Читать книгу Apokalyptika - Gesamtausgabe - Tom K. Williams - Страница 13

III. Fremde im Land

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Tyr war nun nicht mehr länger das Sorgenkind der Sippe, der Außenseiter, den die anderen Sprösslinge mieden. Die Geschichten über seine Beteiligung an der Jagd und die Tapferkeit, mit der er Heimdalls letzten Wunsch erfüllt hatte, machten schnell die Runde und brachten ihm den lang ersehnten Respekt seiner Sippenbrüder und -schwestern. Er hatte niemandem von den genauen Umständen seiner Tat erzählt und war sich sicher, dass dies die bessere Entscheidung war. Denn obwohl er es nicht für möglich gehalten hätte, die Schmucke brachte der kranken Witwe Trost. Und auch ihrem Sohn, Vali, der sich sichtlich bemühte, in Tyrs Nähe zu sein. Sie wurden enge Freunde.

Doch es lag noch immer ein Schatten über den Gemütern der Menschen. Forseti und Lodur, die ihre verhältnismäßig schwache Verwundung durch die Geister erfolgreich auskuriert hatten, erzählten von Bestien mit grausamen Fratzen, die überraschend aus dem Nichts getreten und denen sie nur knapp entkommen waren. Tyr fragte sich zunächst, ob das Untier, welches er erlegt hatte, eines der besagten Kreaturen war. Es dauerte nicht lange, bis er diese Annahme verwarf.

Die Geschichten der Männer handelten von materialisierten Geistern. Schemenhaft und mit entsetzlich kalten Stimmen, die in einer fremden Sprache miteinander sprachen und Gesichter aus glänzendem Metall trugen. Bald waren sie als die Geißel der Sippe bekannt, Boten anderer Stämme berichteten ebenfalls von Begegnungen mit diesen Scheusalen. Immer wieder verschwanden Jäger an der Oberfläche. Die Furcht vor den mysteriösen Kreaturen nahm bald religiöse Ausmaße an, sie sollten die Rache der Asen für ihre Feigheit sein oder von der Ragnarök verschonte Sklaven der Riesen. Die Gerüchte fielen aufgrund der ohnehin schlechten Verfassung von Stamm und Sippe auf fruchtbaren Boden und verankerten sich als Mythos tief im Bewusstsein der Menschen, obwohl die Kräuterfrau und andere Weise die Verbindung zur Götterwelt aufs Schärfste abstritten.

Das Leben ging weiter, etliche Jahre brachen an und verschwanden im Dunst des Vergessens. Tyr gedieh prächtig, sehr zur Freude seiner Mutter, wurde stark und sehnig. Sein Jagdgeschick wuchs mit seinem Körper und allzu oft war der Vergleich zu seinem viel zu früh gestorbenen Onkel Donar zu hören, wenn er von erfolgreicher Pirsch heimkehrte. Obgleich viele Söhne der Sippe mittlerweile das Mannesalter erreicht hatten, war es stets Tyr, der die meiste Beute erlegte, die schärfsten Speerspitzen schliff und die volle Aufmerksamkeit der Kräuterfrau genoss. Manch einer munkelte im Geheimen, dass Tyr bereits als nächster Häuptling gehandelt wurde, was in Anbetracht seiner Verbindung zu Balder nur konsequent war. Dies wurde jedoch nur selten ausgesprochen, und wenn Vali, der ihm wie ein Bruder geworden war, Andeutungen machte, schwieg er beharrlich oder schüttelte den Kopf. Er war als bescheiden bekannt, ganz wie sein Onkel, aber ebenso aufbrausend, wenn man seinen Zorn weckte oder das Feuer der Jagd in seinem Herzen loderte. Er war ein wahrer Stammesmann geworden.

Tyr leckte den letzten Rest Suppe aus seiner Tonschüssel, ließ sich das Aroma frisch gebratenen Fleisches im Munde zergehen und seufzte bedächtig. Heute war ein guter Tag gewesen. Vier Tripoden hatten er und seine Sippenbrüder zur Strecke gebracht, Vali und er allein drei davon. Danach hatte die Kräuterfrau den Segen der Kraft über sie ausgeschüttet und ihre Generation von Männern für Mut und Geschick belobigt. Die alten Jäger, darunter Balder, Forseti und Lodur, hatten anerkennend genickt. Sie mussten sich nun keine Sorgen mehr über den Erhalt der Sippe machen, denn die Welpen waren zu Wölfen geworden.

Sie hatten die großen, aufrecht schreitenden Vögel in einen Hinterhalt gelockt, den sie mit Schlingen und Fallgruben präpariert hatten. Obwohl die meisten der schlaksigen, dreibeinigen Tiere, deren Flugvermögen nicht sonderlich gut ausgeprägt war, die Fallen überflogen oder übersprangen, hatte sich die List als erfolgreich entpuppt. Die gefangenen Vögel mussten nur noch erstochen, ausgenommen und gerupft werden. Die Freude über den üppigen Festschmaus war groß gewesen und, gleichwohl die List auf Vali zurückging, strahlte die Ehre auch auf seinen Freund und Jagdbegleiter Tyr.

Lächelnd dachte Tyr über die glorreiche Heimkehr nach, die erst wenige Stunden zurücklag, und stellte die Schüssel auf den Boden. Dann wischte er sich den Mund mit dem Oberarm ab, schloss die Augen, um ein Gebet des Dankes zu sprechen, und erhob sich schließlich. Im Vorbeigehen legte er sein Besteck auf einen großen Stapel, dem die Mädchen der Sippe unwillig beim Wachsen zusahen. Er wollte zu seiner Mutter, die gerade ihr schlummerndes Mädchen auf dem Schoß sitzen hatte.

Sie und Balder hatten nur wenige Monate nach jener verhängnisvollen Jagd, die zu Tyrs Feuerprobe geworden war, ein Kind gezeugt, das den Namen Ari trug. Tyr liebte seine kleine Schwester über alles, hütete sie wie einen Schatz und duldete weder Gefahr noch schlechte Worte um sie herum. Am liebsten hätte er sämtliche Raubtiere Madras ausgelöscht, nur um sie in Sicherheit zu wissen. Da diese Tat selbst für ihn zu gewaltig gewesen wäre, begnügte er sich damit, ab und zu eines zu erlegen, um aus dem Fell ein kleines Deckchen zu nähen. Für diese Tätigkeit besaß er übrigens ein besonderes Talent, was von den anderen jungen Männern mit einer gewissen Belustigung beäugt wurde. Bei den Frauen machte ihn das beliebt, was er gut verstand, schließlich verringerte es ihren Arbeitsaufwand. Außerdem konnte er sich als Jäger mit seinem Rang eine derartige Vorliebe durchaus erlauben.

Tyr verharrte vor seiner sitzenden Mutter und lächelte ihr freudig zu. Seine nicht mehr ganz so weichen Hände streichelten ihre Schulter, als er sprach: „Sei mir gegrüßt, Mutter. Verzeih mir bitte, dass ich nicht früher zu dir gekommen bin. Ich war sehr hungrig.“

„Mögen die Asen dich hüten, Junge. Wie ich höre, warst du heute wieder erfolgreich?“

Er lächelte verlegen und stupste seiner Schwester in die Seite, woraufhin diese erschrocken hochfuhr. Als sie ihn erblickte, erstrahlte ihr Gesicht in einem breiten Freudestrahlen.

„Ja, aber es ist nicht allein mein Verdienst. Vali ist auf die Idee gekommen.“

Er beugte sich herunter, küsste Mutter und Schwester auf die Stirn.

„Die Kräuterfrau will mir noch heute Nacht das Zeichen der Unverwundbarkeit stechen.“

„Hoffen wir, dass du es wirklich bist, Knabe. Schließlich ist die Prozedur nicht ungefährlich und darüber hinaus äußerst schmerzhaft…“

Bei diesen Worten entblößte sie ihren rechten Oberarm, auf dem sich die Schmucke ihrer Verbindung zu Balder befand, ein kunstvoller Knoten aus Linien und angedeuteten Blüten der Gräser, die auf der Oberfläche von Madras blühten. Der Ursprung des Symbols lag wohl im Kosenamen zu finden, mit dem Tyrs Ziehvater sie im Geheimen bezeichnete. Die alte Schmucke, die sie mit dem verschollenen Vater verband und die sich über ihrer rechten Brust befand, hatte sie sich entgegen des üblichen Vorgehens nicht überstechen lassen. Obwohl sie den Schmerz über seinen Verlust mittlerweile überwunden hatte, trug sie noch immer viele liebevolle Gefühle für ihn in sich. Balder hatte es akzeptiert und sein Einverständnis erteilt.

Sie trug einen spöttischen Ausdruck zur Schau, als sie ihren Arm wieder bedeckte und ihrem Sohn mit dem Zeigefinger in die Brust stach, auf die alte Narbe, die noch in dieser Nacht überstochen werden sollte.

„Fürchtest du dich vor der Prozedur?“

„Es ist keine Prozedur, Mutter. Es ist ein Ritual, ein Sakrament. Und eine besondere Ehre für mich. Mein Schutz gegen die Geister wird mir unwiderruflich unter die Haut geschrieben.“

„Du wirst schreien wie deine Schwester, als ihr erster Zahn gewachsen ist.“

Lachend wandte sich Tyr ab, nicht ohne Ari noch einmal sanft über den Kopf zu streicheln. Er war sich völlig im Klaren darüber, dass die Tätowierung auf seiner massigen Narbe mehr als schmerzhaft werden würde. Nicht das Stechen allein, sondern das Bestreuen mit heißer Asche. Und natürlich hatte er einen gewissen Respekt, ein wenig Furcht davor. Das hätte er aber nicht einmal seinem besten Freund Vali gebeichtet, der gerade auf ihn zukam.

„Die Raben wachen über dich.“

„Welche Raben? Ich sehe keine.“

Die Leugnung von Wotans allsehenden Raben war nach den Regeln des Glaubens ein schwerer Frevel, doch da die beiden unter sich waren, fuhr Vali unbeirrt fort: „Du siehst aus, als könnten wir uns die Tätowierung sparen. Du wirst wohl schon vorher vor Angst verenden.“

Tyr wischte die Worte seines Gegenübers mit einem Handstreich beiseite.

„Und du wirst niemals ein Mal erhalten. Nicht einmal eine Schmucke, wenn ich dein Gesicht so aus der Nähe betrachte. Hättest du früher laufen gelernt, wärst du nicht so oft auf die Nase gefallen.“

Die jungen Männer schlugen sich gegenseitig mit der flachen Hand gegen die Schultern, als Zeichen des vertrauten Grußes. Vali war kleiner als Tyr, mit weniger klaren Augen und gröberen Zügen, dafür aber noch kräftiger. Seine Haare schnitt er stets vollständig von seinem Haupt, die Nase war tatsächlich etwas krumm. Die älteren Sippenmitglieder attestierten ihm eine erstaunliche Ähnlichkeit zu seinem Vater, die auch Tyr bemerkte. Zur Sprache kamen allerdings meist Schmähungen und Pöbeleien, weshalb sich ihre Mitmenschen häufig nicht sicher waren, ob sich die beiden tatsächlich mochten oder in Wirklichkeit verabscheuten. Dies kümmerte sie kaum und an diesem besonderen Abend noch weniger, als sie frohgemut durch die diffus beleuchteten Gänge ihrer unterirdischen Behausung marschierten.

„Du irrst dich gewaltig, mein Freund. Auch ich werde heute Nacht gezeichnet. Mit dem Mal des Jägers!“

Tyr lachte glucksend und hob den rechten Ärmel seiner Weste, unter dem die Tätowierung eines Tierschädels prangte, der von zwei gekreuzten Speeren unterlegt war. Er hatte dieses Zeichen schon letzten Sommer erhalten, nach einer besonders erfolgreichen Jagd. Es eignete sich ausgezeichnet, um seinen Gefährten rasend zu machen. Heute allerdings schien er gegen diesen Spott gefeit.

„Warte nur ab, mein Guter. Meine Zeit wird noch kommen. Man wird mich als größten Sohn unseres Stammes feiern!“, gab Vali entschlossen zurück.

„Als größte je verdaute Mahlzeit vielleicht. Aber ich befürchte, dass du den Raubtieren schwer im Magen liegen wirst.“

Vali wusste nicht so recht, ob er seinen Freund schlagen oder mit ihm lachen sollte, als sich dieser gegen eine Lehmwand abstützte, um Ruhe im Sturm zu finden. Das ungezwungene Feixen der beiden war nur Fassade, im Inneren brannte Tyr vor Nervosität und Anspannung. Seinem Freund schien es nicht anders zu gehen. Ein wichtiges Ereignis für beide stand bevor und der Raum, wo man es ihnen mit spitzen Messern einschneiden wollte, lag nur ein paar Schritte weit entfernt.

„Schmerzt das Ritual sehr?“, fragte Vali nun völlig ungeniert. Er hatte noch keine Tätowierung am eigenen Leibe erfahren. Tyr verzog das Gesicht zu einer ernsten Grimasse und wippte mit dem Kopf hin und her.

„Ich habe währenddessen mit dem Gedanken gespielt, Balder bei nächster Gelegenheit an die Kehle zu gehen. Wie er davor gegrinst hat. Sein Körper ist voller Zeichen, er hat dies alles lange hinter sich. Ja, es schmerzt. Aber fang bloß nicht an zu schreien. Die Kräuterfrau steht mit dem Weidenstock hinter dir und peitscht dich, wenn du ihren Choral unterbrichst.“

Vali verdrängte den Gedanken mit der Annahme, dass seines Freundes letzter Satz ein schlechter Scherz gewesen war. Er sollte noch erfahren, dass er sich gewaltig irrte.

„Wer wird deine Zeichnung vornehmen?“

Tyr fragte dies zu Recht, denn laut Tradition war es Aufgabe des Vaters, seinem Sohn die Symbole zu stechen. Und Heimdalls Tod in der Verbotenen Zone lag nun schon Jahre zurück.

„Forseti. Die Weise hat ihn dazu auserwählt. Er war ein enger Freund meines Vaters und kümmert sich schon lange um meine Mutter. Ich wette, wenn er nicht die Schmucke einer anderen tragen würde, wären sie schon lange Mann und Frau.“

Tyr lächelte stumm in sich hinein.

„Und die Kräuterfrau hat das erkannt?“, fragte er mit ironischem Unterton. Vali schnaubte kurz, um seiner Belustigung Ausdruck zu verleihen. Die alte Weise hatte tatsächlich ein Talent dafür, die Stimmung der Sippe zu erfassen. Wie weit ihre Tuchfühlung tatsächlich ging, ließ sich nur schwer nachvollziehen.

Beide waren sie in ihre Gedanken vertieft und hingen den Dingen nach, die auf sie zukommen würden. Es fiel ihnen schwer, sich dazu durchzuringen, weiterzugehen und die unangenehme wie ehrenvolle Pflicht zu tragen. Tyr hatte keinen Zweifel an ihrer Tapferkeit, aber es war weniger die Angst vor dem Schmerz als die Kenntnis der Bedeutung dieses Ganges. Sie würden beide anders behandelt werden, vor allem von Mitgliedern anderer Sippen. Was sie auf der Haut trugen, würde anderen Aufschluss über ihren Wert geben. Und über diesen wurde der Respekt bemessen, den man ihnen entgegenzubringen hatte. Was zählte bei einer Verhandlung über Jagdgründe oder bei einem Tauschgeschäft mehr?

Schließlich war es Tyr, der den ersten Schritt tat und seinen Rücken durchstreckte. Er warf seinem Freund einen aufmunternden Blick zu und sprach knapp: „Gehen wir.“

Sein Gegenüber erwiderte den Blick mit einem zweifelnden Lächeln und folgte ihm. Einige wenige Augenblicke später schoben sie einen Vorhang aus Holzperlen und Beinschnitzereien zur Seite, hinter dem ein weitläufiger Raum lag. Er war von Rauch verhangen und von seltsamen Düften erfüllt. Es war die Kammer der Kräuterfrau, in der Tyr einst seine Verwundung durch die Geister auskuriert hatte. Die Schlafgelegenheit war zur Seite geräumt, die Wände mit feinen Fellen behangen und der Boden mit Asche bedeckt. Im Zentrum des Zimmers brannte ein kleines Feuer, welches die merkwürdigen Aromen verbreitete.

Die Weise, Balder und Forseti waren anwesend. Der Häuptling war in den letzten Jahren deutlich gealtert, sein Haar grausträhnig geworden und seine dunkle Haut wirkte weniger straff. Dessen ungeachtet war er ein imposanter Anblick geblieben, weniger durch einstige Muskelkraft als durch einen neuen Ausdruck von Weisheit, der seine Züge zeichnete.

Er sprach mit gedämpfter Stimme: „Sprecht noch einmal zu den Göttern, dann tretet ein, Stammesmänner.“

Forseti, der neben ihm stand, wiederholte seine Worte und fügte hinzu: „Du wirst die Stiche kaum spüren, Vali.“

Die Kräuterfrau warf ihm einen zutiefst beunruhigenden Blick zu, eine Fähigkeit, die sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters nie verlernt hatte. Bemüht, die Würde der Zeremonie aufrechtzuerhalten, trat sie vor und winkte die beiden Jünglinge heran. Diese blieben stramm vor ihr verharrend stehen. Als erstes legte sie Tyr die Hand auf die Stirn und summte einige Zeilen eines unverständlichen Liedes. Dann erhob sie ihre Rute und peitschte dreimal gegen seine Tätowierung an der Schulter. Er fühlte ein leichtes Stechen und war sich sicher, dass sich nun drei deutliche Striemen gegen seine helle Haut abzeichnen würden. Als nächstes nahm die Weise eine sanft gewölbte Tonschale, die bis zum Rand mit Asche gefüllt war. Mit ihr malte sie verschlungene Linien auf seine Wangen. Schließlich spuckte sie sich in die Hände und verrieb die Zeichnungen in seinem Gesicht. Eine klatschende Ohrfeige später war Tyr bereit für die Zeremonie. Als sich die Kräuterfrau nun Vali zuwandte, um auch ihn für das Ritual zu segnen, gebot Balder seinem Ziehsohn, sich flach auf den Rücken zu legen. Also kniete sich Tyr in der Asche nieder, die durch die Luft wirbelte und ihn für einen Augenblick in grauen Wolken verschwinden ließ.

Als sich der Staub legte, beugte sich der Häuptling über seinen Schützling und raunte ihm zu: „Schließ deine Augen. Versuche, nicht zu denken. Das macht es einfacher.“

Bei diesen Worten zog er eine spitz zulaufende Metallklinge aus dem Gürtel, hielt sie ins Feuer und begann dann mit seinem Werk. Tyr hätte gern wie beim letzten Mal die Augen zugekniffen. Die Klinge auf seiner Brust tanzen zu sehen, wie sie schnell auf und nieder hüpfte, machte es nur schlimmer und es half nicht dabei, das jäh aufflammende Stechen zu unterdrücken. Seine Neugierde war zu groß. Er biss die Zähne zusammen, dachte an die sauberen Linien, die sein Ziehvater beim letzten Mal gestochen hatte. Damals war es jedoch der völlig gesunde Oberarm gewesen, nicht seine vernarbte Brust. Und das neue Zeichen sollte viel größer werden. Vor lauter Anspannung war Tyr gar nicht aufgefallen, dass die Kräuterfrau den gleichen dumpfen melodischen Gesang angestimmt hatte, wie schon letzten Sommer. Als er ihn vernahm, konnte er sich auf diesen konzentrieren. Als Vali, der unweit von ihm entfernt lag, einmal kurz aufjammerte, hörte er ein scharfes Knallen. Die Rute hatte wohl zugeschlagen, auch wenn er es durch den dichten Rauch nicht sehen konnte. Die Kräuterfrau sang unbeirrt weiter.

Es kam Tyr wie eine Ewigkeit vor, bis sich sein Ziehvater schweißgebadet erhob und sein Messer am Wams abwischte. Während der Prozedur hatte er immer wieder flüssige Farbe über die Klinge laufen lassen: Grünliches Schwarz, das aus dem Saft einer Distel gewonnen wurde, die man in den windgeschützten Winkeln von Madras finden konnte. Nun, da das Werk fast vollbracht war, kniete sich die Weise zur Feuerstelle nieder, sammelte heiße Asche mit einer Schaufel und kippte den Liegenden je einen Schwall über ihre neuen Zeichen. Während Tyr das Stechen als ein unangenehmes Ziehen empfunden hatte, so war dieser Akt wirklich schmerzvoll. Beide krümmten sich und bissen auf ihre Lippen, um ein lautes Aufschreien zu unterdrücken.

Als die Asche auf ihren Körpern erkaltet war und nurmehr rote Flecken hinterlassen hatte, war das Schlimmste überstanden. Wacklig erhoben sich beide, um den letzten Strophen vom Lied der Kräuterfrau zu lauschen, während Balder und Forseti hinter ihnen standen. Sie verstanden kein Wort, aber es erfüllte sie mit Stolz und der Gewissheit, sich wacker geschlagen zu haben.

Die beiden wurden aus der Kammer geschickt, während die anderen drei noch verblieben. Beide waren sie erschöpft, aber glücklich. Sie griffen sich Talgtiegel, die man für sie bereitgestellt hatte. Das Tierfett roch abgestanden und schmerzte auf den frischen Brandwunden, würde aber den Heilungsprozess beschleunigen. Während sie sich vorsichtig einrieben, lächelten sie sich stolz an.

Als Tyr und Vali die Haupthalle betraten, kamen ihnen als erstes ihre besorgten Mütter entgegen, dicht gefolgt von Ari. Das Mädchen weitete ihre rehbraunen Augen verstört, als sie ihren Bruder in diesem desolaten Zustand erblickte. Dieser nahm sie in den Arm, drückte sie fest und lachte schallend auf.

„Wo warst du?“, fragte das Mädchen verwirrt.

„Man hat mich bemalt. Sieh es dir an!“

Ari wandte sich schwungvoll zu ihrer Mutter herum, die nur einen Schritt hinter ihr stand. „Soll ich?“ Sie neigte dazu, auf viele Dinge mit Angst zu reagieren, die ihren Bruder umgaben. Darunter tote Tiere, allzu martialische Tätowierungen und Waffen.

Sigyn wischte die Bedenken mit einer Handbewegung beiseite. „Es bedeutet deinem Bruder sehr viel. Du solltest es dir auf alle Fälle ansehen.“

Bei diesen Worten entblößte Tyr jenen Teil seiner Brust, auf der einst die entstellende Narbe zu sehen gewesen war. Nun prangte dort ein Symbol, wie es niemand sonst besaß. Das Mal der Unverwundbarkeit, das jedem, der es sah, sagen sollte: Die Geister können mir nichts anhaben.

Doch Ari schien keineswegs entzückt. Erschrocken drehte sie sich herum und schlug sich die Hände vors Gesicht. Denn dieses Zeichen war nicht für Kinderaugen bestimmt: Ein grotesk entstellter Schädel mit Reißzähnen ruhte auf mehreren verschlungenen Linien, die zusammen eine Rune aus alten Tagen bildeten. An beiden Seiten dieses Gebildes ruhte ein Schenkelknochen, der linke gesund, der rechte gesplittert.

Tyr, der es bisher noch nicht gesehen hatte, ließ sich sogleich einen Krug mit Wasser bringen. Was er im Spiegel sah, versetzte ihn in Erstaunen. Die Linien waren so fein, so gleichmäßig, als wären sie mit einer Feder aufgetragen. Der Schädel selbst schien voller Leben. In den Augen glänzte eine real erscheinende Boshaftigkeit, ein dunkles Glühen, sodass er unmittelbar verstand, warum das Mädchen sich davor fürchtete. Das Zeichen gefiel ihm.

In diesem Moment betraten Balder und Forseti ebenfalls den Saal. Tyr rief ihnen perplex entgegen: „Balder! Wie hast du das gemacht?“

„Das Zeichen war bereits in dir. Ich habe ihm nur ein Gesicht gegeben.“

Der Häuptling gab sich bescheiden, aber in seinen Augen war ein kurzes Aufflammen von Stolz zu erkennen. Tyr drehte sich im Kreis, damit jeder das Kunstwerk auf seiner Haut sehen konnte. Die Menschen raunten, manche beeindruckt, andere furchtsam. Mit der Tätowierung als Beweis konnte nun niemand mehr leugnen, dass Tyr in besonderer Weise von den Asen gesegnet war.

Vali, der etwas abseits seines Freundes stand, betrachtete sein Verhalten mit einem schalen Lächeln. Obwohl er es nicht zugegeben hätte, empfand er einen Stich des Neides, dass Tyr umringt von fast der gesamten Sippe solche Aufmerksamkeit genoss. Vali drückte die Hand seiner Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, dann verdeckte er seine Tätowierung, die angesichts von Tyrs großer Enthüllung wenig Beachtung erhielt. Im Stillen hielt er fest, dass schließlich er die List ersonnen hatte, die heute alle Mägen füllte.

Die nächsten Monate verliefen verhältnismäßig ruhig. Die Jäger zogen täglich an die Oberfläche, die Frauen verließen sich auf ihre geschickten Finger und fertigten Schüsseln, Decken, Holzschäfte für die Speere und andere nützliche Gegenstände. Es war ein gutes Leben, wie Tyr fand. Die Beute war zahlreich und wohlschmeckend, der kalte Wind, der die Oberfläche stets prägte, wurde schwächer. Ein gutes Omen, das den Männern frischen Mut verlieh. Dieser Status quo hätte ewig so bestehen können.

Doch ein weiteres Großereignis stand bevor, welches das Gesicht der Sippe für immer verändern sollte. Die Zeit des Vermählungstausches war gekommen, eine Tradition im Stamm, die in jeder Generation einmal vollzogen wurde. Nahezu alle jungen Mädchen der sieben Sippen des Stammes wurden zu einer der anderen Sippen entsandt, im Tausch gegen die Mädchen einer weiteren Sippe. Dieser Vorgang, der kreisförmig von Sippe zu Sippe durchgeführt wurde, sorgte dafür, dass erst in sieben Generationen wieder Nachkommen zu Tyrs Sippe stießen, die von den einst entsandten Mädchen abstammten. Eine grausame Tradition für Kinder und Eltern, die Familien entzweite und geliebte Menschen voneinander trennte, aber unbestritten notwendig, um Inzest innerhalb des Stammes zu verhindern und somit sein Überleben zu sichern. Ausnahmen waren zwar durchaus üblich, wenn sich junge Paare bereits vor dem Vermählungstausch ihrer Generation gefunden hatten, dann jedoch nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der Kräuterfrau. Für alle anderen ledigen Mädchen kam eines Tages der Zeitpunkt, Heimat und Familie zu verlassen.

Entsprechend gedrückt war die Stimmung der Sippe. Die meisten Mädchen wollten ihren Geburtsort nicht aufgeben, ihre Familien nicht verlassen, um die Schmucke eines fremden Stammesmannes zu tragen. Doch die Gesetze der Menschen und der Götter waren heilig wie mitleidslos und die Kräuterfrau willigte abermals in den Vermählungstausch ein. Dabei war sie von tiefer Trauer erfüllt, denn es waren auch zwei ihrer eigenen Töchter betroffen. Nur die Älteste durfte bleiben, um bei ihrer Mutter zu lernen und eines Tages selbst eine Weise zu sein. Auch Balder, der als Häuptling der Sippe ein unbestrittenes Mitspracherecht besaß, willigte ein.

Obwohl Tyr Anteil an der Trauer seiner Sippengeschwister nahm, war er im Herzen froh, dass der Vermählungstausch nun bevorstand. Immerhin war Ari noch viel zu jung, um fortgeschickt zu werden, und es war äußerst unwahrscheinlich, dass sie zum nächsten Vermählungstausch noch ledig sein würde. Er hätte es nicht ertragen, seine Schwester in die Ferne ziehen zu lassen, in die Obhut einer anderen Sippe. Sie nurmehr beim großen, alle neun Jahre stattfindenden Blot im Schein der Fackeln stehen zu sehen, wenn alle Sippen des Stammes zusammenkamen, um gemeinsam die hölzernen Abbilder der Asen mit Blut, Rauch und Opfergaben zu weihen.

Obwohl er durchaus Mitleid mit den betroffenen Mädchen und ihren Eltern hatte, so konnte er doch kein aufrichtiges Bedauern empfinden. Zu groß die Freude über Aris Bleiben, zu lebendig die Erinnerung an erlittene Kränkungen. Er hatte nicht vergessen, wie ihn die anderen Kinder einst behandelt hatten, als er dem Tode geweiht gewesen war und als Außenseiter um seinen Stand in der Sippe hatte fürchten müssen. Neben Vali hatte er keinen Freund, für den er aufrichtige Zuneigung empfand, und obwohl er seinen Frieden mit den meisten der Gleichaltrigen geschlossen hatte, konnte er sich nicht durchringen, einem der Mädchen mehr als den üblichen Respekt Sippengeschwistern gegenüber entgegenzubringen. Insgeheim verspürte er eine gewisse Aufregung, wenn er an die geheimnisvollen jungen Frauen dachte, die bald zur Sippe stoßen würden. Vielleicht würde eine von ihnen bald seine Schmucke tragen, den verbliebenen Teil Einsamkeit ausfüllen, den seine Mutter, Schwester und der geliebte Freund Vali nicht ausfüllen konnten. Derartige Überlegungen behielt er allerdings streng für sich. Die anderen Jünglinge waren weit weniger erfreut als er, da sie meist Schwestern hatten, die durch den Tausch betroffen waren.

Gleich wie die einzelnen Sippenmitglieder diesem Ereignis entgegensahen, so waren sie alle tief davon berührt. In den langen Tagen des Wartens wurde beim gemeinsamen Essen und nach dem Beten in der großen Halle kaum ein anderes Thema aufgegriffen, die Kinder spielten das Ganze ihrer Vorstellung entsprechend nach und selbst die Kräuterfrau griff abendlich Sagen auf, die von Vertreibung oder Heimatsuche handelten.

Die jungen Mädchen versuchten sich, so gut es ging, auf ihre Bürde vorzubereiten, ein Teil bewegte sich nah am Rand der Verzweiflung, einigen wenigen schien der baldige Vermählungstausch ein lockendes Abenteuer zu sein, um der Beengtheit der eigenen Wohnhöhle zu entkommen. Sie freuten sich, dem Alltagstrott zu entfliehen und vielleicht neues Glück zu finden. Diese Gruppe war allerdings deutlich in der Unterzahl.

Der vereinbarte Tag des Vermählungstausches war gekommen. In der Hauptgrotte hatte sich die gesamte Sippe eingefunden. Alle Jäger, die irgendwie abdingbar waren, die alten Frauen, die Kinder und natürlich die Mädchen selbst.

Sie hatten sich nach allen Regeln der Kunst geschmückt. Um ihre Hälse trugen sie Ketten aus buntem Glas, ihre Augen hatten sie mit Ruß unterstrichen und die Haut mit weißer Farbe gebleicht. Ihre Kleidung war mehr prächtig als wärmend. In ihren Gesichtern erkannte man Ungewissheit und bei einigen Furcht, andere hatten sich offensichtlich mit ihrem Schicksal arrangiert und wagten nun endlich, diesem Gefühl mit einem erwartungsvollen Lächeln Ausdruck zu verleihen. Alle waren sie schrecklich aufgeregt.

Nun betrat endlich die Kräuterfrau den Hauptsaal. Sie ging auf einer Krücke, denn sie war krank. Das Alter nagte sichtbar an ihr, nur ihr strenger Blick schien hiervon verschont. Mit der freien Hand vollzog sie eine ausladende Geste, bevor sie ihre Stimme erhob. Ihre Worte handelten von Pflicht und Treue, von der wichtigen Aufgabe, welche die Mädchen und Frauen für die Sippe zu tragen hatten. Kein Opfer sei so groß wie jenes, seine Heimat aufzugeben, um die Familien vor Fehden, Aussterben und Krieg zu schützen. Sie sprach ihren Stolz und ihren Respekt aus, was aus dem Munde der Weisen eine große Ehre war.

Tyr saß in den hinteren Reihen auf einem Stuhl und betrachtete das Ganze mit nach wie vor gemischten Gefühlen. Die langen Reden der Weisen waren ihm mehr und mehr zum natürlichen Schlafmittel geworden, denn ihr Pathos wurde durch die mittlerweile altersschwache Stimme noch langatmiger. Nicht dass er die Ehrwürdige nun weniger schätzte. Aber es war auch nicht mehr zu übersehen. Sie war schon erstaunlich alt gewesen, als Tyr noch ein Kind war.

Tyr war gespannt auf die Ankunft der Fremden, der Frauen wie der Männer, denn selbst innerhalb des Stammes kamen die Sippen nur selten zusammen. Besonders neugierig war er auf den Anblick der auswärtigen Krieger. Er scheute sich nicht, sich mit anderen zu messen, aber die fremden Krieger als schwächliche Gestalten zu erkennen, hätte ihm eine gewisse Genugtuung verschafft.

Die zunehmende Nervosität machte Tyr unruhig, sodass er sich bewegen musste. Geduckt schlich er sich durch die Reihen der Schaulustigen. Wenige Augenblicke später kam er neben Vali zum Stehen.

„Komm mit. Das Warten wird mir langsam zur Qual.“

Sofort ging er weiter, gefolgt von seinem verdutzten Freund, der Sinn und Zweck der Aufforderung nicht infrage stellte. Die Menschen schenkten ihnen keine Beachtung, als sie sich, langsam aber sicher, zu einem der kleineren Ausgänge vorarbeiteten. Heimlich schlüpften sie an die Oberfläche.

„Was hast du vor?“, fragte Vali nun endlich.

„Ich will mir das Ganze aus der Nähe ansehen. Balder meint, die Fremden kämen aus nördlicher Richtung.“

„Und du willst ihnen auflauern?“

„Genau.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machte sich Tyr schon auf, sein Freund kam mit besorgter Miene hinterher. „Und wenn sie uns sehen? Sie werden denken, dass wir sie überfallen wollen.“

„Sie werden uns nicht sehen.“

„Dich vielleicht nicht. Ich hingegen bin unauffällig wie ein Baum in der Verb…“

Tyr unterbrach seinen Begleiter mitten im Satz: „Willst du mit mir kommen oder muss ich erst betteln, du Feigling?“

Vali grummelte einen kurzen Fluch, setzte sich jedoch bereits in Bewegung. Sie gingen schweigend querfeldein, über Felsbrocken und anderes Gerümpel. Man würde sie nicht vermissen. Die Aufregung der Sippe war zu groß, als dass sie sich um die Abwesenheit zweier Jünglinge sorgen würden.

Nach einiger Zeit setzten sich die beiden in den Schein der aufgehenden Sonne und machten Rast. Vali wirkte noch immer nicht glücklich, Tyr hingegen grinste breit und selbstsicher. Die steife Ritualstimmung in der Haupthalle war ihm nicht bekommen, nun fühlte er sich frei. Hier konnte er seinen eigenen Plänen folgen. Diese waren geneigt, ihn in Schwierigkeiten zu bringen, was sein Freund richtig erkannt hatte. Der Vermählungstausch war ein hoher diplomatischer Akt. Eine Störung wäre eine nicht wiedergutzumachende Kränkung. Die Unbedachtheit der Jugend führte Tyr über solche Abwägungen hinweg.

Dem Norden entgegeneilend, kamen die beiden gut voran. Der Wind blies stärker als gewöhnlich, aber die Sonne schien wärmend und ausdauernd. Die Luft war klar und rein, man konnte kilometerweit in die Ferne spähen.

Tyr genoss die Aussicht so sehr, dass er die sich nähernden Schatten erst bemerkte, als ihm Vali den Ellbogen in die Seite stieß. Schlagartig ließen sich die beiden auf ihre Bäuche fallen und starrten auf den Pfad, der vor ihnen lag. Doch anstatt der ankommenden Sippenkarawane erblickten die jungen Männer breite Gestalten, deren Leiber wie aus Stein gemeißelt schienen. Sie trugen Kleider aus dunklem Leder mit glänzendem Metall an den Schultern und im Gesicht. In den Händen hatten sie lange Rohre, die an breiten Bändern um ihre Leiber geschnallt waren. Sie wirkten wie Dämonen aus vergangenen Zeiten, ihre stählernen Masken zeigten wilde Tierfratzen.

„Das können doch unmöglich…“

Vali verstummte. Seine Stimme schien sich aus Furcht in seinen Leib verkrochen zu haben. Tyr zählte fünf dieser merkwürdigen Figuren. Einer ging an ihrer Spitze, ein blau gefärbtes Tuch flatterte als Umhang hinter ihm. Seine schweren Stiefel drückten sich tief in den Schutt, während er Befehle in einer unbekannten Sprache schrie, die hart und fremdartig klang. Die beiden Stammesmänner verstanden kein Wort.

„Das sind Dämonen. Die Geißel der Sippe!“, keuchte Tyr mit schreckgeweiteten Augen. Sein neben ihm liegender Freund gab ein heiseres Husten von sich. Sein Gesicht hatte sich zu einer schaurigen Grimasse verzogen, fast wie die stählernen Masken der Fremden.

Plötzlich stoppte der Zug der Metallgesichtigen. Der Vordermann hob den behandschuhten Arm in die Höhe und bellte ein Signal. Sofort liefen zwei der anderen los, direkt auf Tyr und Vali zu. Adrenalin schoss wie Feuer in Tyrs Adern, er sprang auf und wollte fliehen, aber etwas versperrte seinen Weg. Er fiel ungeschickt über Vali und schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Er konnte fühlen, wie Knorpel plattgedrückt wurden, während er die Lider verkrampft zudrückte und sich Hitze über seine schmerzenden Wangen ausbreitete. Vali schrie erschrocken auf. Einer der herangeeilten Fremden brüllte einen lauten Befehl, der andere trat dem liegenden Tyr mit dem Stiefel in die Seite. Der Junge fühlte den Tritt wie die Hörner eines rasenden Stiers, er kippte zur Seite, hustete und spuckte in den Sand, während sich seine Augen mit Zornestränen füllten. Der Kommandant der Fremden kam heran und wies seine Männer zurecht. Dann packte er Vali am Arm, zog ihn zu sich herauf und brüllte ihn an: „Wer seid ihr?!“

Er sprach gebrochen, seine Intonation war falsch, was den Schrecken seiner Stimme jedoch nicht zu lindern vermochte. Der Jüngling wagte nicht zu sprechen, er hechelte panisch nach Luft, während er in die stählerne Bärenmaske starrte. Ein Knüppel traf ihn am linken Knöchel, er jaulte schmerzerfüllt auf. Der Bärengesichtige wiederholte seine Frage, diesmal lauter. Ein Untergebener, der die Maske eines Fuchses trug, zischte unverständliche Worte, während ein anderer einen großen schwarzen Kasten hervorholte. Der Kommandant warf Vali zurück in den Staub und packte Tyr von hinten am Kragen. Langsam zog er ihn zu sich herauf. Tyr konnte den ausgestoßenen Atem im Nacken fühlen, er zitterte am ganzen Leib. Plötzlich tauchte der Kerl mit dem seltsamen Kasten vor ihm auf. Ein ellenlanger Schlauch ging von diesem aus, an dessen Ende eine spitze Nadel prangte.

Bevor Tyr wusste, wie ihm geschah, packte ein Dritter seinen Arm und drückte seine Handfläche in die metallene Spitze. Der Schmerz kam unerwartet und überwältigend, er riss entsetzt Augen und Mund auf. Tyr versuchte sich zu wehren, aber der Griff des Fremden war fest wie Granit. Als er zu schreien begann, traf ihn ein Ellbogen im Gesicht. Er keuchte und hielt den nun freien Arm schützend vor sich. Der merkwürdige Kasten gab ein dumpfes Klickgeräusch von sich, dann nickte der Träger.

Tyr wurde losgelassen und landete abermals hart auf dem Untergrund. Zwei Hände packten seine Arme und drückten sie auf seinen Rücken, während ein weiteres Paar ein raues Seil um sie knotete. Als er die staubverklebten Lider öffnen wollte, blieb die Welt um ihn herum schwarz wie die Nacht. Man hatte ihm die Augen verbunden.

Völlig hilflos lag er am Boden, während er Vali panisch schreien hörte, dazu laute Befehle in der Sprache der Fremden. Verzweiflung ergriff Besitz von ihm. Und er hatte Angst. Schreckliche Angst.

Apokalyptika - Gesamtausgabe

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