Читать книгу Art-City - Tom Hochberger - Страница 7

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Mr. Noname

Der Himmel war sternenklar und die Nacht noch lange nicht vorbei, als Bruce Garner sich unruhig im Bett herumwälzte. Er träumte wieder einmal schlecht. Eine Meereswoge beutelte ihn hin und her. So sehr er sich auch wehrte, er konnte nichts dagegen ausrichten. Er fühlte sich dieser Naturgewalt hilflos ausgeliefert. Ein Gefühl der vollkommenen Verlorenheit erfasste ihn, so als ob es auf der ganzen Welt nichts gäbe, das ihn hätte retten können. Beklemmende Angst eroberte seinen ganzen Körper. Seine kräftigen Muskeln nutzten ihm nichts, einfach gar nichts. Er kämpfte gegen eine Macht, die er bis dahin noch nicht gekannt hatte. Ewige Dunkelheit schien ihn zu verschlingen wie ein grässliches Monster.

„Bruce, wach auf!“ Sanft, ganz sanft liebkoste und küsste Kim ihren Geliebten.

„Schau mir in die Augen, Liebster. Wach auf, ich bin da. Beruhige dich und hab keine Angst!“

Bruce brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass er nur geträumt hatte. Als er Kim ins Gesicht sah und von dem Ausdruck der Liebe, der sich in ihren Augen widerspiegelte, getroffen wurde, schwand die Angst langsam aus seinem Körper.

„Schatz, ich liebe dich. Willst du mir nicht endlich sagen, was dich so quält?“

„Das kann ich nicht, weil ich es selbst nicht weiß“, flunkerte er.

„Oder du traust dich nicht, es mir zu sagen. Bruce, bitte rede mit mir.“

Ihre zarten Hände strichen über seine Brust und ihre Zunge berührte ganz sanft sein Ohr.

„Ja, aber nicht heute Nacht“, sagte er leise und erwiderte ihre Zärtlichkeit, indem er ihr langsam über den ganzen Körper strich, gefühlvoll ihre Brüste berührte und seine Hand in ihren Schritt wandern ließ. Während sie sich liebten, verschwand die Angst komplett aus Bruce´ Körper. Nachdem sie den Akt beendet hatten, schliefen beide mit dem Gefühl von tiefer Geborgenheit noch einmal ein.

Dieser wohlige Zustand währte nicht lange, denn kurz darauf schickte das Surroundsystem wachmachende Klänge durch das Schlafzimmer der beiden. Kim stand als Erste auf und machte das Frühstück, während Bruce sich im Badezimmer für den Tag herrichtete. Nachdem er fertig war, setzte er sich an den Tisch und sagte „News“ in den Raum hinein. Der Dailys machte sich auf der Projektionsfläche mitten in der Küche breit und schickte die neuesten Meldungen durch das Netz. Mit einem Auge schielte er aber rüber zu seiner bezaubernden Gattin.

„Was für eine wunderschöne Frau ich doch habe“, dachte Bruce, „aber sie kann so furchtbar neugierig sein.“

Als ob sie Gedanken lesen könnte, sagte sie:

„Ich bin nicht neugierig, ich mache mir Sorgen um dich. Warum teilst du deinen Kummer nicht mit mir?“

„Das würde ich ja gerne, aber es geht nicht.“

„Du weißt, dass ich dich liebe Bruce. Aber ich weiß nicht, ob ich es mein ganzes Leben lang ertragen kann, nie wirklich zu wissen, was in dir vorgeht! Mach dir Gedanken darüber, wie wir dieses Problem lösen können“, entgegnete sie ihm bestimmend.

Bruce war nicht fähig zu antworten, denn er spürte plötzlich wie die Furcht, die ihn in der Nacht zuvor schon einmal bedrohte, langsam wieder in seine Knochen kroch. War es die Angst, Kim vielleicht verlieren zu können? Er war durcheinander. Als er aufstand, schaute er seiner Frau mit durchdringendem Blick in die Augen.

„Kim, ich liebe dich auch!“, sagte er und ging aus dem Haus.

Zur gleichen Zeit ertönte in Summers Penthouse ein E-Gitarrensoli, dass kontinuierlich lauter und rockiger wurde. Der Journalist brauchte Power zum Aufwachen, um so richtig für den Tag motiviert zu sein. Er sprang aus dem Bett, zog sich an und sagte „Kaffee“ in die Küche hinein. Summer wollte fit sein und so schnippelte er sich etwas Gemüse zusammen und warf das ganze mit ein paar Brocken Schafskäse und frischen Kräutern in eine Schüssel. Mit hochwertigem Olivenöl, Balsamicoessig, Salz und Pfeffer würzte er seinen Snack und ließ nebenbei ein paar Orangen durch den Safter. Mit etwas Fladenbrot genoss er sein Frühstück, während er durch seine riesigen Fensterscheiben die großartige Kulisse von Art-City betrachtete. Summer konnte sich nicht entscheiden, ob es ihm heute gut ging oder nicht, weil ihn dieses seltsame, undefinierbare Gefühl – als ob ihm etwas fehlte - erneut überfiel. Trotzdem freute er sich auf den Tag, der vor ihm lag und bevor er das Haus verließ, speicherte er noch ein paar Gedanken in Bezug auf seinen Auftrag auf seiner Multiquantwatch ab. Er liebte seinen Job, so wie andere ihre Frauen liebten. Die Frauen liebte er natürlich auch, manchmal. Er machte sich auf den Weg Richtung „Bodycheck“ und benutzte dafür das ausgeklügelte City-Traffic-System. Das Schwebebahnennetz von Art-City war vom Design her dem der Hoverwalks angepasst. Die Bahnen rasten mit hoher Geschwindigkeit durch runde Glasröhren, die kreuz und quer durch die ganze Stadt angelegt waren. Schwebebahn war ein etwas verwirrender Ausdruck, denn eigentlich wurden sie durch Druckumwandlung angetrieben. Niemand wusste so ganz genau, wie diese Dinger funktionierten, außer natürlich den Ingenieuren, die sie entworfen hatten. In jeder Bahn war ein Druckluftkompensator eingebaut, der sich den Überdruck der durch die Vorwärtsbewegung der Bahn in der Röhre entstand, sofort wieder zunutze machte, indem er diese Energie in Antriebskraft umwandelte. Der Druckluftkompensator war so konzipiert, dass er diese Kraft auch speichern konnte und so jederzeit ein Anfahren möglich war. Diese Technik arbeitete vollkommen umweltbelastungsfrei. Das Benutzen der Schwebebahnen verlieh dem Fahrgast das Gefühl zu fliegen. Summer genoss es und stieg bei Exit-number 49 aus. Über einen Hoverwalk, der direkt an das System angeschlossen war, gelangte er zum Zielort. Beim Anblick des monumentalen Gebäudes, in dem der „Bodycheck“ untergebracht war, fragte sich der Betrachter zwangsläufig, ob das wirklich noch ein Fitnessstudio sein konnte. Als Summer das Foyer betrat, hatte er das Gefühl, im Empfangsraum eines Nobelhotels zu stehen. Summer ging zur Rezeption, die sich direkt gegenüber des Einganges befand.

„Hi, ich bin Christopher Summer. Ich habe gestern einen Tagesaufenthalt gebucht.“

„Ja, einen Moment bitte. Es kommt gleich jemand.“

Der Empfangsmitarbeiter telefonierte kurz, woraufhin es nicht lange dauerte, bis eine wunderschöne, amazonenhafte, schwarzhaarige Frau im Foyer auftauchte.

„Hi Christopher. Ich bin Helen, dein persönlicher Health-Leader. Bei uns ist es üblich, dass man sich mit Vornamen und du anspricht. Ist das in Ordnung für dich?“

„Na klar“, antwortete Summer etwas verdutzt ob der rassigen Schönheit, die ihm da gegenüberstand. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte natürlich auch nichts dagegen, ganz im Gegenteil.

„Zuerst mache ich eine Führung durch unser Center, bei dem ich dir alles zeige. Wir beginnen hier unten im Erdgeschoss mit dem Nassbereich.

Aber zuerst kannst du in die Kabine dort hinten und dich umziehen, ich warte solange hier.“

Der Journalist setzte den Vorschlag in die Tat um und machte sich bereits Gedanken, wie er am besten sein erstes „Objekt“ befragen konnte. Helen zeigte ihm die verschiedenen Ebenen und erklärte ihm alles. Außerdem führte sie ihn in den Check-Room, wo sie ihn auf Herz und Nieren prüfte. Er war topfit. Auf der vierten Ebene angelangt, fragte sie ihn, ob er an der so genannten „Braveheartprobe“ interessiert sei.

„Was soll denn das sein?“, fragte er sie.

„Hast du schon einmal Kampfsport betrieben?“

„Ja, ein wenig.“

„Gut, dann bist du der richtige Mann für unseren `Mr. Noname´“.

Summer wurde stutzig und hatte plötzlich ein etwas seltsames Gefühl im Magen.

„Mr. Noname ist unser Mann mit der Maske. Für Neueinsteiger, die wir als sehr sportlich einstufen, haben wir ein spezielles Begrüßungsritual kreiert. Sie dürfen gegen `Mr. Noname´ kämpfen, und falls es einer schafft, ihn zu besiegen darf er ihm die Maske abnehmen.“

„Und wie vielen ist das bisher gelungen?“

„Bis jetzt noch niemandem.“

„Aha“, Summer schluckte.

„Na, interessiert?“

Summer überlegte kurz, während er der durchtrainierten Helen in ihre funkelnden, hellblauen Augen schaute. Sie lächelte, wodurch sie noch attraktiver wirkte, als sie es sowieso schon war. Schließlich sagte er ja. Helen erklärte ihm die Regeln und führte ihn dabei in einen etwas abgelegenen Raum, der mit einer ca. 3x3 Meter großen Matte ausgelegt war. Der Raum war hell und freundlich gestaltet. Links und rechts der Matte befanden sich jeweils 3 Stufen, auf denen Zuschauer Platz nehmen konnten.

„Wir sagen den Kampf für elf Uhr an.“

Es war bereits zwanzig vor elf und Summer wurde es leicht mulmig. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Er absolvierte ein kleines Aufwärmtraining, indem er auf der Stelle lief, seine Arme kreisen ließ und seinen Körper ordentlich durchdehnte. Ein paar Zuschauer nahmen währenddessen Platz. Kurz vor elf betrat `Mr. Noname´ den Raum. Alles, was man von ihm sehen konnte, waren seine Augen. Sein Kopf war von einer weißen Maske umhüllt, der Rest seines Körpers mit einem weißen Kampfanzug. Der Journalist wünschte sich auf einmal, dieses seltsame Begrüßungsritual nicht angenommen zu haben und blickte zu Helen hinüber. Diese lächelte freundlich, aber bestimmt. Sie zwinkerte ihm zu, so als ob sie sagen wollte:

„Ich weiß, was du denkst. Aber jetzt ist es zu spät.“

Obwohl Summer einen halben Kopf größer war, als sein Gegenüber spürte er förmlich, dass er keine Chance hatte. Trotzdem mobilisierte er all seine Kräfte und versuchte sie zu bündeln. Der Gong ertönte. Schon nach Sekunden hatte Noname Summer mit einem gekonnten Griff unter Kontrolle. Dieser wehrte sich nach allen Regeln der Kunst und konnte auch kurze Zeit dagegen halten. Für einen Moment lang sah es sogar so aus, als hätte er eine geringe Chance, den Kampf für sich zu entscheiden. Doch just in diesem Moment packten ihn die gestählten Arme seines Gegners und wirbelten seinen Körper in Bruchteilen von Sekunden umher. Im gleichen Moment noch machte Noname eine Vorwärtsbewegung mit dem rechten Fuß, und kurz bevor Summer den Boden wieder berührte, zog Noname den Fuß nach hinten. Summer fiel. Ganz so leicht machte der es seinem Gegner jedoch nicht. Noch im Fall packte Summer ihn am Kragen seines Kampfanzugs und riss ihn mit zu Boden. Während Summer gekonnt auf den Rücken fiel, ließ er seinen Gegner über ihm rotieren. Dieser rollte sich ebenfalls über den Rücken ab und kam wieder zum Stehen. Verwirrende Gedanken schossen Summer durch den Kopf. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass sein Gegner nicht gegen ihn, sondern irgendetwas anderes kämpfte. Ein Raunen ging durch die Zuschauer, als sie sich erneut gegenüberstanden. Scheinbar waren sie erstaunt, dass der Fight länger als zwei Minuten dauerte. Das war nicht nur irgendein bedeutungsloser Showkampf. Er spürte das, schließlich war er nicht umsonst Top-Journalist. Und so als ob das Schicksal seine Vermutung unterstreichen wollte, fiel Noname jetzt wie ein wild gewordener Stier über ihn her, packte ihn und wirbelte ihn gnadenlos durch die Luft. Summer schaffte es, wie durch ein Wunder, noch einmal zum Stehen zu kommen. Er startete einen weiteren Gegenangriff, scheiterte aber kläglich. Noname warf ihn endgültig zu Boden. Summer lag mit dem Rücken auf der Matte, Nonames Knie drückte mit Macht auf seine Brust. Der Reporter hob die rechte Hand, was bedeutete, dass er aufgab. Der Kampf dauerte ca. 4 Minuten und scheinbar hatte Summer damit einen Rekord gebrochen. Noname verließ fluchtartig den Raum, als er merkte, dass die Leute nicht ihm Beifall klatschten, sondern Summer. Dieser fühlte sich geschmeichelt, obwohl er verloren hatte. Seltsam dachte er und wandte sich wieder Helen zu.

„Na, schöne Frau, wie war ich?“, fragte er sie. Für ihn war es an der Zeit seinen unwiderstehlichen Charme spielen zu lassen, denn schließlich war er ja nicht nur zum Vergnügen hier. Er musste auch noch etwas für seine Studie tun.

„Gut, aber nicht gut genug“, entgegnete sie ihm kühl. Er hatte den Eindruck, dass sie eine plötzliche Sinneswandlung vollzogen hatte, und fragte sich, ob die Sache mit dem Kampf mehr zu bedeuten hatte, als es nach außen hin den Anschein machte.

„Okay Helen, was hast du denn noch so auf Lager?“

„Ich zeige dir jetzt den Rest, und dann kannst du dich alleine vergnügen, wenn du willst.“

„Und wenn ich auf deine nette Gesellschaft nicht verzichten will?“

„Dann kann ich natürlich auch an deiner Seite bleiben“, antwortete ihm Helen, während sie ihren Kopf nach hinten warf und dabei ihre schwarze Haarpracht leicht sein Gesicht berührte. Sie roch unwiderstehlich. Summer glaubte zwar nicht, dass er ihr vertrauen konnte, dennoch fasste er in diesem Moment den Entschluss, näher an sie heranzukommen.

„Das wäre wirklich sehr nett. Sag mal, diesen `Mr. Noname´, kennst du den auch ohne Maske?“

Helen antwortete nicht spontan, sie machte den Eindruck, als müsste sie sich die Antwort erst ausdenken.

„Nein, niemand des Personals kennt ihn ohne Maske, außer unserem Chef natürlich.“

„Und wie heißt euer Chef?“

„Ron Steele, aber der ist so gut wie nie im Haus.“

Sie waren mittlerweile im Kraftraum angekommen. Summer stählte an verschiedenen Geräten seine Muskeln, während Helen sich mit einem anderen Angestellten unterhielt. Der Blick des Journalisten klebte förmlich auf Helen. Sie hatte etwas an sich, das ihn magisch anzog. Nachdem er sein Training absolviert hatte, wandte er sich wieder an sie.

„Na schöne Frau, was schlägst du vor? Was könnten wir jetzt noch tun?“

Helen blickte ihm tief in die Augen, lächelte verschmitzt und sagte:

„Wir könnten noch eine Runde schwimmen gehen und aufpassen, dass wir dabei nicht untergehen.“

„Warum sollten wir denn untergehen?“

Summer lächelte ebenso und ließ dabei seine tiefblauen Augen blitzen.

„Das Wasser in Art-City kann sehr stürmisch sein.“

Er tat so, als machte er sich nichts aus Helens etwas eigenartigen Bemerkungen.

„Okay, dann lass uns sehen, wer stärker ist, der Sturm oder wir.“

Die beiden sprangen in das kühle Nass im Erdgeschoss und schwammen ein paar Runden um die Wette. Summer war zwar bis zum Schluss eine Nasenlänge voraus, aber er musste alles geben. Helen jedoch schien vollkommen unbeeindruckt zu sein von seiner Leistung. Als er sich umsah, bemerkte er auf einmal, dass sie die einzigen Menschen in dem großen Becken waren. In diesem Moment bauten sich meterhohe Wellen auf und ein künstlicher Sturm peitschte durch die Halle. Summer war wahrlich kein Mann von Furcht, aber jetzt packten ihn die Wellen und wirbelten ihn durch die Gegend wie ein Stück Treibholz. Er fragte sich, ob das ein Attentat auf ihn sein sollte. Angst verspürte er nicht, aber ein leicht beklemmendes Gefühl überkam ihn. Doch just in diesem Moment schlängelte sich ein Arm unter seinen und umklammerte seine Brust. Ohne dass er sich richtig bewusst war, was passierte wurde er ans Ufer gezogen. Es war Helen, sie fischte ihn raus und legte ihn auf den Boden. Wenig später legten die Wellen sich wieder. Er war sichtlich durcheinander und wütend.

„Was war das denn? Gehört das auch zu eurem Begrüßungsprogramm?“ Helen lächelte ihn an.

„Nein, das war ein Einfall von mir persönlich, wollte mal sehen, was du so drauf hast.“

„Sehr witzig!“, sagte Summer.

„Das finde ich auch!“, entgegnete sie ihm und konnte sich ein leicht schadenfrohes Lachen nicht verkneifen.

„Ich würde mal sagen, das kostet dich etwas!“, meinte Summer.

„So, was schlägst du denn vor?“, fragte sie.

„Du lädst mich heute Abend zum Essen ein und ich verzeihe dir.“

„Oh, wie großmütig. Okay, ich bin einverstanden. Wo wollen wir uns treffen?“, fragte sie.

„Ich könnte dich zu Hause abholen“, sagte er.

„Mir wäre es lieber, wenn wir uns im Zentrum treffen könnten. Wie wäre es dort um 19 Uhr 30?“

„Ja, geht klar!“

„Also dann, ich freu mich, schöne Frau!“

5

Helens Schicksal

Zuhause angekommen führte Summer noch einige Recherchen über Noname und den Bodycheck durch, aber er fand nicht mehr heraus, als er sowieso schon wusste. Er fühlte sich ziemlich durcheinander, war sich nicht sicher, ob er sich verliebt hatte oder ob Helen einfach nur rein beruflich für ihn wichtig war. Was aber für ihn feststand, war, dass sie eine bemerkenswerte, interessante und gleichzeitig auch ziemlich durchtriebene Frau war. Im Grunde passte es ihm gerade ganz und gar nicht in den Kram, dass er sich mit Gefühlen für das andere Geschlecht auseinandersetzen musste. Das machte ihn auf eine gewisse Art unfrei, andererseits reizte es ihn aber auch. Er nahm sich vor, die Kontrolle über den heutigen Abend nicht wieder aus der Hand zu geben und notierte sich einige Fragen, die er in das Gespräch mit Helen einfließen lassen wollte. Schließlich musste er auch in Bezug auf seinen Job ein paar Schritte vorwärtskommen. Der Journalist machte sich für den Abend zurecht. In seinem nobel ausgestattetem Badezimmer gönnte er sich ein entspannendes Bad. Eine glatte Rasur und ein männlicher Duft sollten Helen ein wenig beeindrucken. Mit Vorfreude auf sie und den Abend sang er gut gelaunt vor sich hin. Seine Kleidung wählte er je nach Stimmungslage, heute hatte er Lust auf rockig. Eine verschlissen aussehende, hellblaue Jeans und ein legeres Hemd. Darüber warf er sich eine lässig geschnittene Lederjacke. Nachdem er sich seine dunkelblonden, halblangen Haare zurechtgemacht hatte, schlüpfte er in braune Lederstiefel und ließ die Jeans darüber fallen. Bevor er seine Wohnung verließ, schaute er sich noch einmal die Kulisse von Art-City durch seine riesigen Fenster an.

Buntes Treiben herrschte im Zentrum der Metropole. Es war ein riesiger Platz, auf dem alles zusammenlief. Trotz klirrender Kälte, es war Winter, waren überall Menschen, die verschiedene Darbietungen zeigten. Summer nutzte die verbleibende Zeit, um sich unter einen Pulk von Zuschauern zu mischen. Eine Akrobatengruppe zeigte ihr Können, sie waren gerade dabei, eine menschliche Pyramide zu bauen. Fünf kräftige Männer stellten sich breitbeinig in einer Linie auf. Es folgten vier weitere, die sich auf den Schultern der Unteren positionierten. Sechs athletische Frauen kletterten jetzt über die unteren zwei Linien hinauf und bildeten noch einmal drei Reihen mit jeweils drei, beziehungsweise zwei und zum Schluss einer Person, die die Spitze des Gebildes darstellte. Als Summer das Szenario beobachtete, begann er zu rechnen. Er malte sich aus, dass jede Person im Durchschnitt etwa fünfundsiebzig Kilo wiegen dürfte. Das wären dann für jeden Mann in der untersten Reihe einhundertfünfzig Kilo. Als er mit seinen Berechnungen fertig war, legte sich ganz zart eine wohlriechende Hand auf seine Augen und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr:

„Je weiter du hinaufkommst, desto akrobatischer musst du sein. Je weiter unten du im Fundament stehst, desto kräftiger. Lass uns essen gehen.“

Er drehte sich um und blickte in Helens verführerische Augen. So faszinierend diese Frau war, sie konnte in gewisser Weise auch leicht verstörend wirken. War diese Bemerkung so etwas wie eine verschlüsselte Botschaft oder war es einfach nur belangloses Gerede? Ihre Kleidung war schlicht und doch sah sie umwerfend aus. Sie hatte eine enge Jeans, schwarze Stiefel und eine legere Jacke an. Ihre schwarze Haarpracht trug sie offen und leicht gewellt. Sie duftete unwiderstehlich, bemerkte Summer, als er ihr näherkam.

„Kennst du das `Red Dot´?“, fragte sie.

„Nein, aber du wirst es mir bestimmt gleich zeigen.“

„Okay, du Riese. Mir nach.“

Helen war zwar mit ihren 1,75m auch nicht gerade klein, aber Summer überragte sie doch noch um einiges. Sie nahmen die Vacationline und stiegen bei Exit-number 17 aus.

„Wie lange lebst du eigentlich schon hier?“

Helen beobachtete ihn unentwegt, während er die Speisekarte studierte.

„Seit etwa einem Jahr, und du?“

„Oh, ich bin schon seit ungefähr zwanzig Jahren hier.“

„Das heißt, du bist gemeinsam mit dieser Stadt groß geworden?“

Helen und Summer hatten sich auf der 3. Ebene niedergelassen, von wo aus die beiden einen einwandfreien Blick auf die Bühne hatten. Im Red Dot konnte man fast jeden Abend eine Live-Band sehen. An diesem Tag spielten die „Intermediate Heroes“. Ihre Musik war gleichermaßen faszinierend wie gewöhnungsbedürftig. Ein groovender Mix aus digitalem Computersound, klassischen Einflüssen und rockigen Elementen. Bei längerem Hinhören geriet man regelrecht in einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen konnte.

„Kannst du mir etwas empfehlen?“

„Kommt drauf an, auf was du stehst. Magst du´s lieber gewöhnlich oder eher exotisch?“

Helen legte dabei ihren Kopf leicht schräg, blickte ihm direkt in die Augen und lächelte verwegen. Summer erwiderte ihren Blick und sagte:

„Ich liebe es, das Unbekannte zu erforschen, deswegen wähle ich exotisch!“

„Gut, dann empfehle ich dir Red Surprise.“

„Hört sich vielversprechend an, und was nimmst du?“

„Ich nehme Seafruits.“

„Oh, eine Meeresfruchtliebhaberin.“

Eine attraktive blonde Frau mittleren Alters näherte sich ihrem Tisch, um die Bestellung aufzunehmen.

„Guten Abend haben Sie schon ausgesucht?“

„Ja, die Dame bekommt einmal Seafruits, ich nehme Red Surprise, dazu eine Flasche trockenen Roten und einen Krug mit Wasser bitte.“

„Sind Sie sicher, dass Sie Red Surprise nehmen?“

Summer legte seinen Kopf zur Seite und schaute die Frau einen kurzen Moment fragend an, sagte dann aber mit Bestimmtheit einfach ja. Die Bedienung nickte und lächelte freundlich. Summer wandte sich wieder Helen zu.

„Erzähl mal, wie kamst du nach Art-City?“

Helens Miene verdunkelte sich etwas und sie zögerte.

„Es geschah im Jahr 2030. Ich war damals 16 Jahre alt, meine Eltern sind in den Urlaub geflogen und ich blieb zum ersten Mal zu Hause. Zwei Wochen wollten sie wegbleiben, doch sie kamen nie wieder.“

Helen stockte und senkte leicht ihren Kopf, sie schaute ihrem Gegenüber jetzt nicht mehr in die Augen. Summer berührte sie mit dem Zeigefinger an ihrem Kinn und hob ihren Kopf behutsam an, bis sich ihre Blicke wieder trafen.

„Du kannst mir vertrauen. Was ist passiert?“, sagte er ruhig, aber bestimmt.

„Sie flogen an einem Samstag. Das Ziel war Hawaii, dort wollten sie schon immer mal hin. Sie freuten sich wie kleine Kinder auf diese Reise. Ich verstand mich sehr gut mit meinen Eltern, an ihrem Abreisetag hatte ich Geburtstag und wollte eine große Party feiern, und das tat ich dann auch. Ich wünschte mir eine Feier ohne Eltern, nur mit meinen Freunden. So als eine Art Abnabelung, verstehst du? Kaum waren sie aus dem Haus, kamen auch schon die ersten Gäste. Die Party sollte ein richtiger Kracher werden, meine Eltern drückten mir einen Batzen Geld in die Hand und sagten: „Gestalte deine Party so, wie es dir gefällt.“

Das Geld, das sie mir gaben, reichte sogar für eine Band. Sie spielte draußen im Garten. Ich hatte für alles gesorgt, was man für eine tolle Party brauchte. Es lief alles nach Plan, so wie ich es mir gewünscht hatte, bis auf einmal so gegen elf Uhr abends ein paar Idioten auftauchten und meinten, die Party stören zu müssen. Ich hatte sie nicht eingeladen, aber wir waren alle schon recht angeheitert und amüsierten uns gut. Keiner von uns hatte Bock auf Stress, also ließen wir sie machen. Sie nahmen sich alkoholische Getränke, soviel sie tragen konnten, belagerten das Wohnzimmer und warfen die Glotze an. Sie zappten die ganze Zeit hin und her und machten sich über alles lustig.“

Mit einem lockeren Hüftschwung und einem Tablett in den Händen näherte sich die Bedienung ihrem Tisch. Zuerst servierte sie Helens Gericht mit den Meeresfrüchten. Dann bediente sie Summer und zog ein Streichholz hervor. Helen und die Bedienung hatten ein listiges Grinsen auf den Lippen.

„Überraschung“, sagte die hübsche Blonde mit einem schwingenden Unterton. Als sie ein Streichholz anzündete und an Summers Teller hielt, zischte es kurz. Eine heftige Stichflamme loderte hoch und orangerot auf, woraufhin der Journalist etwas blass um die Nase wurde. Die Bedienung wünschte einen guten Appetit und entfernte sich. Der Name des Gerichts hatte gehalten, was er versprochen hatte, Summer war überrascht und schaute Helen in die Augen. Sie konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.

„Freut mich für dich, dass du deinen Spaß hast“, sagte er und meinte es ernst.

Ihr Blick wurde aber kurz darauf wieder traurig und nachdenklich.

Summer bemerkte es und fragte: „Okay, und was geschah dann?“

„Als ich das Wohnzimmer betrat, lief gerade ein Nachrichtensender. Dort berichteten sie von einem Flugzeugabsturz nahe Hawaii, eine Maschine war in einen Sturm geraten und ins Meer gestürzt. Niemand der Insassen hatte das Unglück überlebt. Panische Angst überkam mich, ich befürchtete sofort, dass es das Flugzeug war, mit dem meine Eltern unterwegs waren. Aber ich hämmerte mir wie eine Irre ein, dass so viele Maschinen durch die Gegend flogen und es sei bestimmt eine andere gewesen. Ich begann mit mir selbst zu diskutieren, versuchte mich selbst zu beruhigen. Ich beschwichtigte meine Vermutung immer wieder mit dem Argument, dass doch Hunderte von Flugzeugen unterwegs waren und sicher auch in der Nähe von Hawaii umher flogen. Die Gedanken machten mit mir plötzlich, was sie wollten, wie in einer Achterbahn schleuderten sie meinen Verstand hin und her, rauf und runter.“

Summer blickte Helen in die Augen, fühlte mit ihr mit und bewegte sich nicht. Vor ihm stand der Teller, dessen Inhalt geformt war wie ein Drache, der Feuer spuckt. Der Leib bestand aus einem Steak, der Hals aus Garnelen, der Kopf und der Schwanz aus verschiedenen Früchten, die Beine aus Gemüse und rundherum war die Speise mit Reis verziert. Durchsetzt war das Ganze mit einer orange bis feurig roten Soße. Die Band spielte immer noch im Hintergrund. Summer fühlte sich, als ob er durch ein imaginäres Loch in eine surreale Welt gesogen worden wäre. Ihm war natürlich klar, wie die Geschichte weitergehen würde, er sah sein Essen vor sich und traute sich in Anbetracht Helens Erzählung nicht, es anzurühren.

„Später bestätigte sich meine Befürchtung, es war tatsächlich die Maschine, in der meine Eltern saßen.“

Chris schaute sie an und sagte:

„Das tut mir wirklich sehr leid für dich!“

Sie erwiderte nichts, doch sie konnte fühlen, dass er es ernst meinte. Sie fühlte sich geborgen. Nach einer kurzen Pause sagte sie:

„Essen wir, bevor es kalt wird.“

Der Journalist erlegte seinen Drachen, indem er ihm Messer und Gabel in den Leib rammte. Gespannt führte er ein Stück zum Mund und begann zu kauen. Der Geschmack war unbeschreiblich gut. Er zerlegte das Tier in alle Einzelteile und wunderte sich etwas über die vielen Früchte, die dabei waren. Aus den Augenwinkeln sah er, dass Helen grinste. Noch während er sich fragte, was das nun wieder zu bedeuten hatte, wurde ihm heiß und das Wasser drückte sich durch alle seine Poren. Seine Augen tränten und seine Nase lief. Er öffnete den Mund so weit er konnte und rang nach Luft. Hastig ergriff er den Krug mit purem Wasser, der vor ihm stand, schenkte sich ein Glas nach dem anderen ein und leerte es jeweils in einem Zug. Dann wedelte er mit der Hand herum, so als ob er das Feuer löschen wollte, das sich in seinem Mund entfacht hatte. Helen konnte es sich nicht verkneifen, sie prustete vor Lachen. Als sich beide wieder gefangen hatten, schaute Helen ihn an und sagte:

„Die Zunge, die aus Leidenschaft brennt, um Funken der Wahrheit zu versprühen sucht der Törichte zu löschen, weil er es nicht ertragen kann, der Weise jedoch wird sich daran laben, wie der Singvogel an der Morgenstunde, die ihn zum Leben erweckt. Zitat Gerome T. Christian. Du musst die Früchte und das andere abwechselnd essen, dann ist es nicht so scharf.“

„Das hättest du mir auch früher sagen können.“

„Stimmt, aber dann hätte ich nichts zu lachen gehabt.“

„Wirklich sehr witzig, ha ha.“

Summer bemerkte, dass er Gefühle für sie hatte. Er mochte ihren Esprit versprühenden Charme. Gedanken machte er sich allerdings schon. Was war das für eine Frau und welche Geheimnisse barg sie in sich? Er kannte sie erst seit einem halben Tag und doch schien sie sein Leben bereits ziemlich intensiv zu beeinflussen. Warum redete sie so seltsames Zeug? Zuerst heute Morgen dieser Kampf mit Noname, dann der simulierte Sturm im Bad und jetzt dieses Zitat. Hatte das etwas zu bedeuten?

„Schmeckt es dir wenigstens?“

„Ja, das schmeckt unglaublich gut, aber es ist brutal scharf.“

„Weiß ich.“

„Willst du deine Geschichte weitererzählen? Es würde mich sehr interessieren.“

„Ja, klar.“

Helens Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. Sie kaute an einigen Happen, die sie in den Mund geführt hatte, überdurchschnittlich lange, als ob sie versuchte, Zeit zu gewinnen.

„Ich tat so, als hätte ich nichts gesehen und nichts gehört. Ich trank reichlich Alkoholisches, was aber den Gedankencocktail noch mehr zum Kochen brachte und letztendlich verlor ich die Kontrolle über mich. Ich soff, meine Freunde mit mir mit und die Party eskalierte. Ich schaute wieder ins Wohnzimmer, in dem man die Luft hätte schneiden können. Von den ungeladenen Gästen hatte jeder eine Tüte in der Hand und qualmte die Bude voll. Ich setzte mich zu ihnen und machte kräftig mit. Das ganze Haus begann, sich um mich zu drehen, immer schneller und schneller. Wie von einem wilden Tier gebissen sprang ich wieder auf und versuchte das Haus anzuhalten, aber es drehte sich weiter und weiter. Ich ergriff die Flucht Richtung Garten. Zum Glück waren noch ein paar gute Freunde da, die mich beruhigten. Ihnen war plötzlich klar, dass irgendetwas nicht stimmte, denn dass ich so außer Kontrolle geriet, hatten sie bei mir noch nie erlebt. Sie steckten mich in einen Schlafsack und blieben die ganze Nacht an meiner Seite, bis ich am nächsten Tag irgendwann aufwachte. In Haus und Garten sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen Leute herum und schliefen, der Rasen im Garten war gesäumt von leeren Flaschen. Irgendjemand musste mitten in das Equipment der Band gestürzt sein, Schlagzeug und Mikrofone lagen am Boden herum. Als ich einigermaßen bei mir war, fiel mir die Nachrichtensendung wieder ein. Der Gedanke, dass meine Eltern tot waren, traf mich mit der Wucht einer Bombe. Alle meine Hirngespinste in Bezug auf eine Überlebenstheorie verflüchtigten sich auf einen Schlag. Die pure, nackte Angst packte mich. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sprang ich durch die Gegend und schluchzte, denn jetzt wusste ich, dass sie tot waren. Was sollte jetzt nur aus mir werden?

Freunde, die noch da waren, nahmen mich in den Arm, streichelten mich und fragten, was los sei. Ich erzählte es ihnen. Sie versuchten nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen, denn auch sie spürten, dass es die Wahrheit war.“

Helen machte eine Pause, sie war bedrückt.

„Na ja, die Geschichte nahm ihren Lauf. Es war tatsächlich die Maschine meiner Eltern. Sie waren tot. Das war der erste Schicksalsschlag. Der zweite war, dass ich dann innerhalb kürzester Zeit mit rein gar nichts mehr da stand. Das Haus gehörte der Bank. Sie waren knallhart. Nachdem ich ja noch nichts verdiente, konnte ich auch keine Raten zahlen. Sie forderten das Haus zurück und schmissen mich raus. Meine Eltern hatten es versäumt, Vorsorge zu betreiben. Mein Vater verdiente ganz gut und wahrscheinlich haben sie geglaubt, dass es einfach immer so weiter geht. Ich meine, kannst du dir vorstellen, wie das ist? Auf einen Schlag verlierst du deine Eltern und dann dein Zuhause. Es war schrecklich, ich wollte nicht mehr leben. Ich wohnte dann mal hier und mal dort und schlug mich irgendwie durch.“

Summer fühlte mit ihr mit und war sichtlich berührt. Er schaute ihr tief in die Augen, alles um sie herum verlor plötzlich an Bedeutung. Als ob sie in einer Höhle säßen, so kam es ihm vor. Die Musik und das bunte Treiben im Lokal drangen nur noch gedämpft zu ihnen durch.

„Auf einmal hörte ich dann von Art-City. Von Beginn an war ich fasziniert, das ganze System schien mir nahezu perfekt zu sein. Als mir klar wurde, dass es wieder eine Chance für mich gab, entwickelte ich auch wieder Lebenswillen. Mein Wunsch war, kreativ tätig zu sein und so machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Damals war es noch einfacher in Art-City unterzukommen als heute. Wer es bis hinter die Pforten der aufstrebenden Siedlung schaffte, war so gut wie dabei. Ich präsentierte meine Vorstellung dessen, was ich tun wollte. Dafür brauchte ich nur ein Atelier, die nötigen finanziellen Mittel dazu und eine Wohnung. Die Sache mit dem Health-Leader kam übrigens erst sehr viel später. Da ich alle Voraussetzungen erfüllte, wurde ich aufgenommen in der großen Gemeinde Art-Citys. Für mich war das damals die Rettung meines Lebens. Die ganzen Formalitäten gingen ziemlich schnell über die Bühne und innerhalb kürzester Zeit hatte ich alles, was ich brauchte. Jeder, der hier lebt, hat die unglaubliche Chance, aus allem, was einem durch den Kopf geht, etwas zu machen. Der Schlüssel zur Stadt ist die feste Entschlossenheit und der Wille etwas zu tun. Von daher ist ein Florieren der Stadt vorprogrammiert.“ In etwa wusste Summer, wie die Stadt funktionierte, jedoch nicht im Detail. Bei ihm genügte die Stelle beim Dailys, um aufgenommen zu werden. Die Atmosphäre an ihrem Tisch war jetzt wieder etwas gelöster.

„Kannst du mir das etwas näher erklären?“, fragte Summer.

„Was soll ich dir näher erklären?“

„Na ja, das System dieser Stadt“, sagte er.

„Ach so, ja. Wenn du hier rein willst und beruflich noch nichts vorzuweisen hast, musst du so etwas wie ein Konzept schreiben. Das heißt, du musst erklären, was du vorhast, was du brauchst und was daraus werden soll. Ich wusste damals, dass ich gerne künstlerisch tätig sein wollte. Ich beschrieb ein paar Projekte, die ich im Kopf hatte und was ich dazu bräuchte. Wie gesagt, das bekam ich auch. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und wickelte ein Kunstprojekt nach dem anderen ab.“

Während Helen erzählte, schaute sie ihm unentwegt in die Augen, was dazu führte, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, doch tief in ihm wehrte sich etwas gewaltig dagegen.

„Wie funktioniert das Finanzielle?“

„Oh, das ist im Grunde ganz einfach. Jeder, der hier auf selbstständiger Basis arbeitet, zahlt einen bestimmten Steuersatz, der proportional zu den Einnahmen steigt. Ein Großteil dieser Steuern fließt einfach den Neuankömmlingen zu. Wie viel das ist, wird von der Verwaltung aufgrund verschiedener Kriterien berechnet. Diese wiederum brauchen davon nichts zurückzuzahlen. Durch die Bereitstellung der nötigen Mittel schaffen fast alle in kürzester Zeit den Durchbruch auf ihrem Gebiet und schon fließen wieder Gelder in die Stadtkasse.“

„Aha, klingt ja interessant. Aber was ist das Besondere daran? Funktionieren nicht alle Systeme in etwa so?“, fragte Summer.

„Das Besondere daran ist, dass absolut jeder eine Chance hat, egal welcher Vorbildung. Und weil keiner auch nur einen Dellron zurückzahlen muss, steht niemand unter Erfolgsdruck. Der Erfolg kommt ganz von allein. Das ist das ganze Geheimnis. Aber sag mal, wieso weißt du denn nichts von alldem? Du musst doch auch irgendwie in diese Stadt gekommen sein“, sagte Helen.

„Bei mir lief das alles ein bisschen anders ab. Ich hatte gehört, dass beim Dailys eine Stelle frei war. Was also lag näher, als mich hier zu bewerben? Meine Referenzen waren sehr gut und so hatte ich keine Probleme, den Posten zu bekommen. Ich suchte mir hier eine Wohnung und schon gings los. Anfangs durfte ich einige Artikel schreiben, bei denen ich mir die Themen selbst aussuchen konnte.“

Helens Blick verfinsterte sich, als sie ihm zuhörte. Sie wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er Journalist war. Zwar versuchte sie, ihre Angewidertheit zu verbergen, aber Summer bemerkte ihre Gemütsveränderung.

„Meine letzte Arbeit wollte ich über die Safeguardians schreiben. Aber mein Chef erteilte mir einen anderen Auftrag.“

„Aha“, sagte Helen trocken. Mit dem Essen waren sie beide fertig und Summer bezahlte die Rechnung. Er hielt es für weise, so zu tun, als hätte er von Helens Stimmungswandel nichts gemerkt. Er spürte, dass sie für ihn eine wichtige Quelle war, die nicht versiegen durfte.

„Wie kamst du denn in den Bodycheck, wenn du eigentlich Künstlerin bist?“

Helen versuchte wieder ihr verführerisches Lächeln aufzusetzen, Summer ließ sich davon aber nicht täuschen.

„Es ist schon spät. Wie wärs wenn ich dir das ein ander Mal erzähle? Ich möchte so langsam nach Hause.“

„Okay, einverstanden. Dann lass uns gehen.“

6

Art-City

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