meinem Roller viel zu schnell.“, gab Natty schnippisch zurück, klopfte auf den Sattel ihres Dieselrollers, den sie neben dem Tor an die Mauer gelehnt hatte und reichte Suri einen kleinen Korb, aus dem der Zipfel einen großen Wurst herausragte. „Es ist ja auch nicht so, dass ich gleich durch die Schemen spaziere.“

„Das stimmt.“, gab Philt ihr Recht. „Aber auch hier kann es ganz schön rau zugehen.“

„Ich bin heute erst wieder Vince und Hurley über den Weg gelaufen.“, warf Greg ein.

Peanut schlug sich die Hand vor den Mund.

„Dafür siehst du aber noch ganz gut aus.“, witzelte Josh mit besorgtem Blick.

„Ich bin rechtzeitig losgerannt. Sie hatten wohl etwas Wichtiges zu tun, denn sie haben schnell die Verfolgung abgebrochen. Selbst, als ich sie als fußlahme Feiglinge beschimpft habe, haben sie nur abgewunken und sind abgedampft.“, protzte er.

Gregs Hochgefühl wurde jäh gedämpft, als ihm eine zierliche Hand quer auf die Wange klatschte. „Bist du von allen guten Geistern verlassen, Gregory!“, empörte sich Suri. „Wenn du dich selber in Gefahr bringst, weil du zu dämlich bist, ist das deine Sache, aber mit solchen Sprüchen bringst du diese Schläger gegen uns alle auf. Du weißt ganz genau, dass sie noch ein paar Rechnungen mit Josh und Frog offen haben.“ Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften und funkelte Greg aus ihren braunen Mandelaugen an. Der senkte beschämt den Blick und starrte ihr orange-schwarzes Kleid, dass sich um den engen Mieder legte wie eine zweite Haut, an. Nicht zum ersten Mal spürte er verwirrt, wie ihm bei diesem Anblick ein dicker Klos im Hals anzuwachsen schien und sich zwischen seinen Beinen ein kribbelndes Gefühl ausbreitete. Beschämt und verlegen zwang er seinen Blick weiter nach unten, so dass er nur noch die hohen schwarzen Stiefel sah, die Suris Waden bis zu den Knien umschlossen. Aber auch dieser Anblick machte es nicht wirklich besser.

„Jetzt lass ihn mal!“ Josh war hinter Suri getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. „Es ist ganz schön mutig für einen sechzehnjährigen Waisen, sich mit Vince und Hurley anzulegen. Wir brauchen selbstbewusste Mitstreiter in unserer Gemeinschaft. Und Greg hat sich prächtig entwickelt, seit er zu uns gestoßen ist.“ Er legte Greg die freie Hand auf die Schulter. „Jetzt lasst uns essen! Ich bin gespannt, was Philt und Natty ausgefallenes mitgebracht haben.“

Greg ließ sich widerwillig von Josh zur Feuerstelle schieben. Er hatte es satt, von den anderen ständig als kleines, unvorsichtiges Kind behandelt zu werden. Er lebte nun schon seit mehr als einem halben Jahr in der Gemeinschaft und trug seinen Teil zum Überleben der Gruppe bei – einen nicht unwesentlichen Teil, wie er sich selbst gern vor Augen führte, schließlich verdiente er mit seiner Arbeit in der Dieselmotorenfabrik mehr Wertmarken als alle anderen. Und trotzdem taten vor allem Suri und Philt oft so, als wäre er ein dummes Kleinkind, das für alle Probleme verantwortlich war, die sie sich selbst zuzuschreiben hatten. Und das würde er gern mal loswerden. Aber Josh war der unausgesprochene Chef der kleinen Gemeinschaft und wollte diesen Konflikt offenbar vermeiden.

Also setzte sich Greg an die Feuerschale und versuchte, an etwas anderes zu denken, als an Suris sich unter dem orange-schwarzen Kleid abzeichnende Kurven. Der Stoß eines Ellenbogens in seine Rippen holte ihn zurück aus seinen verwirrenden Gedanken. Natty hatte sich neben ihn gesetzt und strahlte ihn aus ihren blauen Augen an. Ein feiner Veilchenduft ging von ihr aus. Greg hatte schon davon gehört, dass die eleganten Damen in den Villenvororten der Reichen sich teure Duftwässerchen hinter die Ohren tupften, aber bisher hatte er sich nicht vorstellen können, wozu das gut sein sollte. Doch der verführerische Blumenduft, der nicht zu aufdringlich die normalen Dünste der City aus Schweiß, Abgasen, Öl, verbrennendem Holz und Abfällen durchdrang, machte die ohnehin schon angenehme Gesellschaft Nattys noch wohltuender. Ihre Augen waren so klar, dass Greg das Gefühl hatte, darin ertrinken zu können, wenn er nicht vorsichtig genug wäre. Wie vorhin bei Suri ertappte er sich erneut dabei, wie sein Körper eigenartige Signale aussandte. Seine Hände begannen ganz leicht zu zittern, er spürte, wie ihm im Nacken der Schweiß aus den Poren drang und wieder war da dieses unheimliche Kribbeln in der Lendengegend. Was war nur los mit ihm?

Greg riss seinen Blick von Nattys Augen los und wandte sich hastig dem Feuer zu.

„Alles in Ordnung?“, fragte Natty halb belustigt, halb beunruhigt.

Greg nickte. „Ja, alles bestens.“ Er musste ein unverfängliches Thema finden. Was sollte Natty von ihm halten, wenn sie herausfand, wie ihm in ihrer Nähe zumute war? „Aber ich habe einen Bärenhunger.“

„Das trifft sich gut.“, rief sie aufgeregt und klatschte in die Hände. „Ich habe euch eine Räucherwurst mitgebracht.“ Sie deutete auf Suri, die gerade mit dem riesigen Brotmesser Stücke von einer ellenlangen Wurst abschnitt.

„Mmmmh, lecker.“, schnurrte Greg. „Sowas haben wir viel zu selten. Auf Dauer sind die ewigen Bohnen aus der Dose doch etwas einseitig.“

Natty nickte bekümmert. „Es tut mir leid, dass ich euch nicht mehr bringen kann. Aber unsere Köchin achtet streng auf die Vorräte, da ist es nicht so einfach, etwas herauszuschmuggeln.“

„Du tust schon mehr als genug für uns, Natty.“, schaltete sich Josh, der sich von den beiden unbemerkt neben Greg gesetzt hatte, in das Gespräch ein. „Durch dich geht es uns viel besser als den meisten anderen Gemeinschaften in der Innenstadt.“

„Ganz zu Schweigen von den Leuten in den Schemen.“, mischte sich Peanut ein, die ebenfalls auf das Gespräch aufmerksam geworden war.

„Ja, alles in allem können wir von Glück sagen, dass wir hier zusammengefunden haben. Es könnte uns viel schlechter gehen.“, stimmte auch Philt zu.

„Und damit das so bleibt, müssen wir unsere Körper und unseren Willen jeden Tag in Form halten.“, grinste Josh in die Runde.

„Jaja. Wir haben es verstanden.“, knurrte Suri und klatschte eine große Portion Bohnen in eine irdene Schale. Sie reichte die Schale an Peanut. „Hier, damit du auch morgen noch genug Kraft für Joshs Schinderei hast.“, raunte sie ihr so laut zu, dass es alle verstehen konnten.

Philt schnaubte leise vor sich hin und auch Peanut musste kichern. Suri zwinkerte Greg zu und der konnte das Lachen nicht mehr unterdrücken. Es platzte aus ihm heraus und die ganze Anspannung des Tages brach sich Bahn. Die anderen konnten nun auch nicht mehr an sich halten und prustend und schnaufend hielten sie sich die Bäuche und wanden sich auf dem Boden.

„Hab ich irgendwas wichtiges verpasst?“, ließ sich eine tiefe Stimme aus Richtung des Torbogens vernehmen, als sich die Lautstärke des Gelächters langsam gelegt hatte.

Greg drehte sich um, aber das flackernde Licht der Feuerschale drang nicht bis zu der Person vor.

„Nur die täglichen Übungen, wie üblich.“, rief Josh in die Dunkelheit hinein. „Komm, Frog! Das Essen ist gerade fertig.“

„Na, da komme ich ja genau richtig.“, ließ sich der Angesprochene nicht zweimal bitten. Er schob die schweren Torflügel zu und schlenderte zu der Gruppe am Feuer. „Ihr sollt doch bei Dunkelheit das Tor schließen.“, tadelte er die Runde mit einem Kopfschütteln und seufzte missbilligend. „Wann lernt ihr endlich, dass ihr nicht so leichtsinnig sein dürft? Die City ist gefährlich, vor allem bei Nacht.“

„Sagt einer, der jede Nacht unterwegs ist.“, erwiderte Philt in sarkastischem Tonfall.

„Ja, weil er abends seine Wertmarken verdient.“, konterte Frog. „Oder hast du schon mal davon gehört, dass eine Big Band in der Mittagszeit zum Tanz aufspielt? Da swingt es sich bekanntlich nur halb so gut wie am Abend. Außerdem ist es für mich weniger gefährlich als für euch.“, fügte er im Brustton der Überzeugung hinzu.

„Ach ja? Wie kommst du denn darauf?“, fragte Suri interessiert mit einem angriffslustigen Ton.

„Na, schau mich an!“, tönte Frog und deute an sich herunter. „Ich bin schwarz. Ich trage einen schwarzen Frack, schwarze Hosen und schwarze Schuhe. Der Kasten meiner Trompete ist schwarz. Wenn ich die Augen schließe, bin ich nachts faktisch unsichtbar.“

Dieser Logik hatte niemand etwas entgegenzusetzen. Während Suri Suppe und Wurst verteilte und Frog seinen Frack ablegte und sich seine bequeme Tuchhose, eine Wolljacke und ausgetretene Schuhe anzog, hingen alle ihren Gedanken nach. Greg dachte an all die dunklen Ecken der riesigen Stadt, in denen sich Frog so viel besser verbergen konnte als er selbst. Er kannte einen Großteil der City wie seine Westentasche. Seit er vor fast zehn Jahren aus dem Waisenhaus ausgerissen war, lebte er auf den Straßen dieser Stadt. Den größten Teil seines Lebens hatte er in den von halb verfallenen alten Wohnkasernen gesäumten Straßen und Gassen der Innenstadt und den stinkenden Fabrikhallen und Industrieruinen des Ostviertels verbracht. Aber auch das Verwaltungsviertel mit dem prunkvollen Gouverneurspalast, dem Gericht, den höheren Schulen und den schicken Geschäften kannte er in- und auswendig. Und natürlich den lautstarken, quirligen Markt, wo er sich viele Jahre lang dadurch am Leben erhalten hatte, dass er die wohlhabenden Händler und Käufer um das erleichterte, was sie ohnehin nicht vermissen würden. Manchmal war er den Reichen sogar bis zu ihren sauberen Vororten gefolgt. Wie hatte er die Jungen in ihren Matrosenanzügen und Lackschuhen beneidet, wenn sie lachend und singend hinter den Zäunen der Wohnviertel, in denen die Luft so sauber und die Häuser so farbenfroh waren, zum festlich gedeckten Abendbrottisch spazierten. Wie oft hatte er geträumt, eines Tages kämen seine Eltern, die er bisher nicht kennen gelernt hatte, in die Stadt, würden ihn auf dem Markt erkennen und mit in eine dieser wundervoll verzierten Villen mit Badezimmer, Vorratsschrank und einem warmen Daunenbett nehmen und mit ihm als richtige Familie leben.

Und dann war er eines Tages Frog über den Weg gelaufen, der aus einer der umzäunten Siedlungen herausspaziert kam, als wäre er da zu Hause. Er hatte dem Jungen in den abgerissenen Kleidern wohl angesehen, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Als er Greg abends in das Lagerhaus im Stadtzentrum mitgenommen und die Gemeinschaft beschlossen hatte, ihn aufzunehmen, einfach so, ohne irgendwelche Forderungen, da hatte er endlich seine Familie gefunden. Ja, er fühlte sich wohl bei seiner Gemeinschaft und er war stolz, dass er seit ein paar Monaten in der Dieselmotorenfabrik arbeitete und sich so geschickt angestellt hatte, dass er nun sogar Gasschmelzschweißer war und jeden Freitag viele Wertmarken für die Gruppe mitbringen konnte. Er fühlte sich wohl in der Gemeinschaft, wohl in der Fabrik von Jesua Fingrey, wohl in seiner Stadt. Nur die Schemen, das heruntergekommenste Wohnviertel, in das sich nicht einmal die Wachmänner des Gouverneurs wagten, mied er tunlichst. Dort konnte ihm niemand helfen und selbst Frogs Unsichtbarkeit war in den Schemen nicht unsichtbar genug. Ein Schaudern lief ihm kribbelnd den Rücken hinunter.

„... bin ich noch bei einer Wahlveranstaltung hängen geblieben. Deshalb ist es etwas später geworden.“ Frogs Stimme riss Greg aus seinen Gedanken. Offenbar hatte er ganz verpasst, wie das Gespräch wieder in Gang gekommen war.

„Und? Hast du irgendetwas Spannendes gehört?“, fragte Peanut eher gelangweilt.

„Und ob!“, rief Frog. „Collin Rand persönlich hat gesprochen.“

„Collin Rand?“, fragte Philt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dieser aufgeblasene Fatzke!“

„Und demnächst neuer Gouverneur.“, raunte Josh. „Es dürften kaum Zweifel daran bestehen, dass Rand die Wahl gewinnt.“

„So, wie er alle aussichtsreichen Mitbewerber ausgeschaltet hat, sicher nicht!“, bemerkte Suri.

„Meinst du die Sache mit Morgan?“, fragte Frog. „Also, ich glaube nicht, dass Rand so dumm wäre, einen Konkurrenten umbringen zu lassen. Er ist ein mieses Schwein, aber wenn das rauskäme, wäre es politischer Selbstmord. Da könnte sich nicht einmal Rand herauswinden.“

„Wenn er schlau genug ist und die Schläger, die Morgan in die Schemen geschleift und dort zerhackt haben, ebenfalls um die Ecke bringt, hat er nicht viel zu befürchten, oder? Aus der Sache mit Heyworth hat ihm auch keiner einen Strick gedreht und alle wissen, dass Rand dahintersteckt.“, spann Suri den Faden weiter.

„Das ist eine ziemlich gewagt These, die du besser für dich behältst!“, entgegnete Josh. „Wenn Rand wirklich Gouverneur wird, wird sich einiges ändern. Seine Schlägertrupps haben die City sowieso schon im Griff, aber wenn sie erst einmal als offizielle Wachmannschaften keiner Kontrolle mehr unterliegen, möchte ich ungern Collin Rands Feind sein. Sei also vorsichtig, was du in der Schneiderei oder bei deinen Freiern von dir gibst!“

„Jaja, ich pass schon auf.“, knurrte Suri mürrisch.

„Eins verstehe ich nicht.“, mischte sich Greg in die Diskussion ein. „Warum gewinnen immer solche miesen Typen wie Rand? Warum gibt es keine ehrlichen Leute, die in der Politik oder der Wirtschaft Erfolg haben?“

„Die gibt es, sie fallen nur nicht so auf.“, konterte Peanut.

„Ach ja?“, fragte Frog interessiert. „Da bin ich aber gespannt. Nenne mir doch mal einen Politiker, der ein ehrlicher Mensch ist und das Interesse der Menschen, die ihn gewählt haben, über sein eigenes stellt!“

„Jesua Fingrey?“, warf Peanut ein.

„Der ist wirklich ein großartiger Mann, konzentriert sich aber ganz auf seine Fabriken.“, stellte Natty klar. „Aber einen ehrlichen Politiker...“

„Gibt es nicht.“, stellte Philt kategorisch fest.

„Mir fällt auch keiner ein.“, nickte Josh nachdenklich. „Obwohl, vor ein paar Jahren war doch dieser Typ mit dem komischen violetten Zylinder, der ganz knapp bei der Gouverneurswahl gegen Vincent Greystone verloren hat.“

„Urban Longside.“, warf Natty ein.

„Ja, genau. Der war ein lustiger Typ. Geradeheraus, ehrlich, pflichtbewusst. Dem hätte ich vertraut.“, rief Josh begeistert.

„Und heute ist er tot.“, dämpfte Suri die Euphorie.

Alle starrten sie erstaunt an.

„Sagt bloß, das habt ihr nicht mitgekriegt! Es muss ungefähr ein halbes Jahr her sein. Kurz bevor Greg zu uns kam. Ein Freier hat es mir erzählt. Kam ganz verstört zu mir, der Arme, und hat mich nur fürs Reden bezahlt. Longside muss wohl in den Schemen spazieren gegangen sein.“ Sie schüttelte den Kopf und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ganz schön unvorsichtig, wenn ihr mich fragt. Man hat ihn mit aufgeschnittener Kehle in einer dunklen Sackgasse gefunden. Soll kein schöner Anblick gewesen sein.“

„Hätte er nicht gute Chancen gehabt, wenn er bei der Wahl gegen Rand angetreten wäre?“, fragte Greg mit vor Erregung roten Ohren.

„Schlaues Kerlchen.“, lobte ihn Suri und strubbelte ihm durch das Haar.

Greg zog unwirsch den Kopf weg. „So ein mieser Hund! Es muss doch jemanden geben, der ihn stoppen kann.“, rief er empört.

„Alle, die sich ihm bisher in den Weg gestellt haben, sind nicht sehr alt geworden, sagt mein Vater.“ Nattys Stimme war fast zu einem Flüstern gesenkt. Umso eindringlicher klangen ihre Worte, die kaum das Knistern des Feuers übertönten. „Er ist skrupellos, gerissen und hat viele einflussreiche Freunde, die ihn decken, wenn es hart auf hart kommt. Gegen ihn zu kämpfen, bedeutet, seinen eigenen Untergang heraufzubeschwören.“, hauchte sie, den Blick fest auf die Feuerschale geheftet.

„Trotzdem. Irgendjemand muss ihm Einhalt gebieten. Er kontrolliert ohnehin schon die Wirtschaft der City und als Richter hat er auch viel Einfluss. Wenn er jetzt noch Gouverneur wird, ist seine Macht grenzenlos. Das wird die reinste Tyrannei.“, rief Greg wütend.

„Du hast vollkommen recht.“, sagte Josh mit ruhiger Stimme. „Ich fürchte nur, es gibt niemanden, der es wagt, ihm entgegenzutreten.“

„Ich würde es machen.“, platzte es trotzig aus Greg heraus.

„Sicher. Aber du bist zum Glück nicht in der Lage, ihn herauszufordern.“, brummte Frog und kicherte erleichtert.

„Jetzt vielleicht noch nicht. Aber ich glaube fest an dich, Greg. Irgendwann wirst du die Welt retten.“, hauchte Natty. In der Dunkelheit war ihr Gesicht nur undeutlich zu sehen, aber es kam Greg so vor, als hätten sich auf ihren Wangen kleine rote Flecken gebildet.

Suri lachte auf. „Aber sicher. Und wenn du die Welt gerettet hast und ein richtiger Held bist, dann steige ich mit dir ins Bett, Greg. Das verspreche ich dir.“

Greg spürte, wie diese anzügliche Bemerkung ihm die Schamesröte ins Gesicht trieb. Aufgewühlt starrte er ins Feuer, das allmählich kleiner wurde. Das Gespräch driftete zu Nebensächlichkeiten ab und er hatte Zeit, seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

Eine leichte Berührung an der Schulter ließ ihn zusammenzucken.

„Ich gehe dann mal. Morgen ist wieder Schule.“, sagte Natty und reichte ihm die Hand. Er nahm sie in seine Rechte und spürte die Sanftheit ihres Wesens selbst in diesem Händedruck. „Ich glaube an dich. Tu du es auch!“, hauchte sie ihm ins Ohr.

„Ich bring dich noch zum Tor.“, bot sich Frog an und erhob sich schwerfällig.

Natty rief allen ein fröhliches „Gute Nacht!“ zu, schnallte sich eine Fliegerhaube auf den Kopf und bestieg ihren Dieselroller. Beim fünften Kick startete der Motor tuckernd.

„Den muss ich morgen unbedingt mal einstellen. Irgendwann kriegt sie ihn nicht mehr an.“, raunte Greg Philt zu.

Der nickte versonnen. „Irgendwann habe ich auch so einen Roller. Dann kannst du nach Herzenslust daran herumschrauben und ihn zum besten Roller der City machen. Vielleicht lasse ich dich sogar mal damit fahren.“

„Ja, das wäre schön.“, seufzte Greg und lauschte versonnen dem sich langsam entfernenden Knattergeräusch von Nattys Dieselroller.

Terapolis

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