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II. Die Jagd

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Durch den frühen Tod ihres neuen Häuptlings und den vorhergehenden Kampf verunsichert, waren die Mitglieder der Sippe wenig auf das Schicksal ihres schwächsten Gliedes bedacht. Tyrs Leid trug nicht dazu bei, sie in Hoffnung schwelgen zu lassen und ihren Hunger zu mildern, also vermieden sie jeden Kontakt zu ihm, selbst in Gedanken und Worten. Es schien fast, als wollten sie ihn und die bösen Geister, die sich in seinen schmächtigen Leib gefressen hatten, einfach vergessen. Schließlich klangen ihnen Vergils Worte unvergänglich in den Ohren nach. Und keiner von ihnen wollte das grausame Los des kleinen Jungen teilen.

Dies galt freilich nicht für seine Mutter und den neuen Häuptling Balder, die treu an seinem Lager Wache hielten und ihm die Ungnade eines einsamen Todes ersparen wollten. Liebevoll hielten sie seine zitternden Hände, wischten ihm mit warmem Wasser die Stirn und träufelten ihm sanfte Worte ins Ohr. Die Frau, die von Tag zu Tag älter zu werden schien, wich selbst in der Nacht nicht von der Seite ihres letzten Verwandten auf Erden. Jeden Morgen, wenn Balder kam, um nach ihr und dem Jungen zu sehen, rechnete er damit, ihn leblos in den Armen seiner Mutter aufzufinden. Doch obwohl Tyr entsetzliche Schmerzen hatte, trat dieser Tag nie ein. Mit der Zeit ließen die Blutungen im Mund nach, Verdauung und Sehkraft regulierten sich wieder und selbst die schwarzen Flecken zogen sich zurück. Nur auf der Brust des Kindes hielt sich eines der Scheusale tapfer und hinterließ eine großflächige, entstellende Narbe.

Auch die Kräuterfrau wurde auf dieses Phänomen aufmerksam. Sie warf die Hände über dem faltigen Haupt zusammen und dankte den gnädigen Göttern, dass sie ihre Sippe mit solch einem Glück gesegnet hatten. Diese Worte jedoch stießen bei den anderen Bewohnern der Höhle auf strikte Ablehnung. Schließlich waren die Vorräte vollends zur Neige gegangen und einen kranken Jungen, der sich zugegebenermaßen tapfer ans Leben klammerte, durchzufüttern, wenn selbst die Gesunden durch den Mangel um ihre Zukunft bangten, erschien ihnen nicht schlüssig. Auch Balders aufopferungsvolle Pflege missfiel ihnen, da er als Sippenführer Aufgaben von größerer Bedeutung zu erfüllen gehabt hätte. Insgeheim tuschelten die Frauen, er täte dies nur, um bei der unglücklichen Sigyn Leidenschaft für sich zu wecken. Gerade dies wurde tatsächlich zum Hauptproblem, da Balder in seiner neuen Position ein heiß begehrter Junggeselle war.

Von alldem wusste Tyr zu seinem eigenen Glück kaum etwas, als er eines Morgens, gut zwei Monate nach dem schicksalsträchtigen Duell in der Haupthalle, mit klarem Verstand erwachte. Er fuhr sich mit seinen dünnen Fingerchen durch das schweißnasse Haar und überlegte fieberhaft, wie lange er geschlafen hatte. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit konnte er wieder klare Gedanken fassen, der Alptraum aus Schmerzen schien sein unseliges Werk vollendet zu haben. Was nicht bedeutete, dass er sich nun von alldem erlöst fühlte. Im Gegenteil, er verspürte seinen Körper als Tollhaus, in dem eine ungezählte Meute von Raubtieren ein wüstes Schlachtfest feierte. Trotzdem war dies eine deutliche Verbesserung.

Als er seinen Blick durch die niedrige Höhle schweifen ließ, sah er in das Gesicht seiner Mutter, die nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Erdboden schlief. Sie war in ein dünnes Fell gewickelt, ihr Haupt lag auf einem Bündel Tücher. Ihr Atem flutete stoßweise den Raum und Tyr verspürte ein heimatliches Gefühl, als er ihrem leichten Schnarchen lauschte. Aufgrund des fehlenden Tageslichts wusste er zwar nicht, dass es gerade Morgen wurde, aber irgendwie musste seine innere Uhr die letzten Wochen heil überstanden haben. Er war sich sicher, dass auf der Oberfläche gerade ein neuer Tag anbrach.

Dass er damit recht behalten sollte, zeigte sich, als Balder sich in diesem Moment durch den Vorhang der Pforte zwängte und Tyr einen Blick auf ihn erhaschte. Die ohnehin dunkle Haut des Mannes war unter der Augenpartie dunkler als sonst, er schien wenig geschlafen zu haben. Sein von Müdigkeit erschlafftes Gesicht gewann jedoch augenblicklich wieder an Spannung, als er den Jungen aufgerichtet auf seinem Lager vorfand.

„Bei Asgards goldenen Schlössern! Tyr, du bist wach?“

Der Häuptling war so erstaunt, dass sein lauter Ruf weder die richtigen Worte enthielt, noch den Schlaf seiner neuen Geliebten zu fördern vermochte. Sie schoss erschrocken empor. Als sie ihren Sohn aufgerichtet sah, brach sie in Tränen der Freude aus und umarmte ihn aufs Herzlichste.

„Mein Junge…“, war das Einzige, was immer und immer wieder brüchig über ihre Lippen kam. Balder eilte zum Eingang des Zimmers. „Ich hole die Kräuterfrau, sie muss das Wunder mit eigenen Augen sehen! Bei allen siegreichen Asen, ich kann es kaum fassen.“

Es dauerte nicht lange, da sammelte sich eine große Traube tuschelnder Menschen um den Eingang des Schlafgemachs. Hatte man die jubelnden Worte der Weisen vor einigen Tagen noch als einen Aufruf zur Standhaftigkeit verstanden, war das Erstaunen groß, dass das Kind tatsächlich zu genesen schien. Und dies war fast unvorstellbar, schließlich kannten sie den Verlauf dieser Krankheit nur allzu gut.

Nach einiger Zeit bildete die Sippe eine Art Spalier, durch das die ehrenvolle Alte, völlig ungemäß ihres Standes, von Balder hinter sich hergezogen wurde.

„Er ist gänzlich bei Bewusstsein und hat sich aus eigener Kraft aufgerichtet. Es ist Leben in seinen Augen, seht es selbst, Ehrwürdige.“

Die Stimme des Anführers war von ehrlicher Freude getränkt, denn er hatte dem vermeintlich verlorenen Sohn seiner Geliebten schon vor langer Zeit eine Kerbe in seinem Herzen zugewiesen. Und nun schien diese nicht verwaisen zu müssen.

Als die Kräuterfrau den Raum betrat, fand sie eine um Jahre verjüngte Frau und einen erschöpften, aber lebendigen Jungen vor. Sie wirkte verzückt, er eher entsetzt. Schließlich assoziierte er den Anblick der Weisen stets mit der Götterwelt, was auch ihr eine gewisse Heiligkeit bescherte. Ihr thermoplastischer Kopfschmuck wippte bei jedem Wort, das ihre faltigen Lippen verließ.

„Wie geht es dir, mein Kind? Bist du von langem Schlaf erwacht?“

Tyr nickte mit schreckgeweiteten Augen. Seine Lippen zitterten. Er hatte vorher nie geahnt, wie viel Respekt er der Alten entgegenbrachte. Nun kam sie näher auf ihn zu, die Meute hinter ihr hielt gespannt den Atem an. „Es ist ein Wunder, mein Kind. Ein Wunder! Bist du dir dessen im Klaren?“

Tyr wusste nicht, wie er reagieren sollte. Zum Glück schien man keine Antwort von ihm zu erwarten, denn die Kräuterfrau fuhr fort: „Bisher hat noch kein Mann und keine Frau einen solch schweren Biss der Geister überlebt. Dies gilt nicht nur für unsere Sippe, sondern für den ganzen Stamm… Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“

„Muss ich sterben?“

Die alte Frau ließ ein kehliges Lachen ertönen und beugte sich zu dem verängstigten Kind herunter. „Nein, mein Junge. Ich denke, bei Wotans Raben, dass du die Geister gezähmt hast, die deinen Körper bewohnen.“

Tyr rutschte unruhig hin und her. Allein der Gedanke an diese Kreaturen, die ihm so viel Leid gebracht hatten, machte ihn nervös. Dazu noch dieser Trubel, der um ihn gemacht wurde. Das alles war zu viel für ihn. Trotzdem versuchte er, der Situation Herr zu werden, und fragte mit bebender Stimme: „Und was bedeutet das?“

Die Alte setzte ein diebisches Lächeln auf und fuhr mit ihren knochigen Fingern über seine Wange. „Die bösen Geister beißen dich nicht mehr, sie haben dich als ihrer würdig anerkannt.“

Langsam, überaus langsam, verzogen sich Tyrs dünne Lippen zu einem triumphierenden Lächeln. „Sie können mir nichts mehr antun?“

„Nein, ich denke nicht, mein Kind.“ Die Kräuterfrau kniff ihm tadelnd in die Wange und spuckte ihm über die Schulter, ein liebevolles Zeichen des Spottes. „Aber glaube ja nicht, du wärst nun etwas Besonderes. Merke dir meine Worte – merke sie dir für den Rest deines Lebens! Du bist deiner Familie Blut, deiner Sippe Kraft und deines Stammes Leben. Für dich allein bist du nur ein Sack Haut, mit Knochen und Fleisch gefüllt. Nur die Gemeinschaft ermöglicht es uns, in dieser Welt zu überleben, und unser Häuptling Balder wird dir das nötige Rüstzeug mitgeben, Familie, Sippe und Stamm dienstbar zu sein. Hast du das verstanden?“

Das Lächeln des Kindes wich einem ernsteren Ausdruck, doch sein Haupt nickte zustimmend.

„Aber du wirst – gesetzt den Fall, dass ich recht habe – von besonderem Nutzen für uns sein, denn du kannst die verbotenen Orte aufsuchen, wo wir von den tödlichen Bissen der Geister niedergestreckt werden. Du wirst das Auge und das Ohr unserer Sippe sein und uns unbezahlbare Dienste bei der Jagd leisten.“

Irgendetwas in den Worten der Frau ließ Tyr ein aufgeregtes Kribbeln im Magen verspüren, vielleicht war es auch nur sengender Hunger, der ihn auf diese Weise subtil erreichen wollte. Im Grunde war es auch völlig egal. Es fühlte sich gut an, sehr gut sogar.

Nun trat Balder näher an die Weise heran.

„Ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten, Ehrwürdige.“

Die alte Frau ließ von Tyr ab und wandte sich ganz dem Häuptling zu. „Was liegt dir auf dem Herzen, Sippenführer? Möchtest du meinen Schiedsspruch ablehnen und mich ersuchen, den Jungen einem anderen in Obhut zu übergeben? Ich denke, dein Freund Donar wäre sehr enttäuscht von einer solchen Entscheidung und würde an Wotans Tafel wüten wie zu Lebenszeiten nicht.“

Balder jedoch machte eine abwehrende Handbewegung und antwortete: „Nein, du verstehst mich falsch, Weise. Ich möchte dich vor versammelter Sippe, denn viele Ohren lauschen hinter dem Vorhang, um dein Einverständnis bitten, mich mit der Mutter des Jungen zu vermählen. Ich habe ihren Bruder geliebt wie meinen eigenen und soll nun ihren Sohn für die Sippe erziehen. Warum also sollte ich nicht sein Vater werden?“

Tyr sah ihn erstaunt an.

Er hatte Balder schon immer gemocht, den besten Freund seines bewunderten Onkels. Aber der Ziehsohn des Häuptlings zu werden, das erschien ihm doch sehr merkwürdig und auf eine diffuse Weise unangemessen. Die gemeinschaftszentrierte Lehre der Kräuterfrau hatte in ihm den Wunsch verankert, in der Sippe aufzugehen, als Gleicher unter Gleichen. Und nun waren da seine gefürchtete Versehrung durch die Geister und seine unerwartete Genesung, was ihn in den Augen der anderen eher suspekt denn ehrenwert erscheinen ließ. Wirkliches Ansehen konnte man meist nur in aufopfernder Arbeit erlangen, etwa als erfolgreicher Jäger, wenn man männlichen Geschlechts war, oder durch das Gebären vieler Kinder, was auf ihn beim besten Willen nicht zutraf. Er blickte ängstlich zum Vorhang hinüber und konnte schon fast das Gerede und Geflüster der Menge vernehmen. Was ihm sein wirklicher Vater in der Vergangenheit schon zur Genüge eingebracht hatte. Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, bitterlich zu weinen wie der kleiner Bengel, der er ja tatsächlich war. Er verkniff es sich trotzdem.

Die Kräuterfrau indes rieb sich ihr Kinn und musterte Balder eindringlich. Das wippende Haupt in Falten des Nachdenkens gelegt, schienen ihre fahlen Lippen eine Melodie zu formen, die niemand zu hören vermochte. Schließlich sprach sie: „Du kannst sie zur Frau nehmen, aber gedenke deiner Pflicht und erziehe den jungen Tyr zu einem wertvollen Mitglied der Sippe. Denn unsere Gemeinschaft hat, wie du weißt, viel zu wenig Männer in ihren Reihen, die das nötige Wild erlegen könnten. Wir brauchen jeden starken Arm, um zu überleben. Madras ist kalt und grausam.“

„Sie zur Frau zu nehmen wird mich nicht von meinen Pflichten abhalten, im Gegenteil. Und ich werde meinen mir anvertrauten Sohn zu großer Kraft und Geschicklichkeit erziehen, sobald er sich erholt hat.“

Balder hatte die Schwurhand erhoben und war in eine monotone Stimmlage verfallen, wie sie einer Beschwörung angemessen gewesen wäre. Es war stets besser, der Kräuterfrau mit etwas Pathos zu begegnen. Anderenfalls konnte man schnell mit ihr im Zwist enden, wobei meist klar war, wer in dieser Konfrontation den Kürzeren ziehen würde.

So kam es also, dass Balder Tyrs Mutter zur Frau nahm, sehr zum Unmut der unvermählten Frauen der Sippe, und mit ihr zusammen den Neffen seines besten Freundes zum Sohn bekam. Seine Worte an die Kräuterfrau waren, wie sich bald herausstellen sollte, nicht bloß der Wirkung wegen in den Wind gesprochen, sondern von ehrlichem Willen geleitet. Balder brannte darauf, aus Tyr einen ehrbaren Jäger zu formen. Und ihn zu seinem Verwandten zu machen, auch wenn sie nicht dasselbe Blut teilten. Donar, da war sich der Häuptling sicher, hätte es nicht anders gewollt.

Man gönnte dem jungen Tyr noch einige Tage der erholsamen Ruhe, in denen er viel schlief und so die zeremonielle Vermählung seiner Mutter verpasste. Er empfand ein leichtes Gefühl der Enttäuschung darüber, denn eine Häuptlingshochzeit hatte die Sippe seit vielen Jahren nicht mehr erlebt, doch war ihm ebenso bewusst, dass die Feier kaum so üppig ausgefallen war, wie man ihm von solchen Zeremonien üblicherweise berichtete. Damals war viel Fleisch auf die hölzernen Teller gekommen, geräuchert, gesalzen, in Form einer Suppe oder auf Spießen gebraten. Dazu Kräuter und Pflanzen, welche die Frauen wildwachsend auf der Oberfläche gesammelt hatten. Diesmal war alles ein wenig anders gewesen, wie er aus den Erzählungen der Erwachsenen schloss. Dünn geschnittenes Fleisch, kaum frisches Gemüse. Auch der Gesang und die Ausgelassenheit der Sippe muss sich in Grenzen gehalten haben, denn er war kein einziges Mal durch Geräusche aus der großen Halle geweckt worden. Vielleicht hatte er nur einfach zu fest geschlafen, aber daran glaubte er trotz seiner noch immer vorhandenen kindlichen Naivität nicht. Selbst er wusste, dass dies keine guten Zeiten waren.

Seine Mutter und Balder schienen sich daraus allerdings wenig zu machen. Er sah seine Mutter endlich wieder lachen, so, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Erst nun, da sie vor seinen Augen aufblühte, erkannte er, wie traurig sie all die Jahre gewesen sein musste.

Über Wochen bekam er nur seine Mutter und gelegentlich Balder zu sehen. Er vermisste die heimische Atmosphäre des großen Saals, aber er konnte nicht von sich behaupten, einsam zu sein. Die anderen Kinder waren ihm gleichgültig, auch wenn dies nach den Regeln der Sippe eine schändliche Geisteshaltung war. Er hatte die schlechte Meinung über seinen angeblich wahnsinnig gewordenen Vater zu oft am eigenen Leib gespürt oder eher an seiner Seele. Auch seine Mutter war nie beliebt gewesen, zumindest so lange er sich erinnern konnte. Einzig der Respekt, den man Donar unverblümt entgegenbrachte, hatte sie davor bewahrt, aus der Sippe verstoßen zu werden. Dieser Schutz ging nun von Balder aus, auch wenn Tyr seinen Ziehvater nicht auf diese Weise betrachten sollte, wie seine Mutter ihn ermahnte.

Er war also nie besonders beliebt gewesen, nun jedoch gingen ihm die anderen Kinder förmlich aus dem Weg. Er bemerkte es, als er nach Tagen wieder in die große Halle kam, um zu essen. Sie sahen ihn verstohlen an und wenn er den Blick erwiderte, wandten sie sich erschrocken ab. Als sie auf dem Boden vor der Weisen saßen, um die Wahrheit über Asgard und Midgard, die Asen und die Riesen zu erfahren, setzten sie sich möglichst weit von ihm weg. Als er zu ihnen rutschen wollte, taten sie es ihm gleich. Allerdings weg von ihm. Dasselbe beim abendlichen Spielen, bei dem er nicht teilnehmen durfte. Sie fürchteten oder verachteten ihn, er spürte es in jeder Faser. Sie hatten Angst vor seiner Krankheit, deren glückliches Ende sie mehr verunsicherte, als ein plötzliches Ableben es getan hätte. Dies traf in erhöhtem Maße auch auf die Eltern zu. Nichts war innerhalb der Sippe so gefürchtet, wie ins Abseits zu geraten. Beim übergeordneten Stamm verhielt es sich ähnlich. Wenn eine Sippe aus der Reihe tanzte und die anderen gegen sich aufbrachte, musste sie ihr angestammtes Gebiet verlassen und anderen Familien weichen, die dort eine neue Sippe gründeten. Im schlimmsten Fall wurde sie in einem kriegerischen Akt ausgelöscht. So etwas war schon vorgekommen, wie ihm sein Onkel einst erklärt hatte. Dieses Wissen hatte Tyr damals bereits schwer zugesetzt, nun kam es brodelnd aus seinen Eingeweiden aufgestiegen, um ihn erneut zu quälen. Sippenmitglieder töten andere Sippenmitglieder desselben Stammes, er empfand es wie den Mord eines Sohnes an seinem Vater oder Totschlag unter Brüdern. Unvorstellbar und fernab seiner Realität. Das durfte und konnte nicht sein. Die anderen Mitglieder seiner Sippe schienen ähnlich zu empfinden. Der Holmgang zwischen Donar und Vergil hatte sie zutiefst verunsichert.

In trübe Gedanken gehüllt, aber von seiner wiederkehrenden Gesundheit aufgerichtet, verbrachte Tyr die nächsten Wochen im Höhlenkomplex der Sippe, ohne einen einzigen Sonnenstrahl zu Gesicht zu bekommen. Die Männer, auch sein frischgebackener Ziehvater, waren nahezu ununterbrochen auf der Jagd, häufig sogar über mehrere Nächte. Doch ohne großen Erfolg. Die Herden waren tatsächlich weitergezogen, die kalte Jahreszeit stand ins Haus, obwohl Tyr in diesem Jahr ohnehin noch keinen wirklich warmen Tag erlebt hatte. Der Wind, der durch Madras fuhr, war stets von einer gewissen Bissigkeit, an die man sich schwerlich gewöhnte, wenn man sein Leben geschützt unter der Erde verbrachte.

Seit der Vermählung seiner Eltern waren ruhige Tage vergangen, an denen Tyr von einem durchgehenden Hungergefühl begleitet worden war, als Balder nach einer weiteren erfolglosen Jagd auf ihn zukam und ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Tyr, mein Sohn. Ich denke, es ist an der Zeit, dass du ein Mann wirst. Ich möchte dich morgen mit auf die Jagd nehmen, an die Oberfläche. Fühlst du dich dazu bereit?“

Das Herz des Jungen machte einen gewaltigen Satz, denn er hegte seit Wochen den Wunsch, der Eintönigkeit der Höhle und seinen trüben Gedanken auf diese Weise zu entkommen.

„Natürlich, Vater. Ich bin bereit, der Sippe zu dienen. Werde ich einen Speer bekommen, um die Tiere mit ihm zu erlegen?“

Der Häuptling jedoch stieß nur ein missmutiges Schnauben aus.

„Die Götter müssten uns wirklich hold sein, wenn wir tatsächlich dazu kämen, große Beute zu machen. Aber für dich haben wir ohnehin eine andere Aufgabe. Du sollst, wie die Kräuterfrau es weissagte, unser Auge und unser Ohr sein.“

Tyr verzog unglücklich die Mundwinkel, denn in seiner Fantasie war er stets ein heldenhafter Jäger gewesen, anstatt nur der Knabe, der den Männern den Weg wies. War es überhaupt die richtige Aufgabe für ihn? Schließlich kannte er die Oberfläche kaum. Nun lachte Balder dennoch verbunden und klopfte seinem Ziehsohn auf den Rücken.

„Ach, Junge, mach nicht so ein Gesicht. Du wärst doch sowieso nicht imstande, den Speer richtig zu führen. Das werde ich dir eines Tages beibringen, aber morgen sollst du erst lernen, wie man sich anschleicht, ohne die Beute zu verschrecken. Wenn es überhaupt welche gibt, die wir verscheuchen könnten, versteht sich.“

Die freundlichen, spöttischen Worte des Mannes brachten Tyr zum Schmunzeln, auch wenn ihm der traurige Unterton nicht entgangen war. Er freute sich auf den nächsten Tag, sein Herz schlug in sehnsüchtiger Erwartung.

Als er versuchte, den anderen Kindern von seinem kommenden Abenteuer zu berichten, war von der erhofften Anerkennung wenig zu spüren. Die Jungen, es waren außer ihm nur drei andere, waren von Neid erfüllt und warfen ihm böse Blicke und Worte zu, um sich danach davonzumachen. Die Mädchen verlachten ihn und imitierten seinen angeblichen Versuch, eine große Raubkatze mit bloßen Fäusten niederzuringen. Die Darstellung endete schließlich damit, dass er im Magen der Bestie landete, was mit johlendem Beifall quittiert wurde. Tyr stahl sich beleidigt davon. Den Gedanken, dass er eines Tages wahrscheinlich eines dieser feixenden Gewächse zum Weib nehmen musste, empfand er als eine schreckliche Zumutung. Sich für eine von ihnen entscheiden zu müssen, erschien ihm wie die Wahl zwischen Halsschmerzen, eiternden Wunden, einer Warze oder hartnäckigem Durchfall. Umso mehr freute er sich auf die morgige Jagd. Er würde allen beweisen, was er leisten konnte.

Die Nacht wurde für Tyr zur Prüfung, in der er seine rasenden Gedanken selbst mit Gewalt nicht zur Ruhe zwingen konnte und er sich nervös hin und her wälzte. Bilder von Heldentaten, Blut und reicher Beute, unterlegt von wildem Jagdgeschrei, beanspruchten ihn wie nie zuvor, auch wenn er sich bewusst war, dass der Löwenanteil der Ehre wohl den Erwachsenen zuteilwerden würde. Ebenso war er sich im Klaren darüber, dass sich seine Vorstellungen von der Jagd im Wesentlichen aus den Geschichten der Jäger, vermengt mit den Spielen der anderen Kinder, speisten. Vom tatsächlichen Jagdhandwerk wusste er im Grunde nichts. Doch spätestens in seinen wüsten Träumen wurde dies ins Gegenteil verkehrt. Er sah sich im Traum als Donar, mutig und verwegen, mit gestähltem Körper und einem Blick so frostig wie die Stürme an der Oberfläche. Ein Speer lag fest in seinen schweren Händen und die jüngeren Männer sahen ehrfürchtig zu ihm auf, als er den Kopf in den Wind stemmte, um die Witterung aufzunehmen. Es war perfekt.

Als er erwachte, fühlte er seinen Leib wieder die gewohnte schmächtige Statur annehmen. So stark er sich in seinen Träumen gefühlt hatte, so erbärmlich kamen ihm seine Fähigkeiten in dieser Welt vor. Schließlich war er nur ein Kind, ein Welpe. Und sein Onkel war tot, schon seit mehr als sechs Monaten.

Mühevoll versuchte Tyr, sich zu erheben, nur um wieder auf sein Schlafgemach zu sinken. Er verdrehte sich wirr in seinen Schlaftüchern, gähnte laut. Die Dunkelheit in seinem Zimmer war so tief und undurchdringlich, dass es womöglich noch viel zu früh war, um mit Balder und den anderen Männern loszuziehen. So verlor er sich wieder in einem unruhigen Dämmerschlaf, als er unterschwellig bemerkte, wie sich jemand durch den Vorhang in sein Zimmer schlich. Sein Herz begann zu rasen, ein nie verloren gegangener Urinstinkt pumpte Adrenalin in seine Adern. Als sich eine Hand ausstreckte, um ihn wachzurütteln, saß er bereits kerzengerade im Bett.

„Tyr, wach auf. Wir müssen los. Wenn wir Glück haben, werden wir heute etwas Blut vergießen.“

Die Stimme war dem Jungen wohlbekannt. Der letzte Satz ebenfalls, denn er wurde von den Jägern der Sippe als Credo genutzt.

„Ich habe kaum geschlafen“, antwortete er, nicht ohne eine Spur selbstgefälligen Stolz in die Worte einzubringen. Schließlich war er seit Stunden von keinem anderen Gedanken besessen gewesen. Er war vorbereitet.

Balder machte ein erfreutes Geräusch, ein kehliges Glucksen, das vielleicht mal ein Lachen geworden wäre. Der Junge erinnerte den alten Jäger so sehr an sich selbst, als er ein Knabe gewesen war, dass es ihm warm ums Herz wurde.

„Prächtig. Dann steh mal auf. Wir haben große Taten zu vollbringen.“

Nun war es Tyr, dem ein jähes Glücksgefühl durch die Brust raste. Die Worte des Häuptlings waren nicht frei von väterlichem Spott, aber trotzdem schmeichelhaft, wie er fand. Eilig sprang er aus seinem Bett, zog sich seine Kleider über die nervös zitternden Glieder und entfachte die Benzinlampe, die abseits seines Lagers hing. Im tänzelnden Schein des Lichts erinnerte Balder an die mystischen Gestalten, die Tyr aus den Erzählungen der Kräuterfrau kannte. Eine doppelte Weste aus gegerbtem Vogelleder, die ihn vor leichten Stößen und Stichen bewahren sollte, hing über seinen Schultern. Auf den Rücken gebunden prangte ein langer Speer, im Gürtel befanden sich diverse Messer und eine ungefähre Karte der Oberfläche rund um ihren Höhleneingang. Der Junge war tief beeindruckt und hätte beinahe eine wichtige Frage zu stellen vergessen. Nun jedoch entsann er sich.

„Was soll ich mit mir führen? Was brauche ich auf der Jagd?“

Tyr dachte dabei hauptsächlich an seine Glücksbringer und sein schartiges Schneidewerkzeug aus Stein. Abermals betrachtete Balder ihn mit einer Mischung aus Zuneigung und Spott.

„Deinen Kopf solltest du nicht vergessen. Er wird dir heute die besten Dienste erweisen. Zumindest sollte er das, wenn du klug bist.“

Diese Antwort war ganz und gar nicht, was sich der Junge gewünscht hatte. Also fragte er: „Und meine Klinge?“

„Du meinst dein steinernes Spielzeug, mit dem du unlängst noch Käfer ermordet hast? Ja, das darf natürlich nicht fehlen!“

Schon wieder nicht die erhoffte Antwort.

Nach einer Weile fanden sich die Männer in der Haupthalle ein, die Frauen und Kinder schliefen meist noch. Tyr wich seinem Ziehvater kaum von der Seite. Scheu blickte er zu den anderen Jägern auf, die sich mit Farbe einschüchternde Muster auf die Gesichter gemalt hatten. Zwar hatte er sie schon öfters so gesehen, dann jedoch meist im Schein vieler Lichter, nicht in dieser drückenden Dunkelheit, die sie wie Dämonen aus einer anderen Welt erscheinen ließ. Es wurde wenig gesprochen, ab und zu ein Husten, ein kurzes Stoßgebet und ein unterdrücktes Gähnen. Mit flauem Kribbeln im Magen betrachtete Tyr die Stelle, an der Vergil seinen Tod gefunden hatte. Ein hartnäckiger bräunlicher Fleck auf dem hölzernen Boden blieb zu sehen, der nicht kleinzukriegen war. Tyrs Furcht vor dem früheren Häuptling war nie ganz verschwunden. Sein getrocknetes Blut erschien ihm an diesem Morgen wie ein schlechtes Omen.

Balder folgte seinem Blick, starrte eine Weile seinem Ziehsohn gleich in die Luft und verfinsterte schließlich seine Züge.

„Dein Geist muss frei sein, mein Junge. Frei wie ein Vogel und scharf wie unsere Messer. Was wir heute tun, geschieht nicht der Freude wegen. Auch nicht, um uns zu beweisen oder Ruhm zu ernten. Wir müssen jagen, um zu überleben. Wir brauchen das Fleisch. Deine Mutter hat Hunger, nicht?“

Der letzte Satz ließ Tyr ärgerlich aufhorchen. Ja, sie hatte Hunger. Und das wusste der Häuptling genau. Warum zum Teufel stellte er eine so sinnlose Frage? Zu seiner Überraschung begann der Jäger plötzlich zu grinsen, selbstsicher und spöttisch.

„Na, siehst du? Warum bedauerst du ihren Hunger? Tu etwas dagegen!“

Nun begriff Tyr und auch er begann zu lächeln. Balder klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und ging zu den anderen Männern hinüber.

„Sind alle soweit?“, fragte er in die Runde.

Kollektives Kopfnicken war die Antwort, obwohl keiner der Anwesenden Tatendrang versprühte. Viel zu oft waren sie ohne Beute heimgekehrt, zu ihren enttäuschten Verwandten und Sippengeschwistern. Das Klagen und die leeren Blicke lasteten schwer auf ihren Schultern. Es war fast so, als hätte Donars Tod das endgültige Ende ihres Jagdglückes besiegelt. Wovon sie sich die letzten Wochen ernährt hatten, waren nur Reste und vereinzelte Treffer gewesen, zu viel zum Verhungern, zu wenig zum Leben. Die Stimmung befand sich an einem Tiefpunkt.

Nicht so die von Tyr.

Er war in fieberhafter Hochstimmung, gepaart mit einer tiefschürfenden Nervosität, als sie an die Oberfläche traten. Zwar war die Sonne noch nicht erwacht, aber allein die kalte, klare Luft, welche die Lunge des Jungen füllte, war ein Erlebnis. Er atmete tief ein, zu tief vielleicht, denn bald darauf begann es zu schmerzen. Es war ihm gleichgültig. Er zog die Weste vor seinem Mund zusammen und sah zum fernen Horizont, der sich langsam aber sicher zu verfärben begann. Die riesigen Schuttberge und Häuserruinen, viele Male so hoch wie alle Jäger zusammen, ragten scharfkantig gegen den relativ hellen Himmel, an dem nur noch wenige Sterne standen. Eine seltsame Ruhe lag über der Welt. Kein Laut war zu vernehmen, kein Vogelschreien, kein Rascheln kleiner Tiere. Nur das leise Klopfen, wenn einer der Männer aus Versehen einen Stein lostrat. In einer windgeschützten Mulde inmitten der Steinwüste entfachten sie ein kleines Feuer, welches Balder der Jagdgöttin Skadi weihte. Jeder von ihnen beugte sich einmal herab, murmelte einige persönliche Worte der Verehrung und verbrannte eine symbolische Opfergabe. Meist handelte es sich um kleine Stücke Fleisch, schmückende Plastikfragmente oder ein Kleinod von ideellem Wert. Obwohl nicht alle Jäger die Asen so aufrichtig verehrten wie der Häuptling oder Forseti, so wollte doch niemand das Risiko eingehen, die Göttin der Jagd zu verärgern.

Als Tyr gerade drohte, sich im Anblick der hungrigen Flammen zu verlieren, erhob Balder seine Stimme:

„Gut, Männer. Forseti, Heimdall und Lodur gehen in Richtung der aufgehenden Sonne. Ich, Tyr und Delling gehen entgegengesetzt. Seid ihr alle einverstanden?“

Die Jäger nickten. Alle bis auf einen.

„Es ist ohnehin völlig egal…“, antwortete Heimdall mit verdrießlicher Miene. Er hatte leise gesprochen, aber seine Augen blitzten herausfordernd und hielten dem strengen Blick des Häuptlings stand. Er hatte in den vergangenen Wochen viel zu leiden gehabt. Seine kleine Tochter war aus dieser Welt gegangen, wahrscheinlich eine Folge der schlechten Ernährung. Und seine Frau war krank, ebenso sein Sohn. Er hatte seit Tagen kein Wild mehr erlegt. Und er war absolut am Ende seiner Kräfte.

„Ich habe euch offen gefragt, ihr hattet alle das Recht ehrlich zu antworten. Also denn, sprich! Was hast du an meinem Plan auszusetzen?“

Balder schien nicht sehr zornig zu sein, aber ein gewisser Glanz lag in seinen Augen. Dies schien auch Heimdall nicht entgangen zu sein, denn er wirkte nun vorsichtiger. Schließlich rang er sich doch dazu durch, etwas zu erwidern.

„Es ist nur, weil… Du weißt es doch selbst...“ Er benötigte einige Augenblicke, dann fasste er den Mut, die Stimme zu heben. Als er fortfuhr, schrie er fast. „Die Herden sind weitergezogen, schon vor Monaten. Alles, was wir finden, sind kranke Nachzügler, fast schon Aas! Wir sind verloren, sage ich. Verloren!“

Tyr vernahm noch Sekunden später das Echo in der kahlen Welt umher. Dann herrschte Stille. Nur das Atmen der Umstehenden drang schwach an die Ohren des Jungen.

Balder holte tief Luft und schnaufte sie bedächtig wieder aus. Dann hob er den Kopf und sah auf sein Gegenüber herab. Die Unbeteiligten hatten längst einen Kreis um die beiden gebildet.

„Du willst nicht mehr jagen? Du willst aufgeben und verhungern? Ist es das?“ Die Worte waren langsam und kühl über seine Lippen gerollt.

„Nein. Aber ich habe keine Kraft mehr. Ich bin es leid, so leid. Meine Frau wird sterben, während ich nicht bei ihr bin. Und mein Sohn wird kaum das Mannesalter erreichen. Was gibt es dann noch für mich zu tun?“ Tränen standen in Heimdalls Augen.

Tyr erschrak, denn er hatte nie einen der Jäger weinen sehen. Er empfand es als tief beschämend. Nicht im Sinne einer Schande, sondern als eigentümlich beunruhigendes Eingeständnis seiner Schwäche. Und wenn schon die erwachsenen Männer schwach wurden, wie sollte es dann ihm ergehen?

Schließlich antwortete Balder: „Du hast die Wahl. Und wiederum auch nicht. Entweder du tust deine Pflicht als Sippenbruder oder du triffst eine Entscheidung gegen unsere Gemeinschaft. Dann wird sie sich gegen dich wenden. Denn wie du weißt, sind wir alle nur Werkzeuge der Gemeinschaft.“

Er sprach diese Worte wie zu einem Kind und warf auch Tyr einen kurzen Blick zu. Der Junge wandte die Augen ab. Wieso sah er gerade ihn an?

Heimdall mied den Blick des Häuptlings, wischte mit dem Ärmel über seine Augen und schluckte. Plötzlich schlug er sich hart gegen die Brust und stieß einen wilden Ruf aus: „Wir müssen heute noch Blut vergießen!“

Er schnaufte tief, aber sein Blick schien klarer als vorher. „Es tut mir leid, Häuptling. Ich…“

Balder unterbrach ihn: „Schweig. Dir ist an diesem Morgen schon genug Unnützes aus dem Mund gekommen. Es sei dir verziehen, wenn du dich nur endlich zusammennimmst.“

Mit diesen Worten drehte sich Tyrs Ziehvater herum und winkte seine Männer hinter sich her. Delling und der Junge folgten ihm, die anderen drei gingen in die entgegengesetzte Richtung.

Stunden später wanderten die drei einen teilweise stark verschütteten Pfad entlang, einen asphaltierten Weg, in dessen Mitte sich hier und da Streifen weißer Farbe fanden, die stark verblasst waren. Die beiden Erwachsenen waren schweigsam, wahrscheinlich, um die Beute nicht zu verschrecken. Tyr selbst gab sich Mühe, es ihnen gleichzutun. Aber seine Gedanken schweiften noch immer um jene Auseinandersetzung am Eingang ihrer Höhle. Was war nur in Heimdall gefahren, sich gegen den Häuptling aufzulehnen? Und was noch wichtiger war: Hatte er am Ende Recht damit, dass sie verloren waren? Schließlich war auch dem Jungen nicht entgangen, dass es in letzter Zeit sehr wenig Nahrung gegeben hatte. Ihn schauderte, als er sich das Gehörte erneut durch den Kopf gehen ließ, und er beschloss, seinen Ziehvater darauf anzusprechen. Dieser bemerkte den neugierigen Blick, der ihn von der Seite traf, und zischte:

„Wir müssen still sein. Das Wild könnte uns hören und Reißaus nehmen.“

Dann wandte er sich wieder ab. Der Junge biss sich auf die Lippen. Er hätte sich denken können, dass man auf der Jagd nicht zu plaudern pflegte wie die Frauen beim Zubereiten der Beute.

Plötzlich riss Balder den Arm empor und duckte sich. Pfeilschnell und ohne einen Laut von sich zu geben tat Delling es ihm gleich. Tyr kniff die Augenlider zusammen und sah angestrengt voraus. Er konnte, obwohl die Sonne mittlerweile aufgegangen war, kaum etwas erkennen. Doch, da war etwas! Eine pelzige Kreatur, ungefähr bis zu den Knien eines erwachsenen Mannes hoch, huschte flink über die Steinhalden.

„Ratte“, murmelte Delling, während der Häuptling seinen Speer hob. Nach einigen quälend langen Sekunden des Wartens schleuderte er die Waffe voraus. Ein heiseres Quieken ertönte. Das Tier schoss getroffen an ihnen vorbei, verhedderte sich mit der Speerspitze, die ihm aus dem Bauch ragte, am Untergrund und überschlug sich. Mit wild zuckenden Beinen blieb es liegen. Tyrs Herz hämmerte wie verrückt, als der andere Jäger aufsprang, ein Messer zückte und zur verwundeten Kreatur herüber rannte. Ein tiefer Kehlenschnitt beendete ihr Leid. Blutbesprenkelt kniete sich Delling nieder und stieß ein triumphierendes Lachen aus. Sogleich kamen Tyr und Balder herbei, der eine freudig, der andere etwas zurückhaltend.

„Mein Freund, so einen Brocken Ratte habe ich noch nie gesehen!“

Der Häuptling erwiderte nicht weniger aufgeregt: „Du hast recht, die meisten sind nicht größer als meine Hand. Taugen höchstens auf dem Spieß oder in der Suppe etwas. Aber diese hier wird einen schönen Braten abgeben!“

Als er das aufgewühlte Gesicht seines Ziehsohns sah, fügte er hinzu: „Was schaust du so, Junge? Das ist die Jagd. Wir leben, weil diese Ratte uns ihr Fleisch schenkt.“

„Ich schaue gar nicht. Und was heißt schenken? Wir nehmen es uns einfach, nicht wahr?“, stellte Tyr fest, weil er fürchtete, die beiden Erwachsenen könnten ihn für weichlich halten. Delling begann herzhaft zu lachen.

„Natürlich nehmen wir es uns einfach. Aber das ist absolut gerecht. Ohne das Fleisch würden wir Hunger leiden.“

Dies leuchtete ihm ein, auch wenn das rot bespritzte Gesicht des Jägers keinen sonderlich vertrauenserweckenden Eindruck machte. Es schien ihm viel zu amüsiert.

Balder ließ sich langsam nieder und zog ein langes Messer. Behutsam schnitt er ein großes Stück Fleisch aus der Schulter des Beutetiers und zerlegte es auf seinem Knie in drei gleich große Teile. Erst reichte er Delling eines, dann seinem Ziehsohn, der es widerwillig annahm. Er hatte noch nie zuvor rohes Fleisch gegessen.

„Wir können kein Feuer machen, denn die Tiere würden es weithin riechen und fliehen. Aber du brauchst keine Sorgen zu haben. Heute Abend nehmen wir eine gut gekochte Suppe zu uns.“

Die Worte seines Ziehvaters stellten Tyr zufrieden und so führte er das noch warme Stück zu seinem Mund, während sich dunkle Flüssigkeit in seiner Handfläche sammelte. Der andere Jäger hatte seinen Anteil schon verschlungen und warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

„Nun komm schon, Bursche. Das gibt Kraft in den Armen. Sieh mich und deinen Vater an!“

Bei diesen Worten wischte er sich mit dem Ärmel das Blut vom Kinn. Dann stand er auf und streifte umher, offenbar auf der Suche nach irgendetwas.

Balder befreite derweil seinen Speer, der den Rücken der Riesenratte durchstoßen hatte. Er hatte sie wirklich ausgezeichnet getroffen, genau in die Kammer, in der sich Herz und Lunge befanden. Sie wäre vermutlich auch ohne den tödlichen Schnitt eher früher als später verendet. Als er seine Waffe wiederbeschafft hatte, wischte er sie an einem fleckigen Tuch trocken und legte sie neben sich ab. Nun verstopfte er die Austrittswunde der Kreatur mit einem ebensolchen Tuch, um sie am Ausbluten zu hindern. Er wollte keine natürlichen Jäger auf ihre Fährte führen.

Als er die Beute präpariert hatte, warf er seinem Ziehsohn einen weiteren Blick zu. Dieser hatte noch immer mit seinem Anteil der Beute zu kämpfen. Widerwillig biss er ins rohe Fleisch, das erstaunlich fest war. Warmes Blut verströmte einen metallischen Geschmack in seinem Mund und trieb ihm ein Schaudern über den Rücken. Nur mit Mühe löste er ein sehniges Stück und schluckte es, ohne zu kauen, herunter. Er wiederholte es, bis nur noch eine Handvoll Fleisch übrig war. Dann verzog er das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und ließ auch den Rest verschwinden.

Balder begann zu grinsen. „Junge, wenn du dich daran gewöhnt hast, wirst du diese Art von Fleisch zu schätzen wissen.“

Tyr war davon weniger überzeugt und wollte die eben gemachte Erfahrung möglichst schnell verdrängen. Er stand auf und wischte sich ausladend mit der Weste über das Gesicht. Er verschmierte es zusätzlich mit Erde und Staub, sauberer wurde es dadurch kein bisschen.

Um sich vor den Männern keine Blöße zu geben, begann er plötzlich breit zu lächeln. „Wir haben Beute gemacht!“

Balder nickte mit ebenso erfreutem Antlitz, als er erwiderte: „Ja, das haben wir. Und wenn die anderen ebenfalls Erfolg gehabt haben, wird die Sippe heute Nacht mit vollen Mägen schlafen.“

„Das wäre auch längst mal wieder fällig. Ich bin schon abgemagert wie dein Ziehsohn. Mein Weib erkennt mich schon gar nicht mehr!“ Die Stimme gehörte Delling, der wieder zu den beiden stieß.

Auf seiner Schulter lag ein langes, metallenes Rohr, an dessen Ende eine viereckige Platte desselben Materials saß. Man konnte noch einen Hauch des alten Lackes erahnen, der schon vor langer Zeit weitestgehend abgebröckelt oder verbrannt war. Mit einigen kräftigen Tritten befreite der Jäger sein Fundstück von diesem unnützen Ballast. Nun trug er nur noch den blanken, in der Mitte hohlen Stab.

„Was ist das?“, fragte Tyr neugierig und betastete das merkwürdige Material.

„Das wissen wir selbst nicht mit Gewissheit. Fest steht, dass es in Madras sehr viele dieser seltsamen Stäbe gibt. Sie liegen überall zwischen den Steinen. Und wir können sie gut gebrauchen. Wir tragen gern die Beute mit ihnen. Später können wir die Wände unserer Höhle mit ihnen stützen. Aus den Platten an ihren Enden kann man mit einiger Übung und Geduld Speerspitzen formen. Sehr praktische Dinger.“

Delling nickte wissend. Balder ergänzte: „Sie kommen aus der Zeit vor der Ragnarök. Wie alles in den Trümmern. Das meint zumindest die Kräuterfrau. Und sie pflegt in solchen Angelegenheiten recht zu haben.“

Tyr schien durch die Erklärung weitestgehend befriedigt und betrachtete die beiden Erwachsenen, wie sie wieder ihrer Arbeit nachgingen. Sie legten die Stange auf den Rücken der erlegten Ratte und kramten einige verknotete Tiersehnen aus ihren Taschen. Schließlich banden sie beides fest zusammen, testeten die Fäden, bis sie endlich zufrieden schienen. Dann schulterten die beiden je ein Ende des Rohrs und konnten es so bequem tragen.

Balder nickte seinem Ziehsohn zu und sprach: „Jetzt beginnt deine eigentliche Aufgabe. Jetzt musst du uns Auge und Ohr sein, wie schon angekündigt.“

„Was muss ich tun?“

„Du gehst uns einfach voraus. Du kundschaftest für uns. Und wenn du ein Tier siehst, gibst du uns ein leises Zeichen. Ein sehr leises. Dies ist das Erste, was ein guter Jäger lernen muss. Ein starker Wurfarm ist zu nichts nütze, wenn man die Beute schon lange vorher gewarnt hat.“

Tyr nickte und ein Lächeln stahl sich in sein schmutziges Gesicht. Er fühlte einen Keim von Stolz in sich aufflammen. Seine erste Jagd. Und sie verlief gut.

So schlichen die Jäger noch etwa zwei weitere Stunden durch die raue Umgebung, die ihnen Madras bot. Der Wind wehte mittlerweile schroff und eisig durch die Steinschluchten und trieb Tyr die Tränen in die Augen. Seine Haut fühlte sich ledrig und porös an und er wähnte sich an jenen Tag zurückversetzt, als er sich in der Verbotenen Zone verlaufen hatte. Dieser Vorfall schien ihm unglaublich weit zurückzuliegen, aber andererseits auch greifbar nahe, zumal er seitdem nicht mehr an der Oberfläche gewesen war. Er sah sich aufmerksam um. Die vorherrschende Farbe war Grau, wie er es von der Oberfläche gewöhnt war. Der Himmel war verhangen, wobei man ihm schon etliche Male versichert hatte, dass dies nicht immer so war. Er jedenfalls hatte das Firmament nie anders kennengelernt. Aber es störte ihn auch nicht weiter. Genau wie die tote Ratte, an deren Anblick er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Tyr dachte daran, dass es sich mit dem Unbekannten häufiger so verhielt. Erst wirbelt es das Vertraute durcheinander, dann wird es selbst etwas Vertrautes. So ähnlich ging es ihm mit dieser blutbefleckten Kreatur, deren Kopf in ungesunder Weise senkrecht zum Boden stand, was an ihrem tief eingeschnittenen Hals lag. Tyr bemerkte, dass ihn nun mehr anatomisches Interesse als Mitleid lenkte. Er beobachtete sich dabei, wie er sich leicht zurückfallen ließ, nur um der Beute in den Hals zu schauen. Das Ergebnis war weder furchtbar noch appetitlich, aber Tyr wusste, dass der Anblick ihn ansonsten den ganzen Tag gereizt hätte. Da war es einfacher, einen kleinen Blick zu wagen.

In diese und ähnliche Gedanken gehüllt, bemerkte Tyr nicht, wie sich plötzlich eine laut schreiende Gestalt von der Seite auf die Gruppe warf. Zu spät verließ der Warnruf seine Kehle. Das Beutetier fiel zu Boden, Balder und Delling gingen in Abwehrstellung. Doch der ungebetene Besucher war nicht etwa eine bösartige Bestie oder ein feindlicher Krieger. Es war Forseti.

Auf seinem zerkratzen Gesicht stand ein Ausdruck wüster Panik. Aus seinem Mundwinkel und aus dem rechten Ohr troff Blut in dünnen Rinnsalen.

„Bei Wotans rasenden Wölfen! Was ist mit dir geschehen?“, rief Balder entsetzt.

Die Brust des Jägers trug eine Wunde, die seinen Fellwams dunkel tränkte. Er keuchte vor Anstrengung, als er endlich zu sprechen begann: „Wir waren auf der Pirsch, einigen Tripoden hinterher. Wir waren außer… außer uns. Wollten sie erwischen…“

Der Mann brach in wüstes Husten aus, was dunkle Klumpen zutage förderte. Delling reagierte blitzschnell, griff ihn unter den Schulterblättern und ließ ihn sanft nach hinten gleiten. Er legte ihn auf den nächstbesten Steinhügel, während Tyr aufmerksam lauschte und den Stab mit der Beute aufstemmte. Er wollte nicht, dass das kostbare Fleisch den Boden berührte.

Nach einer kurzen Verschnaufpause fuhr der Mann fort: „Wir achteten nicht auf den Weg. Wir wollten… wir wollten sie kriegen. Unbedingt kriegen! Und auf Umwegen gelangten wir in einen Teil der… Verbotenen…“

Das letzte Wort wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Stattdessen spuckte er seinen blut- und staubgetränkten Speichel auf den Boden. Er schien weniger körperlich als seelisch angegriffen zu sein. Delling befahl ihm mit einer Geste, fortzufahren.

„Wir schlichen am Rand der Zone entlang… Und wir sahen sie… Wir sahen sie!“

Die letzten Worte kreischte der Mann förmlich, sodass es Tyr die Nackenhaare aufstellte. Balder jedoch nickte kühl und mit strengem Blick. Dann fasste er Delling an die Schulter und sprach: „Bleib du hier. Ich und Tyr gehen die anderen suchen. Kümmere du dich um Forseti und die Beute.“

Der Jäger nickte nur und nahm seinen Speer in die Hände. „Du kannst dich auf mich verlassen.“

Der Häuptling nickte ebenfalls vertrauensvoll und klopfte ihm gegen die Schulter.

„Ich weiß, mein Freund. Dir gutes Gelingen. Möge Skadi uns gnädig sein.“

Dann rannte er los, querfeldein, während Tyr ihm hastig folgte. Das Herz des Jungen schlug ihm bis in den Hals, sein Puls raste. Sein Ziehvater hatte nur kurz angehalten, um sich auf der Karte die Richtung zu bestätigen. Dann war er wortlos weitergestürmt. Den hernieder purzelnden Schuttbrocken keine Beachtung schenkend, tat Tyr, was er konnte, um nicht allein zurückzubleiben. Also trieb er seinen schmächtigen Körper weiter voran.

Nachdem sie etliche Gerölllagen überwunden hatten, schien Balder sein Ziel erreicht zu haben. Er blieb stehen und sah sich schweigend um. In seinen Augen lag jener kalte Schimmer, der nur eines bedeuten konnte: Sorge.

Tyr kam keuchend neben seinem Ziehvater zum Stillstand. Vor Anstrengung ließ er Kopf und Arme sinken.

„Sind… sind wir da?“, fragte er, um Atem ringend. Er erntete einen missmutigen Blick.

„Leider nein. Aber ich befürchte, dass wir nicht näher an unser Ziel herankommen werden.“

Dem Jungen stand das Unverständnis förmlich ins Gesicht gemeißelt.

„Was ich sagen will, ist Folgendes: Ich kann nicht weiter. Siehst du dieses Zeichen?“

Der Häuptling deutete auf einen etwa fünf Meter entfernten Pfahl, auf dessen Ende ein rissiger Menschenschädel ruhte.

„Dies ist eine Warnung, die uns unsere Vorväter hinterlassen haben. Ab hier befinden wir uns im kritischen Teil der Verbotenen Zone, dem Reich der Geister.“ Dem dunkelhäutigen Mann war der vorwurfsvolle Blick des Kindes nicht entgangen. „Sieh mich nicht so an! Wenn ich weitergehe, werde ich schon morgen von der Fleckenkrankheit befallen sein. Vielleicht früher. Die bösen Geister bewohnen diesen Ort und sind begierig darauf, ihre Zähne in unser Fleisch zu schlagen.“

Tyr schrak zurück, als klare Erinnerungen an die erlebten Schmerzen in ihm hochstiegen. Balder legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Aber dir können sie nichts antun. Du hast die Kräuterfrau gehört. Sie werden dich nicht anrühren, selbst wenn sie es wollen.“

Tyr war sich der Sache nicht in demselben Maße sicher. Seine Augen wurden glasig und zwinkerten nervös. Der Häuptling ließ die schwere Rechte erneut auf seine Schulter heruntersinken.

„Das ist deine Gelegenheit, mein Junge. Heute kannst du beweisen, aus welchem Holz du geschnitzt bist. Du wirst ein Held sein, wenn du unsere Sippenbrüder gefunden hast. Vielleicht kannst du sie sogar noch retten, obwohl ich dort draußen wenig Hoffnung für sie habe.“

Tyr straffte die Schultern und verzog das Gesicht zu einer trotzigen Grimasse. Ja, dies war seine Gelegenheit. Niemals wieder würde man sich über ihn lustig machen. Man würde ihn feiern, wie seinerzeit Donar. Die Kräuterfrau selbst hatte es gesagt! Die Geister würden ihn niemals wieder beißen.

Der Junge griff die Hand seines Gegenübers und drückte sie von sich weg.

„Ich gehe…“, kam leise, aber bestimmt über seine Lippen.

Nun begann Balder übers ganze Gesicht zu lächeln. „Du bist ein wahrer Jäger, Kleiner. Du hast das richtige Herz.“ Bei diesen Worten kramte er ein langes Messer und die Karte aus seinem Gürtel und drücke sie dem Kind in die Hände. „Damit du dich verteidigen und orientieren kannst. Ich werde genau hier auf dich warten und für dich beten.“

Als die Worte gesprochen waren, machte Tyr sich ohne Zögern auf den Weg. Es hatte keinen Sinn, noch viele Worte zu verlieren. Zu viel Zeit zum Nachdenken hätte seinen spontan aufflammenden Mut nur abgekühlt und zunichte gemacht. Und genau diesen konnte er nun besonders gut gebrauchen. Daran dachte er, als er um eine zerbrochene Häuserfassade schlich und aus Balders Sichtfeld verschwand.

Er atmete tief durch, war wieder allein. Allein auf der Oberfläche, wie vor Monaten. Was hatte er damals getan? Er war einem Salamander gefolgt, ohne sich der Gefahren bewusst zu sein. Nun wusste er, was ihn umgab. Die bösen Geister, die unsichtbaren Scheusale, die menschenfressenden Biester. Er konnte sie förmlich auf seiner Haut prickeln fühlen, durch seine Därme schleichen, durch Hals und Nase in seinen Körper eindringen. Ihm stieg ein säuerlicher Geschmack in den Rachen, als sein ganzer Körper sich vor Ekel schüttelte. Umso fester umklammerte er den Griff seines Messers, dessen frisch geschliffene Spitze ihm wie eine Kompassnadel vorausging. Hinter jeder schattigen Nische wähnte er einen schrecklichen Alptraum. Instinktiv fasste er sich unter sein Hemd und fühlte die Narbe, die einen deutlichen Kontrast zu seiner restlichen Haut darstellte. Es gab ihm ein plötzliches Gefühl der Sicherheit, dieses deutliche Zeichen seiner früheren Krankheit am Körper zu tragen. Es erinnerte ihn wieder an die Worte der alten Frau. Ermattet ließ er sich gegen eine Hauswand fallen und verharrte einen Augenblick in dieser Pose. Seine freie Hand bröckelte einen letzten Rest Putz vom blanken Stein. Als er die Augen kurz schloss, wünschte er sich an einen anderen Ort. Weit, weit weg von hier. Seine Fantasie malte ihm wirre Bilder, die kaum der Wahrheit entsprechen konnten. Er war sich der Tatsache vollkommen bewusst, dass er gar keine Ahnung hatte, wie es andernorts aussah. Aber das war auch völlig egal. Hauptsache weg von hier.

Und doch musste er weiter. Schwerfällig löste er sich von der rissigen Mauer und schleppte sich weiter vorwärts. Die schleichende Furcht, die noch immer tief in seinem Innersten saß, gebot seinen Füßen, sanft zu treten. Mit Freude bemerkte er, dass er nahezu geräuschlos schlich. Vielleicht war es sein leichter Kinderkörper, vielleicht ein angeborenes Talent. Auf jeden Fall bewegte er sich unauffällig wie eine herabfallende Feder, deren Aufschlag wohl nur die kleinsten der Lebewesen wahrnehmen könnten. Immer wieder huschte er flink um Häuserecken herum, duckte sich beim leisesten Geräusch ängstlich zusammen und legte gelegentlich einen kurzen Sprint ein, um schnell von einer Deckung zur nächsten zu gelangen. Er fühlte sich auf eine merkwürdige Art und Weise gut dabei. Er malte sich seinen eigenen Anblick aus, wie ein Nager Haken schlagend durch das Unbekannte ziehend. Donar wäre sicherlich stolz auf ihn gewesen.

Er kam gut voran und gönnte sich erst nach einiger Zeit eine Pause. Nachdem er die Umgebung nach Anzeichen wilder Tiere ausgekundschaftet hatte, ließ er sich müde auf einem massiven Steinbrocken nieder. Wie ein Schwall aufgestauten Wassers trat Luft aus seinen Lungen aus, die körperliche und geistige Anspannung schwand für Augenblicke aus seinem Leib. Er schloss die Augen, während er sich sanft die wundgelaufenen Füße massierte.

Als er wieder aufsah, wurde ihm erst richtig bewusst, wie hell es geworden war. Die schweren Wolkenberge, die den gesamten Himmel für sich beansprucht hatten, waren teilweise gewichen und ließen bleiches Sonnenlicht hindurch sickern. Der ungewohnte Anblick ließ in Tyr ein Gefühl der Erhabenheit aufsteigen. So sah echtes Licht aus, dachte er bei sich. Alles andere, die Benzinlampen, die Feuerstelle, die Fackeln und die tiefen Schlitze, durch die Licht von der Oberfläche eindrang, waren nur grobe Abbilder. Sie kamen ihm schäbig und nichtssagend vor. Er blinzelte und musste sich die Hand vor die empfindlichen Augen halten. Obwohl sich seine Brauen schützend verkrampften, schwand die Euphorie kaum, über die er fast seinen Auftrag vergaß.

Ein Schrei riss ihn aus seinen Tagträumen. Die Quelle konnte nicht weit sein, etwa fünfzig Meter entfernt. Adrenalin wurde schlagartig in seine Adern gepumpt, alle Muskeln spannten sich an. Sofort war er wieder auf den Beinen. Es war eine Männerstimme gewesen. Und wenn er sich nicht völlig irrte, hatte er sie an diesem Tage schon einmal gehört, in einem Streit mit seinem Ziehvater. Ja, es musste Heimdall sein.

So schnell ihn seine Füße trugen, stürmte er voran. Wieder ertönte das krächzende Rufen, viel näher als zuvor. Er rannte in die richtige Richtung. Als die Erkenntnis sein Bewusstsein erreicht hatte, wanderte seine Hand zu seinem Messer, das ihm rhythmisch gegen den Schenkel schlug. Er umklammerte den Griff und zog es aus der ledernen Verankerung an seinem Gürtel. Tyr ahnte, dass er es brauchen würde.

Er bog in eine schmale Seitengasse ein und stand plötzlich vor einer Lichtung im Wald aus Ruinen. In ihrer Mitte verlief ein breiter Riss, der den Untergrund einst mit großer Macht zerbrochen haben musste. Schwere Trümmer lagen über den ganzen Ort verteilt. Zwischen ihnen tollte eine vierbeinige, bucklige Kreatur mit langen Zähnen und ausgefransten Ohren, ohne dabei eine bestimmte Stelle des Risses aus den Augen zu lassen. Bei genauerem Hinsehen erkannte Tyr, dass zwei Menschenhände sich verzweifelt am Gestein festkrallten. Sie mussten Heimdall gehören, da war er sich ganz sicher, obwohl der Rest des Menschen im Abgrund verborgen hing.

Blitzschnell ratterten Gedanken durch Tyrs Schädel. Wenn er nicht eingriff, würde sein Sippenbruder höchstwahrscheinlich in den Spalt stürzen oder gefressen werden. Denn wie sollte er, wenn er seinen eigenen Leib emporzog, einem gut gezielten Kehlenbiss ausweichen? Und die Kreatur sah nicht danach aus, als hätte sie etwas anderes im Sinn. Speichel lief beständig über die lederartigen Lefzen, die Augen funkelten mordlüstern, während die krallenbewehrten Hinterläufe unruhig Kies nach hinten kehrten. Tyr hatte schon von dieser Art Lebewesen gehört, gefährliche Jäger mit ausgezeichnetem Geruchsinn. Sein Onkel hatte einige dieser Bestien erlegt, denn die Wände seines Schlafgemachs waren mit ihren Fellen ausgekleidet. Doch ihr Fleisch war ungenießbar, manch einer soll an ihm schon krank geworden sein. Bei dem schäbigen Anblick, der sich dem Jungen bot, hätte er an alles denken können, nur nicht ans Essen. Ein fauliger Gestank wehte zu ihm herüber und stach ihm in die Nase wie ein spitzer Pflock. Es würgte ihn.

Erneut ertönte ein jämmerlicher Schrei. Dieses Mal konnte Tyr die Worte verstehen. „Helft mir! Forseti, Lodur! Ich sterbe!“

Tyr hielt sich die schartige Klinge vor den Körper. Sie funkelte mystisch im Sonnenlicht. Dann blickte er wieder zu jenem unseligen Raubtier hinüber, das sich nun erregt keuchend auf den Riss hinarbeitete. Mit rasendem Schrecken bemerkte Tyr, dass sein Messer viel zu kurz war. Wieso hatte man ihm keinen Speer gegeben? Das wäre eine Waffe gewesen! Was er in den Händen trug, war Essbesteck.

Hastig sah er sich um nach irgendetwas, was er gegen die Bestie einsetzen könnte. Er beugte sich und sammelte schwere Steine auf, scharfkantige vor allen Dingen. Seine Angst befahl ihm, den Blick zu heben und die Kreatur nicht aus den Augen zu lassen, doch sein Pflichtgefühl unterdrückte den Impuls. Als er schon mehr gesammelt hatte als er eigentlich tragen konnte, schlich er vorsichtig einen Schutthügel empor, der die freie Fläche überragte. Auf der Spitze angekommen, legte er die Wurfgeschosse möglichst leise neben sich auf den Boden und drückte sich flach auf den Bauch.

Als er wieder zum Abgrund hinüber spähte, sah er, dass die Bestie bereits über Heimdall stand, den er von hier aus deutlich erkannte. Der tropfende Speichel des Untiers fiel ihm ins Gesicht, bestimmt konnte er schon seinen fauligen Atem riechen.

Tyr packte sich einen besonders großen Stein, kniete sich hin, zielte und schleuderte das Geschoss auf die Kreatur. Augenblicklich ließ er sich wieder auf den Bauch fallen. Er hörte deutlich das Geräusch aufeinanderschlagender Steine. Daneben! Ein bösartiges Knurren ertönte. Erschrocken schrie Heimdall auf. Der Junge riss sich von den Knien empor, nahm einen Stein und zielte. Wo war sie hin? Tyr erschrak. Sie erklomm keine fünf Meter von ihm entfernt den Hügel. Er starrte genau in die fahlen Augen der Kreatur. Bei Surts glühendem Atem, das Biest war höllisch schnell! Und es setzte zum Sprung an. Mit ganzer Kraft warf der Junge den Brocken nach vorne. Sich im Flug drehend, schlug er dumpf krachend gegen dessen Schnauze. Es wich schrill schreiend nach hinten zurück. Sekunden später warf Tyr einen weiteren Stein, dann noch einen. Sie schlugen hart in die Flanken der Kreatur.

Mit blutverschmiertem Maul wuchtete sie ihren massigen Leib nach vorne, genau auf den Jungen zu. Tyr wusste nicht, wie ihm geschah, als ihn das stinkende Paket aus Muskeln, Fell und Sehnen zu Boden riss. Das Gewicht drückte ihm die Lungen ein, säuerlicher Atem nahm ihm die Luft. Die Kreatur hätte nur so verharren müssen und Tyr wäre einfach erstickt. Aber so lange schien sie nicht warten zu wollen. Sie machte sich bereit für den finalen Biss.

Obwohl er vor Panik wie gelähmt war, bekam Tyr irgendwie sein Messer zu greifen. Gerade als das Maul voll krummer Zähne herniederfahren wollte, stieß der Junge seine Klinge nach vorne. Sie fuhr, durch die Kopfbewegung der Kreatur getrieben, tief in ihre Kehle hinein. Ein erstickendes Röcheln erklang, die Schneidezähne der Bestie stießen unkontrolliert in Tyrs Stirn und verletzten ihn. In einem Anflug von Raserei drückte er die verwundete Kreatur zur Seite weg, sprang auf ihren Leib und stach wie von Sinnen in den pelzigen Körper ein. Erst als das Zucken und Ausschlagen nach allen Seiten erstarb, kam der junge Jäger zur Ruhe.

Er keuchte nach Leibeskräften, gebückt, den linken Arm um den schmerzenden Brustkorb geschlungen. Rote Spritzer zierten sein Antlitz, seine Kleider hingen zerrissen und schmutzig von seinen Schultern. Das Messer ließ er im Fleisch der Bestie verharren. Dann stieß er einen heiseren Schrei aus, kippte zur Seite weg und blieb vor Erschöpfung liegen.

Vielleicht wäre er ewig so verblieben, doch etwas hinderte ihn daran. Ein bekanntes Jammern drang an sein Ohr. Es war Heimdall. Wie es schien, war er noch immer am Leben. Ohne das Messer aufzusammeln, taumelte der Junge den Abhang herunter, auf den tiefen Riss zu. Noch immer hielten sich die verkrampften Finger an der Kante fest. Er wollte etwas ausrufen, doch seine Stimme versagte.

Beim zweiten Mal gelang es ihm. „Ich ziehe dich hinauf, halte aus!“

Heimdall wollte etwas erwidern, doch nur ein gequälter Seufzer verließ seine Kehle. Tyr legte seine schmalen Hände auf die des Jägers und krallte sich an ihnen fest. Er warf einen vorsichtigen Blick über den Rand des Abhangs. Schwindelerregende Tiefe erwartete ihn, nur durch die völlig verkrampfte Gestalt eines erwachsenen Menschen durchbrochen. Heimdalls Gesicht war zu einer fast schon unmenschlich anmutenden Grimasse versteinert, die ihn wie eine Statue vergangener Zeiten erscheinen ließ. Tyr bemerkte, dass sein Sippenbruder die Arme nicht mehr rühren konnte. Er musste schon eine Ewigkeit dort hängen. Also legte er sich auf den Bauch und fuhr seine Hände unter die Arme des Mannes. Mit ganzer Kraft drückte er nach oben. Er biss die Zähne zusammen und zog so fest er konnte, doch der schwere Leib bewegte sich nur wenig. Fast schon befürchtete Tyr, der Jäger würde abstürzen, da bekam dieser scheinbar wieder Gefühl in den Armen und zog sich mit Tyrs Hilfe empor. Mühsam kam Heimdall über die Kante und rollte auf festen Boden. Tyr rieb sich seine schmerzenden Arme und grinste ein verbissenes Lächeln. Er hatte es geschafft.

Einige Zeit wurde kein Wort gesprochen. Nur angestrengtes Keuchen und leises Stöhnen erfüllte die Luft. Da begann Heimdall zu sprechen: „Ich… danke dir… Junge.“

Tyr stützte sich auf seine Arme und nickte. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

„Ich habe noch eine… Bitte.“

Tyr sah sein liegendes Gegenüber erschrocken an. Was meinte er?

„Ich will… dass du meinem Weib… unsere Schmucke… bringst.“

Noch immer begriff Tyr nicht. Die Schmucke war die rituelle Tätowierung, die Mann und Frau sich auf die Brust stachen, um ihre Zugehörigkeit zueinander zu bekunden. Es gab immer nur zwei gleiche Motive, sie waren für ein einziges Paar bestimmt. Diese Form der Hautbemalung war für Tyrs Sippe und den gesamten Stamm ein heiliges Sakrament, das zu den wichtigsten im Leben eines Menschen gehörte.

Wie also sollte er sie überbringen? Und warum überhaupt?

Heimdall riss sich die Reste seiner Kleidung von der Brust und Tyr erschrak fürchterlich. Über die gesamte Haut verteilt zeigten sich Bläschen und schwarze Flecken, die dem Mann entsetzliche Schmerzen bereiten mussten. Nur auf der linken Seite prangte etwas anderes, ein kreisrundes Symbol, geziert durch viele dünne Parallelen, die sich in der Mitte zu einer Art Knoten zusammenfanden. Es war seine Schmucke.

Mit zittrigem Finger deutete er auf dieses Mal. „Ich werde gehen… die Geister…“

Die Stimme des Mannes wurde schwächer und schwächer. Tyr beugte sich über ihn und fühlte instinktiv Heimdalls Stirn. Wie hatte er es vergessen können? Sie waren in der Verbotenen Zone. Die Geister hatten seinen Sippenbruder gebissen, viele Male und stark genug, um ihm sein Leben zu rauben. Das Bewusstsein schien Tyr kurz entweichen zu wollen. Die Anstrengung, der Kampf, die Angst. Sie alle forderten ihren Tribut.

Da nahm er sich zusammen und fragte: „Was soll ich für dich tun, Heimdall?“

„Nimm die Schmucke… und gib sie… meiner…“ Der sterbende Jäger machte eine schneidende Handbewegung in der Luft.

Es dauerte einige Augenblicke, bis Tyr begriff. „Nein! Nein, das kann ich nicht tun! Bitte mich nicht darum!“

Seine Stimme überschlug sich, wurde weinerlich und schrill.

Sein Sippenbruder jedoch nickte nur. „Die Schmucke… meiner Frau… bitte gib sie…“

Ein röchelndes Husten ertönte. Tyr setzte sich auf den Boden und vergrub das Gesicht in den Händen. Während der Atem des Sterbenden rasselnd und schwer ging, blickte er zum Sonnenlicht, das nur noch fahl durch die Wolken schien.

„Worauf… wartest…“ Die Stimme des Jägers klang anklagend, obwohl kaum noch Kraft in ihr steckte.

„Willst du das wirklich hören?“ Dem Jungen war so unwohl wie noch nie zuvor in seinem Leben. Als Heimdall nicht antwortete, sprach er: „Ich warte, bis du nach Asgard gegangen bist. Dann kann ich…“

Doch die Worte wollten nicht über seine Lippen.

„Nein… du musst… ich darf nicht… totes Fleisch werden…“

Tyr verstand den Sinn hinter diesen Wortfetzen. Aber er war kein bisschen gewillt, dem Sterbenden bei lebendigem Leibe die Schmucke herauszuschneiden. Er legte Heimdall die Hand auf die Augen.

„Nein! Verrat… Verräter…“

„Ich mach es. Ich mach es, hörst du? Ganz ruhig…“, flüsterte Tyr dem Jäger zu.

Heimdall schien durch seinen Wutanfall weiter geschwächt zu sein. Sein Atem ging langsam, langsamer, noch langsamer. Schließlich verstummte das rasselnde Geräusch. Tyr verfluchte sich für seine Feigheit, dem sterbenden Sippenbruder nicht den letzten Wunsch erfüllt zu haben. Die Schmucke hätte nicht Teil seiner Leiche werden sollen, das hatte er gemeint. Und er, nur ein Junge, hatte ihm diesen Wunsch verwehrt. Er schämte sich, als er zum Kadaver des Raubtieres hinüberging, um das Messer zu holen…

Balder saß auf einem Felsbrocken und wartete. Es wurde ihm zur Qual, von Minute zu Minute schlimmer. Er machte sich Vorwürfe. Wieso hatte er den Jungen alleine losgeschickt? War er ein Feigling, dass er sich vor den Geistern fürchtete? Er lachte bitter. Das kleine Kind hatte sich nicht gescheut, loszuziehen. Wenn Tyr nicht bald zurückkehren würde, das schwor er sich, würde er so lange durch die Verbotene Zone gehen und ihn suchen, bis ihm das Fleisch von den Knochen gefault war. Denn wie sollte er dies seiner Mutter erklären? Er, der Ziehvater, schickt einen Jungen, um einen erwachsenen Jäger in den Tod zu geleiten. Er hatte gehofft, dass Tyr an dieser Aufgabe wachsen würde. Nun machte er sich Sorgen, er könnte niemals das Mannesalter erreichen.

Balder stand auf, faltete die Hände zum Trichter und rief nach dem Jungen, immer und immer wieder. Die einzige Antwort, die er erhielt, kam ihm durch das Echo entgegen. Ein großer Vogel kreiste über der Zone, ein Aasfresser. Ein Leichenfledderer. Der dunkelhäutige Mann nahm das Zauberrohr aus seinem Gürtel und zielte auf das Tier. Die Kräuterfrau hatte ihn gelehrt, die Waffe zu gebrauchen, und ihm immer wieder eingetrichtert, sie nur im äußersten Notfall einzusetzen. Der Zauber, der von den kleinen harten Kapseln ausging, konnte nur ein einziges Mal losgeschickt werden. Und die Sippe hatte die meisten von ihnen im Laufe der Jahre verbraucht.

All dies war ihm bekannt, aber er scherte sich nun nicht darum. Ein lauter Knall ertönte, die Hand des Häuptlings wurde zurückgerissen. Ein heiserer Vogelschrei gesellte sich hinzu, das Tier stürzte in kreisendem Segelflug in die Verbotene Zone. Balder konnte vorzüglich mit dem Zauberrohr umgehen. Doch das gab ihm nicht den erhofften Trost.

Als er gerade wieder dabei war, in trüben Gedanken und Schuldgefühlen zu versinken, hörte er eine helle Stimme rufen. Es war Tyr.

„Ziehvater, Häuptling! Wo bist du?“

Schnell wie ein Blitz sprang der dunkelhäutige Mann auf und rannte ihm entgegen. Als sie nur noch wenige Meter voneinander getrennt waren, erkannte er ein blutiges Bündel in seiner Hand. Tyr sah furchtbar aus, abgekämpft und mit zerrissenen Kleidern. Balder umarmte ihn schwungvoll, betastete seine Arme und Beine, denn Tyr humpelte unverkennbar.

„Wo warst du so lange?“

„Ich habe deinen Befehlen gehorcht.“

Ein kurzer Moment des Schweigens kehrte ein.

„Was hast du da in deiner Hand?“

Diesmal entstand eine längere Pause. Die Augen des Jungens wirkten fahl und gleichgültig, was in Anbetracht der Umstände nur bedeuten konnte, dass er auch innerlich völlig verbraucht war.

„Eine Schmucke. Sie gehörte Heimdall… Er hat mich gebeten, sie seiner Frau zu bringen.“

Balder erwiderte nichts, sondern nahm seinen Ziehsohn vorsichtig in die Arme, fuhr ihm durch die Haare, wischte ihm mit dem Daumen das Blut aus den Augen.

„Das war tapfer von dir, mein Sohn. Sehr tapfer.“

Zusammen kehrten sie zu Delling und Forseti zurück, bei denen sich auch Lodur eingefunden hatte. Auch dieser war von schwarzen Flecken gezeichnet, allerdings nicht so schlimm wie Heimdall oder einst Tyr. Er würde es überleben, auch wenn Tage, vielleicht Wochen der Schmerzen vor ihm lagen.

Apokalyptika - Gesamtausgabe

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