Читать книгу Apokalyptika - Gesamtausgabe - Tom K. Williams - Страница 19

I. Hohe Berge

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Als Tyr sein Bewusstsein wiedererlangte, war die Welt um ihn herum noch von jener Schwärze wie zuvor. Blind war das erste Wort, das ihm durch den Kopf schoss. Ein fürchterliches Jucken reizte seine Augen. Erst nach einigen Augenblicken wurde ihm klar, dass sie nur verbunden worden waren.

Ein Kribbeln durchdrang seinen Körper wie dutzende kleine Flämmchen, die durch seine Venen schwammen. Zitternd bemerkte er, dass er nicht etwa auf dem Boden lag, sondern auf seinen eigenen Füßen stand. Was ihn noch mehr erschreckte – seine Füße bewegten sich. Er ging, obwohl er ohnmächtig hätte sein müssen. Dennoch trugen seine Füße ihn beständig vorwärts. Tyr war gefangen in seinem eigenen Körper.

Ein Anflug von Panik schoss ihm in Brust und Hals. Sein Verstand kämpfte gegen die Benommenheit, versuchte, dem Nebel etwas Klarheit und die Kontrolle über seine Gliedmaßen abzuringen. Die Versuche blieben nicht vergebens – das taube Gefühl in Händen und Füßen wurde schwächer und er begann, sich wieder als Herr seiner Sinne zu fühlen.

Nun wieder unter seiner Kontrolle, versuchten seine Hände instinktiv, gegen die Dunkelheit vorzugehen, die ihm den Blick auf die Welt verbarg, doch es gelang nicht. Sie waren ihm auf den Rücken gebunden. Mit dem neuerworbenen Gefühl wurde er ebenso von einer Woge aus Schmerzen ergriffen. Seine Füße fühlten sich wund an, die Waden hart und übersäuert, die Schultern durch die unnatürliche Haltung geschunden.

Sein Herz hämmerte stürmisch in der Brust, von allen Seiten fürchtete er Schläge, Tritte oder andere Scheußlichkeiten.

Plötzlich gellte neben ihm ein unverständlicher Schrei auf. Sofort drängte sich die Fratze des Bärengesichtigen vor Tyrs inneres Auge. Er erschrak fürchterlich. So sehr, dass seine ungehorsamen Beine zum Stillstand kamen.

Unmittelbar stieß ihn etwas hart in den Rücken. Er kippte nach vorne und landete auf weichem Untergrund. Dieser fühlte sich an wie ein menschlicher Leib, der ebenso erschrocken wie er selbst zusammenzuckte.

Unweit von Tyr schob sich ein Legionär namens Ephemopterus die stählerne Maske vom Gesicht und schnupperte die kühle Brise, die ihm und seinen Kameraden von Osten her entgegenkam. Müde blickten seine braunen Augen in ebenjene Richtung. Irgendwo in der Ferne lag seine glorreiche Heimat, lebten seine Frau und die kleine Tochter. Dort war er daheim und dahin zog es ihn zurück.

Aber nun war er hier. Hier im Barbarenland des Westens, wo unheimliche Tiermenschen ihr Unheil trieben und die Zerstörung und die Trostlosigkeit die einzigen Zierden der Welt waren.

Neben ihm marschierte eine lange Karawane von aneinandergeketteten Menschen, flankiert von seinen Brüdern, die mit wachsamen Augen die Umgebung sondierten. Einer von ihnen rief Ephemopterus zu: „Die Wilden werden unruhig. Gib ihnen noch eine Dosis!“

Als er sich umdrehte, sah er gerade noch, wie einer der Gefangenen urplötzlich stehenblieb und so zwangsweise eine Karambolage verursachte. Wie Dominosteine purzelten die vielleicht zwanzig Wehrlosen durcheinander, strebten voneinander weg und verknoteten sich mit ihren Fesseln zu einem grotesk wirkenden Gewühl.

„Was habe ich gesagt? Einer der Idioten ist wach geworden!“

„Warte nur, dem werde ich helfen…“ Ephemopterus sah einen seiner Kameraden auf den Haufen zugehen, seine Körpersprache verriet seine Absichten.

„Halt! Ich stell ihn ruhig“, rief er ihm zu.

Der aufgebrachte Legionär schien nicht hören zu wollen. Er packte den Schuldigen grob an den Schultern und befreite ihn aus dem Gedrängel.

Der halbnackte Gefangene zuckte in alle Richtungen und schrie nach Leibeskräften. Ephemopterus beschleunigte seine Schritte. Er kannte das unkontrollierte Temperament seiner Kameraden und befürchtete einen blutigen Zwischenfall.

Als er sie erreicht hatte, klopfte er dem Legionär freundschaftlich auf die Schulter. „Lass nur. Das war mein Fehler. Ich hätte die Dosis höher ansetzen müssen.“

Der andere jedoch schüttelte nur den Kopf und fluchte: „Diese verfluchten Barbaren vertragen dein Gift wie die Milch ihrer Mutter. Man sollte einmal ein Exempel an ihnen statuieren!“

Der Gefangene wand sich so erbärmlich, dass Ephemopterus fast Mitleid bekam. Nicht unbedingt das Mitleid, das er einem zivilisierten Menschen entgegenbringen würde, aber die Behandlung gefiel ihm dennoch nicht. Das große Ideal des Imperiums verlangte von ihnen, die Welt zu unterwerfen und zur Ordnung zu zwingen. Für unnötige Grausamkeiten sah Ephemopterus keine Notwendigkeit.

Doch noch bevor er etwas entgegnen konnte, kam der Kommandant herangeeilt. Seine Stimme hätte selbst dem Tosen der Hölle Einhalt geboten. „Was in Narbo Martius Namen treibt ihr Schwachköpfe? Hey, du! Nimm gefälligst Haltung an!“

Gemeint war der Peiniger des Gefangenen, der sein Opfer augenblicklich losließ. Wimmernd brach Tyr auf seinen Mithäftlingen zusammen.

„Einer der Wilden scheint das Sekret besser zu vertragen als die anderen. Er ist erwacht und hat den ganzen Zug durcheinandergebracht“, machte Ephemopterus Meldung.

Dem Befehlshabenden entfuhr ein wuchtiger Seufzer durch die Atemschlitze seiner Bärenmaske. „Wer ist für die Betäubung verantwortlich?“

Ephemopterus zuckte schuldbewusst zusammen. Zaghaft zog er sich den Lederhandschuh von der Rechten und hielt sie seinem Anführer entgegen. Dieser ließ eine peitschende Gerte auf die Knöchel herabzischen. Ephemopterus schluckte den Schmerz hinunter und kniff die Augen zusammen. Langsam nahm er seine zitternde Hand zurück, von der ein schmales rotes Rinnsal troff. Der Kommandant wandte sich um. Mit kraftvoller Stimme verkündete er: „Lager aufschlagen! Hier verbringen wir die Nacht!“

Tyr keuchte und schrie noch immer. Die kalten Finger in seinem Nacken, die ihn schmerzhaft nach oben gezerrt hatten, die lauten Stimmen, der Geruch von vielen verängstigten Menschen um ihn herum, denen die Furcht aus allen Poren quoll. Das alles war zu viel für ihn.

Von allen Seiten rempelte man ihn an, roch er den Schweiß fremder Menschen und mit jeder Berührung dämmerte es ihm schrecklich: Er musste sich inmitten eines Menschenknäuels befinden. Die anderen mussten ebenso blind und verwirrt sein wie er, schließlich verhielten auch sie sich völlig irrational.

Ein weiterer Gedanke raste ihm durchs Bewusstsein: Vali musste sich irgendwo in seiner Nähe befinden! Wenn er lebte, lebte auch sein Freund! Den geliebten Freund bei sich zu wissen, wäre einerseits tröstlich gewesen als vertrauter Anker in der erschreckenden Ungewissheit, doch gleichzeitig verabscheute er den Gedanken, dass auch er sich in dieser misslichen Lage befinden könnte.

Gerade als Tyr Valis Namen rufen wollte, drehte man ihn zur Seite und zog das borstige Tuch von seinem Schädel. Das Erste, das er im diffusen Abendlicht erkannte, war eine matt glänzende Tiermaske. Erschrocken wich er nach hinten zurück, wo er mit einem weiteren Kopf zusammenstieß.

Der Tiergesichtige drehte Tyr auf den Rücken, löste seine Fesseln vom Strang der restlichen Gefangenen und wickelte sie augenblicklich um sein Faustgelenk.

Mit starkem Akzent raunte er ihm zu: „Weiter. Geh mit.“

Tyr war zu überwältigt, um Widerstand zu leisten. Er ließ sich ein Stück weit führen, bis er schließlich auf einen Felsen gesetzt wurde.

Während er laut keuchend auf diesem verharrte, hatte der Maskierte einen Pfosten in die Erde getrieben, an dem er ihn festmachte.

Erst danach bemerkte Tyr, wie fremd und unwirklich die Gegend aussah. Man konnte viele Kilometer weit blicken, aber nirgendwo waren Schutthügel oder asphaltierte Pfade zu sehen. Der Boden war weich und gab nach, war an vielen Stellen gar mit flachem Grün bewachsen.

Tyr erkannte ungläubig, dass er sich nicht mehr in Madras befand. Er war verschleppt worden. Ein Gefühl des Verlustes ergriff ihn, als er nirgends am dunklen Horizont ein Zeichen seiner Heimat erkennen konnte.

Ephemopterus und seine Kameraden errichteten ihr Nachtlager so schnell sie konnten. Die Wilden wurden von den einen mit ihren Handfesseln an hölzernen Pflöcken festgemacht, während andere primitive Zelte aufbauten und die Wachdienste einteilten.

Bei seinem Eintritt in die Legion war Ephemopterus klar gewesen, dass ihn kein komfortables Leben erwarten würde. Aber Expeditionen in die Ferne konnte er nach wie vor nur als Schikane bezeichnen. Wie lange schon hatte er nicht mehr bei seiner Frau geschlafen, sein Kind zu Gesicht bekommen und die Vorzüge von Narbo Martius genossen? Die Stadt der Städte lag weit entfernt. Wie sehnte er sich nach ihr!

Vor drei Tagen waren ihnen die letzten beiden Wilden in die Fänge geraten. Ein Glückstreffer, wie sich herausstellte. Einer der beiden teilte sich erhebliche Elemente seiner DNA mit einem gesuchten Feind des Kreises. Er war vielleicht der Neffe, der Enkel oder gar Sohn des Gesuchten. Doch darüber sollte später entschieden werden. Ephemopterus war kein Genetiker, sondern der Giftmischer der Truppe. Als Zivilist arbeitete er als Gehilfe eines Apothecarius, daher auch seine Kenntnisse über Tinkturen, Gifte und Arznei. Er hatte einmal versucht, bei seinen Kameraden mit dieser Stellung Eindruck zu schinden. Es war ihm nicht gelungen.

Ephemopterus saß nahe den Gefangenen auf einem Erdhügel und kümmerte sich um seine Spritzen, dachte an dies und jenes, während er die Kartuschen fein säuberlich vorbereitete. Gefangenentransporte waren viele, viele Jahre lang ein gefährliches wie unangenehmes Unterfangen gewesen. Es bestand stets die Möglichkeit von Ausbruchsversuchen, Widerstreben und anderen sinnlosen Tätigkeiten, die jedoch häufig zur Verwundung oder gar dem Verlust von Legionären führten. Zwar waren die Wilden meist hoffnungslos unterlegen, schließlich hatte jeder der Legionäre zwei Magazine voll von ausgezeichneten Argumenten für Gehorsam im Magazinschacht, nur erkannten die wenigsten Wilden diese Tatsache früh genug. Erst der Einsatz professioneller Rauschmittel hatte das Überführen von Menschen zu einer fast langweiligen Tätigkeit gemacht.

Ephemopterus erhob sich zögernd und schlenderte zu den Angebundenen herüber, um ihnen ihre Dosis zu verabreichen. Er kam etwas zu früh. Zwei seiner Brüder waren gerade dabei, den Gefangenen nahrhaften Schleim einzuflößen, ob sie nun wollten oder nicht. Einige husteten, manch einer würgte, doch die anhaltende Wirkung der Droge und der Hunger taten ihr Übriges. Während er wartete, sondierte Ephemopterus die Wilden genau. Sie waren hager und abgewetzt, tätowiert, mit Brandzeichen versehen oder hatten sich Metall- oder Knochenstücke durch die Haut gebohrt. Ihre Haare trugen sie in langen Zotteln, zu turmartigen Frisuren hochgesteckt oder waren kahlrasierten Schädeln gewichen. Sie wirkten äußerst befremdlich auf den Legionär. Doch irgendwie faszinierten sie ihn auch. Er wusste erstaunlich wenig über diese merkwürdigen Menschen, die sie aus der Fremde holten, um sie zu erheben oder zu bestrafen. Die Absicht war von Fall zu Fall unterschiedlich. Obgleich Ephemopterus wusste, dass es in Narbo Martius einige verlotterte Gelehrte gab, die sich mit den Barbaren auseinandersetzten, war dieses Wissen weder besonders angesehen, noch für Soldatenohren bestimmt. Legionären stand es nicht gut, sich zu sehr für die Wilden und ihre Gebräuche zu interessieren und am Ende noch Sympathie für sie zu empfinden. Spätestens als Sklaven wurden sie gewaschen, geschoren und für zivilisierte Augen erträglich gemacht. Das reichte ihm.

Einige von Ephemopterus‘ Kameraden verachteten die Wilden, manche hassten sie regelrecht. Er selbst konnte sich nicht zu solchen Empfindungen hinreißen lassen. Sie taten ihm leid, auf eine kühle und abgeklärte Weise. Er tat, was von ihm verlangt wurde, weil er wusste, dass der Kreis im Recht war. Immer.

Tyr würgte den salzig schmeckenden Schleim krampfhaft herunter. Normalerweise hätte er sich vor den Geschenken des Feindes gefürchtet, doch der brennende Hunger ließ ihm keine Wahl. Gierig nahm er alles in sich auf, was ihm geboten wurde. Für ein saftiges Stück Fleisch hätte er gemordet, ganz zu schweigen von der behaglichen Wärme seines Zuhauses.

Zu seinem Leidwesen war er irgendwo in der Ödnis, umringt von anderen bemitleidenswerten Gefangenen, die ihm zwar nicht sehr ähnlich sahen, aber zumindest als Mitglieder eines anderen Stammes zu erkennen waren. Manche kannten sich, unterhielten sich leise in einer Sprache, die Tyr sehr an seine eigene erinnerte. Dabei schnappte er unterschiedlichste Gesprächsfetzen auf. Die Männer mit den Eisengesichtern seien Dämonen, waren sich die einen sicher. Andere sagten, es seien Mitglieder eines verfeindeten Stammes, die einen Pakt mit dem Bösen eingegangen waren. Die Erklärungen wurden immer abstruser, hatten nichts mehr mit der wahrhaftigen Lehre der Kräuterfrau gemein, sodass Tyr aufhörte, ihnen zuzuhören.

Er fühlte sich allein, einsam. Die ganze Zeit über hielt er nach Vali Ausschau, aber nirgendwo ein Zeichen von ihm. Mit seinem treuen Freund an der Seite hätte alles nur halb so schwer gewogen. Seufzend ließ sich Tyr zusammensacken. Er war müde, ernüchtert. An Schlaf war trotzdem nicht zu denken. Angst und Wut hielten ihn wach. Wotans Raben sollten seinen Häschern die Augen aus den rottenden Schädeln kratzen! Schließlich schaffte Tyr es doch, einzuschlafen.

Die Legionsexpedition bewegte sich in straffem Tempo ostwärts. Sie hatte ihren Auftrag erfüllt, neue geographische Daten erfasst und einige Wilde in Arrest genommen, ohne in einen Kampf mit anderen Barbaren oder größeren Tieren verwickelt worden zu sein. Man bewegte sich in drei Zügen, die wenige Kilometer voneinander entfernt marschierten und stets in Kontakt blieben.

Nach einigen Tagen beschlossen die Kommandanten, dass man nun weit genug von der Heimat der Gefangenen entfernt war. Die ungesunde Praxis der Dauersedierung sollte allmählich eingestellt werden. Die ersten Gefangenen zeigten bereits alarmierende Ausfallerscheinungen und Symptome der Abhängigkeit.

Ephemopterus wurde von widersprüchlichen Gefühlen geplagt, als er eines Abends auf seinem Marschgepäck saß und seinen Gedanken nachhing. Es machte ihn glücklich, die bedauernswerten Wilden nicht länger mit hohen Konzentrationen zu sedieren, allerdings standen ihm die weitaus unbequemeren Aufgaben eines gewöhnlichen Legionärs bevor. Er gestand sich ein, ohnehin nichts daran ändern zu können, und befüllte seine Spritzen mit einer abgeschwächten Dosis. Dann erhob er sich und ging zu einem verfallenen Gebäude hinüber, das von drei seiner Kameraden bewacht wurde.

Momentan kampierte der dritte Zug in einem verlassenen Bergdorf. Der Zustand der Ruinen ließ darauf schließen, dass dieser Ort schon vor dem Weltenbrand kein erstrebenswertes Zuhause gewesen sein dürfte. Er wirkte wie eine Ansammlung von Steinbrocken, die sich zufällig zu Mauern geformt hatten. In den fast vollständig eingestürzten Häusern fand sich reichlich nutzloses Gerümpel: Verrottete Möbel, bunter Kunststoffmüll, der nunmehr von brauner Färbung war. Gelegentlich Knochen. Die moosbewachsenen Böden waren teilweise eingestürzt. Ein gefährliches Pflaster für die Legionäre, die bei der halbherzigen Plünderung höllisch aufpassen mussten. Dafür fanden sie durchaus noch brauchbare Dinge: Stark verrostete oder angelaufene Metallteile wie Essbesteck oder anderen Hausrat, der sofort mitgenommen wurde. Metall war ein wertvoller Rohstoff und ein beliebtes Mitbringsel, mit dem sich die Legionäre bei ihrer Heimkehr etwas dazuverdienten.

Ephemopterus drängte sich an einem Legionär vorbei und stieg eine abgewetzte Steintreppe empor. Der andere hatte zum Gruße nicht einmal die Maske gelüftet, ein deutliches Zeichen von Respektlosigkeit. Der Geschmähte knirschte mit den Zähnen, als er durch die Pforte des Ruinenhauses ging. Für seine Kameraden war er ein Drückeberger, ein Feigling, der lieber in Ruhe sein Gift mischte, als ernsthaft zuzupacken. Vor allem Formicidus, derjenige, der über den stehen gebliebenen Gefangenen hatte herfallen wollen, ließ ihn seine Verachtung mit ganzer Wucht fühlen. Er war ihm vom militärischen Rang her ebenbürtig, jedoch genoss er vor den Männern weitaus mehr Achtung. Er war eine Art Held für die Legionäre, ein bewährter Krieger, der schon an unzähligen Expeditionen und Feldzügen teilgenommen hatte. Und so einem hatte Ephemopterus gewagt zu widersprechen!

Er spritzte dem erstbesten Gefangenen eine kleine Dosis, während er sich selbst im Geiste ohrfeigte. Dabei lasteten viele starre Blicke auf ihm. Einer davon gehörte Tyr.

Im Herzen des jungen Stammesmannes loderte heiße Glut. Wie er diesen eisengesichtigen Kerl hasste, dessen kleiner Stich seinen Geist erneut auf wirre Bahnen des Vergessens lenkte. Tyr hatte sämtliches Zeit- und Raumgefühl verloren. In gewissen Abständen, die ihm wie gefühlte Ewigkeiten vorkamen, kam er wieder zu Verstand, um mit widerlich schmeckender Nahrung gefüllt oder zum Schlafen an einen unbequemen Ort gebunden zu werden. Dazwischen die langen Phasen der psychischen Abwesenheit, in denen weder Gedanke noch Gefühl auf fruchtbaren Boden fielen.

Aber dennoch war ihm mittlerweile vieles klar geworden. Unter den abscheulichen Masken mussten sich Menschen versteckt halten. Ihre Art zu gehen und zu reden, die kleinen Streitereien, die sie untereinander hatten, verrieten sie. Manch einer von ihnen hatte sogar gelacht! Sie wirkten nur halb so schrecklich, wenn man sie genauer beobachtete.

Außerdem wurden seine Wachphasen immer länger, seine Zeit zum Beobachten ebenso. Innerlich brodelte er vor Tatendrang und er wartete auf den Moment, an dem er zu Kräften kam. Er würde seinen Peinigern die Schmach tausendfach vergelten.

Plötzlich raunte von der Seite eine Stimme: „Wenn du etwas tun willst, dann tu es gleich. Die Eisengesichter bemerken, wenn dein Blick ihnen folgt. Du solltest bis zum letzten Moment den Eindruck erwecken, von ihrem Gift benebelt zu sein.“

Für einen kurzen, freudigen Moment hatte Tyr gedacht, dass es Vali war, der zu ihm sprach. Es dauerte nicht lange, da wurde ihm sein Irrtum bewusst. Die Stimme war zu alt, um seinem jugendlichen Freund zu gehören. Tyr versuchte, einen Blick auf den Mann zu erhaschen, der zu seiner Rechten an einen Pflock gefesselt war. Es gelang ihm lediglich, seinen Schemen aus dem Augenwinkel zu erkennen.

Nun lachte die Stimme. „Allerdings wäre ich froh, wenn du mit deiner kleinen Heldentat warten würdest, bis ich nicht mehr in deiner Nähe bin. Ich will unseren Gastgebern ungern im Weg stehen.“

„Du sprichst meine Sprache.“

„Natürlich spreche ich deine Sprache! Ich stamme ebenfalls aus Madras, du dummer Junge.“

Tyr ignorierte die Kränkung. Er war viel zu froh, endlich wieder mit jemandem reden zu können. Sofort fragte er: „Hast du noch mit einem anderen Stammesbruder gesprochen? Sein Name ist Vali. Er muss hier irgendwo unter den Gefangenen sein.“

„Nein, tut mir leid. Seit sie mich gefangen haben, habe ich mit niemandem gesprochen. Bis ich dich im Schlaf stammeln hörte. Ich bin Byleist.“

Tyr runzelte ungläubig die Stirn. „Der Name eines Riesen?“

Außerhalb seines Blickfeldes lachte Byleist laut auf. „Du kannst mich ja nicht sehen, aber ich bin tatsächlich ein großer Kerl!“

Auch Tyr nahm den Scherz dankbar lachend an, der ihm wie eine ausgestreckte Hand angeboten wurde. „Ich bin Tyr, Sohn von Kvasir und Sigyn. Neffe des Donar.“

Von Byleist war ein anerkennendes Pfeifen zu hören. „Ich kannte deinen Onkel, wenn ich ihm auch nur ein paar Mal begegnet bin. Ein wahrlich großer Mann. Er wäre euch ein würdiger Häuptling gewesen, wäre er nicht so früh nach Asgard gegangen.“

Über Tyrs Gesicht huschte ein dankbares Lächeln, auch wenn der andere ihn nicht sehen konnte. Er wollte etwas antworten, da hallte der Ruf eines Legionärs über das nächtliche Lager und brachte ihn zum Schweigen. Als er wieder ansetzen wollte, kam Byleist ihm zuvor: „Und nun sind wir hier. Gefangen. Zusammengepfercht wie Vieh. Es ist ein Jammer, dass sie uns nicht in Würde getötet haben.“

Tyr atmete geräuschvoll durch die Nase. Er hatte bereits Ähnliches gedacht, es nur nicht auszusprechen gewagt. „Hast du die Gespräche der anderen Gefangenen gehört?“

„Ja, in der Tat. Mach dir nichts daraus. Sie wissen auch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Sie sind so dumm, wie man nur sein kann. Außerdem verstehe ich ihre Sprachen nicht sehr gut, dir wird es vermutlich ähnlich gehen. Und ich muss dich enttäuschen: Auch ich weiß nicht, was man mit uns vorhat. Das hättest du mich bestimmt als nächstes gefragt.“ „Ja, das hätte ich tatsächlich.“

Nach einer nachdenklichen Pause sagte Tyr: „Sie haben Vali und mich in Madras erwischt, als wir der Gesandtschaft einer anderen Sippe entgegengingen.“

Byleist seufzte schwer. „Ich war auf der Jagd, zusammen mit meinem Bruder. Sie haben ihn umgebracht, einfach so. Er wollte sich ihr Spiel nicht gefallen lassen, da haben sie mit ihren Spießen so lange auf ihn eingestochen, bis selbst ich ihn nicht mehr erkannt habe.“

Ein schmerzhaftes Ziehen durchfuhr Tyrs Eingeweide, als er das Gesprochene hörte und sofort an Vali denken musste. Er wollte etwas erwidern, da hörte er einen unterdrückten Schrei. Als er den Kopf in die Richtung drehte, sah er, wie ein Legionär mit einer Spritze zwischen den Reihen der Gefangenen hindurchging und einen nach dem anderen mit einem Stich in den Hals betäubte. Nicht lange, dann würde er bei ihm ankommen.

Auch Byleist schien die Lage erkannt zu haben. Er mahnte: „Begeh keine Dummheit! Erdulde es – erdulde es, so lange du kannst. Niemandem ist geholfen, wenn sie dich töten wie einen tollwütigen Hund. Bleib am Leben und warte auf den richtigen Moment! Dann…“

Tyr sah, dass der Legionär bald die Stelle erreichen würde, an der er Byleist vermutete. Die zunehmende Hektik in der Stimme des Mannes gab ihm recht, als er fortfuhr: „Dann wirst du die Gelegenheit zur Flucht erhalten. Oder zumindest die Möglichkeit, Rache zu nehmen und einen ehrenhaften Tod zu sterben, der deiner Herkunft würdig ist.“

Tyr konnte deutlich hören, dass Byleist tief einatmete, um noch etwas zu sagen, doch bevor er dazu kam, stieß er ein Keuchen aus. Der Legionär hatte ihn erreicht und betäubt.

„Du Feigling! Du verdammter Feigling! Binde mich los und wir werden sehen, ob du mich noch immer mit deiner Spritze triffst. Ich verfluche dich und all deine eisengesichtigen Ahnen bis auf die räudige Ziege, von der ihr alle abstammt!“, keifte Tyr. Da traf ihn die Nadel des Ephemopterus. Die Welt vor seinen Augen verschwamm, während er einen letzten kehligen Laut ausstieß.

Ephemopterus gähnte ausgiebig, als der letzte Gefangene des Zuges in einen medikamentösen Tiefschlaf fiel. Als er die Spritze in seinem Gürtel verstaut hatte, führte er die Hand zum Mund und brüllte einem nahen Wachposten zu: „Die beiden hier scheinen sich zu kennen. Es wäre besser, wenn wir sie in separate Züge stecken!“

Der Wachposten signalisierte mit einem Handzeichen, dass er verstanden hatte.

Als Ephemopterus sich abwandte und zu seinem Schlafquartier herüberging, musste er sich ein weiteres Gähnen verkneifen. Er war so müde, als hätte er sich selbst eine Ladung verpasst. In einen Anfall von Sekundenschlaf geratend, bemerkte er nicht, wie sich Formicidus von hinten anschlich.

„Na, du Giftpanscher! Zu feige, um die Kerle in den Schlaf zu prügeln?“

Ephemopterus riss verärgert die Augen auf und fuhr herum. „Leute wie du besudeln die Ehre der Legion. Man sollte dich in den Sklavenstatus zurückversetzen.“

Schon als die Worte seinen Mund verlassen hatten, wusste Ephemopterus, dass er zu weit gegangen war. Einen Erhobenen als gewöhnlichen Barbaren zu beschimpfen, war eine Obszönität.

Formicidus kam dicht an ihn heran und fauchte: „Das wirst du bereuen, Giftmischer…“

Ephemopterus schluckte instinktiv und wich einige Schritte zurück. „Ich werde dem Centurio…“

Doch er verstummte, als Formicidus seinen rechten Zeigefinger zum Mund führte. Er zischte bedrohlich und schüttelte den Kopf. In seinen Augen lag ein geheuchelter Ausdruck von Bedauern. Schließlich machte er kehrt und verließ das modrige Gebäude.

Ephemopterus blieb allein zurück, nur noch umgeben von bewusstlosen Gefangenen. Es lief ihm kalt den Rücken herunter, als er sich unwillkürlich mit der Hand ins Gesicht fasste und tief durchatmete. Er fühlte seinen schweren Fehler in jeder Faser seines Körpers.

Das Bergdorf lag am nächsten Morgen wieder einsam und verlassen auf seinem Hügelkamm. Die Legionäre und ihre menschliche Fracht waren in nordöstlicher Richtung weitergezogen, um sich mit dem zweiten Zug zu vereinen. Den Aufstieg über die gewaltige Bergkette, welche sie noch vor Ende des Monats zu überschreiten gedachten, wollte man zusammen antreten. Hauptsächlich wegen der Orientierung, aber auch, weil man einen Aufstand der Gefangenen fürchtete. Einige der Wilden entwickelten langsam aber sicher wieder einen eigenen Willen, ganz gleich, mit wie viel Gift man ihre Gehirne benebelte. Die Legionäre wussten, dass sie diesem Problem mit Waffen und Mannstärke begegnen mussten.

So kam es, dass wenige Tage später ein Späher des zweiten Zuges zu Ephemopterus und seinen Brüdern stieß. Er machte dem Kommandanten seine Aufwartung und berichtete von einem Raubtierüberfall, der sich Tage zuvor ereignet hatte. Ein Legionär sei dabei verwundet worden, weswegen nun drei Mann ausfielen, da zwei ihren Kameraden auf einer provisorischen Trage transportieren mussten.

Ephemopterus‘ Kommandant runzelte die Stirn, während er sich der Höflichkeit halber die Bärenmaske vom Gesicht nahm. Nach einer kurzen Denkpause machte er eine beiläufige Handbewegung, so als wolle er das Gesagte einfach beiseite wischen.

„Sag deinem Herrn, er soll den Verwundeten von zwei Gefangenen tragen lassen. Gebt ihnen eine Dosis, die sie genug bei Kräften und Verstand lässt, dass sie ihn tragen können, aber ausreichend benebelt, damit sie keine Schwierigkeiten machen. Wird Zeit, dass sich die Schweine mal nützlich machen.“

Der Kundschafter, ein schlaksiger Kerl mit der Maske eines Frettchens, zuckte mit den Schultern. „Das wird nicht gehen, Ehrwürdiger. Der Verletzte ist unser Veneficus. Außer ihm kann keiner das Gift mischen.“

Der Zugführer winkte ab und ging wortlos zu einem seiner Männer herüber. Dieser eine war Ephemopterus.

„Legionär Ephemopterus. Nimm gefälligst Haltung an, wenn ich mit dir rede!“

Der Giftmischer erschrak aus einem Tagtraum und schlug die Hacken hart zusammen. Es war eher ein Tagalptraum gewesen. Seit Tagen ließ ihn seine Auseinandersetzung mit Formicidus nicht mehr zur Ruhe kommen. Entsprechend verwirrt vergaß er, seine Maske zu lüften.

Der Bärengesichtige packte selbige und riss sie schroff empor, sodass Ephemopterus‘ Nase schmerzhaft getroffen wurde. Er kam nicht dazu, eine Entschuldigung zu formulieren, denn sein Vorgesetzter ergriff sofort das Wort: „Der zweite Zug braucht dich. Du musst ein paar ihrer Gefangenen ruhigstellen.“

Ephemopterus rieb sich den demolierten Zinken und erwiderte: „Und was ist mit unseren, Herr?“

Der Kommandant wurde puterrot und erhob drohend die Rechte, weswegen der Giftmischer schnell klein beigab und sich in Richtung des Spähers aufmachte.

Tyr beobachtete dies alles aus sicherer Entfernung. Er saß auf einem Stein, das Kinn auf seine Fäuste gestemmt. Im Rücken konnte er den stechenden Blick seines stahlgesichtigen Bewachers fühlen. Wenn er die Gesten der Fremden richtig las, hatte der Giftmischer gerade eine saftige Standpauke hinnehmen müssen. Mit gehässiger Freude sah er, wie Ephemopterus mit hängenden Schultern davonging.

Aber da war noch etwas! Unweit des Giftmischers beugte sich ein anderer Legionär zu einem der Gefangenen nieder und raunte ihm etwas ins Ohr. Tyr hätte schwören können, dass er ihm dabei etwas in die Hand drückte.

Tyr nahm die Schüssel voll Schleim zur Hand, die man achtlos neben ihn auf den Boden gestellt hatte, und begann lautstark zu schlürfen. Er dachte an Byleist und seinen Ratschlag. Er hatte den Stammesbruder seit der Nacht ihrer ersten Begegnung nicht mehr getroffen und war sich sicher, dass dies kein Zufall war. Aber die Worte des Mannes wirkten in seinen Gedanken nach. Er hatte beschlossen, sie zu befolgen und zu warten. Am Leben zu bleiben, bis der richtige Moment gekommen war.

Tyr hatte sein karges Mahl schon fast verzehrt, da hörte er einen entsetzten Schrei. Sofort riss er den Kopf empor. Einer der Gefangenen warf sich in diesem Moment brüllend auf Ephemopterus. In der erhobenen Hand ein glänzendes Etwas. Ephemopterus lag überrumpelt auf dem Rücken, nicht fähig, sich zu wehren. Ganz anders der Wilde. Viele Male stieß seine Faust auf den Wehrlosen herab, er johlte ekstatisch. Blut spritzte empor und besudelte den blanken Oberkörper des Angreifers. Ephemopterus hatte keine Zeit gefunden, seine Maske überzuziehen, sein Gesicht war gänzlich ungeschützt. Er wurde entsetzlich verstümmelt. Als die anderen Legionäre die Situation erkannt hatten, rissen sie ihre Gewehre empor und zielten auf den Stammesmann, der sich daran machte, Ephemopterus‘ Maske mitsamt seinem Kopf zu erbeuten.

Der bärengesichtige Kommandant brüllte markerschütternd, ein vielstimmiges Hämmern zerriss den letzten Fetzen Stille. Die übrigen Gefangenen schrien und wichen zurück, Tyr ebenso. Der Wilde wurde ruckartig hin- und hergerissen, sein Körper platzte an dutzenden Stellen auf. Als das Schießen endete, kippte er leblos nach hinten weg und blieb liegen, die schreckgeweiteten Augen zum Himmel erhoben.

Eine gespenstische Ruhe breitete sich aus, zwei Tote lagen aufeinander und schienen sie wie ein blutiges Fanal zu verströmen. Tyr versuchte fieberhaft zu begreifen, was geschehen war.

Da packten ihn mehrere Hände von hinten und warfen ihn zur Seite. Als er nach oben sah, erkannte er zwei stählerne Masken, deren Besitzer ihm keinen besonderen Wert beizumessen schienen. Er sah es in ihren Augen, welche er durch die nahen Sehschlitze deutlich erkennen konnte.

Alles war so gelaufen, wie Formicidus es sich erträumt hatte. Was ein kleines Beutestück und einige aufmunternde Worte in der Sprache der Barbaren bewirken konnten…

Innerlich lachte er, während er den dampfenden Lauf seiner Waffe gen Boden richtete und sich die Maske aus dem Gesicht schob. Sein Blick wanderte bedächtig über die gesamte Szenerie, die nach einem Moment der Starre wieder an Lebendigkeit gewann. Die Legionäre liefen durcheinander, warfen die Gefangenen zu Boden und verknoteten Fesseln, während der Kommandant wütend Befehle brüllte, auf die niemand so richtig Acht gab. Jeder wusste, was er zu tun hatte. So auch Formicidus, der sich sein Gewehr über die Schultern hängte und sich anstellte, seinen Kameraden zu Hilfe zu eilen.

Schwere Wolken waren heraufgezogen und verfinsterten den Blick auf das hohe Bergmassiv, das sich am Horizont entlang zog. Am Fuße der Pyrenäen wurde ein Legionär mit militärischen Ehren bestattet, unweit von ihm ein Wilder verscharrt. Man hatte sich für beides nicht besonders viel Zeit gelassen, denn das Jahr ging zur Neige und eisige Kälte griff um sich. Die drei Züge, die sich zu einer gewaltigen Karawane vereinigt hatten, machten sich bald an den Aufstieg. Es war beschwerlich, die Legionäre und vor allem die Gefangenen waren am Ende ihrer Kräfte. Der schwerste Teil ihrer Reise lag jedoch noch vor ihnen.

Tyr kannte nur die Trümmerfelder von Madras, was ihm den Weg besonders erschwerte. Jeden Abend, wenn er sich notdürftig zum Schlafen eingefunden hatte, schmerzten ihm alle Glieder. Am nächsten Morgen ging es stets unbarmherzig weiter. Pausen waren spärlich gesät und brachten nicht die erhoffte Erholung.

Sein Gedanke an Widerstand war längst verraucht. Die eindrucksvolle Machtdemonstration seiner Peiniger hatte ihm gezeigt, wie erfolgreich sein Aufbäumen geendet hätte. Die Waffen seiner Peiniger waren dem Zauberrohr seiner Sippe sehr ähnlich, obgleich sie sperriger waren. Dafür verschickten sie den Tod ungleich schneller. Die Standarte, die der Karawane stets vorausging und für die Fremden ein besonders heiliges Artefakt zu sein schien, war seit jenem Ereignis von einer stark beschädigten Maske geziert. Sie war einem Fuchsgesicht gleich, mit tiefen Scharten und zwei Einschusslöchern versehen. Das eine in der Stirn, das andere in Wangenhöhe.

Er kannte nicht die Härte des schimmernden Metalls der Fremden, aber er war sich sicher, dass es stabil wie Stein war. Welche Macht auch immer es so zerlöchern konnte, er wollte sich nicht mit ihr anlegen.

Wochen später hatte die Karawane ihre angepeilte Reisehöhe erreicht und kam von da an wesentlich zügiger voran. Dafür mussten nun oftmals enge Passagen beschritten werden, nah am Abgrund, der schwindelerregend tief nach unten führte. Tyr hasste den Anblick der Tiefe, doch er konnte sich ihm nicht entziehen. Er fand sich ständig an steilen Felsklippen wieder, egal wie sehr er flehte, dass diese Momente ihm erspart bleiben sollten.

Er reckte den Kopf nach vorne, wollte Ausschau halten, was ihm nicht wirklich gelang, weil er vor Nervosität die Augen zukniff.

Unter ihm erstreckte sich ein kaum zu erfassender Abgrund. Er wurde von großen, dunklen Vögeln durchflogen, die bewegungslos in der Luft verharrten, nur um urplötzlich herunterzustoßen oder von dichten Nebelschwaden verschlungen zu werden. Sie waren unheimlich wie jener Pfad, der sich zu seiner Rechten erstreckte. Dieser war nur knapp einen Meter breit und führte um einen Felsvorsprung herum, auf der anderen Seite nichts außer der gähnenden Tiefe.

Tyr dankte den Asen, dass er nun nicht mehr schlafwandelnd durch die Welt zog. Das hätte ihn hier mit Sicherheit das Leben gekostet.

Gerade als er mit seiner inneren Litanei fortfahren wollte, wagte einer der Legionäre den gefährlichen Weg. Behutsam setzte er einen Stiefel vor den anderen, während er mit den Händen sorgsam den Felsen entlangtastete. Man konnte seinen schweren Atem deutlich durch die Stahlmaske pfeifen hören. Tyr war sich sicher, dass der Herzschlag des Mannes durch den Resonanzkörper des Brustpanzers bis zu ihm getragen wurde. Dann bemerkte er, dass es sein eigenes Herz war, das hektisch hämmerte. Er konnte es fast nicht mitansehen.

Schließlich bog der Soldat um die Ecke und war verschwunden. Augenblicke des Wartens vergingen, die Tyr mit angehaltenem Atem verbrachte.

Da kam endlich der erlösende Ruf des Kundschafters. Tyr konnte die Worte nicht verstehen, aber allein die Stimmlage sprach Bände über ihren Inhalt.

Eilig wurden die ersten Gefangenen zum Pfad gedrängt. Manch einer schüttelte ängstlich das Haupt oder setzte sich zitternd auf den Boden. Einer war so entsetzt, dass seine Blase ihren Dienst quittierte. Es wurde schnell unbequem auf dem Plateau.

Die Legionäre ließen sich nicht erweichen. Mit vorgehaltenen Waffen trieben sie die Männer und Frauen voran. Schließlich löste sich der Pulk auf und die Gefangenen traten das Wagnis notgedrungen an. Sieben von ihnen hatten die verdeckte, jenseitige Ebene bereits erreicht, da geschah das Unglück: Ein Gefangener mit kurzgeschorenen Haaren verlor auf der Mitte der Strecke den Halt und rutschte aus. Panisch schlugen seine Hände durch die Luft und packten ein Grasbüschel. Es war zu spät. Mitsamt der ausgerissenen Erde fiel er in die Tiefe. Kein Schrei drang hoch zu ihnen, nicht ein einziges weiteres Geräusch verriet sein Schicksal.

Tyr würgte, als er auf die Knie sinkend den Kopf über den Abgrund reckte und sich schließlich geräuschvoll erbrach. Dies ermöglichte es ihm, einen letzten Blick auf den Fallenden zu werfen, bis dieser in einer Nebelschwade verschwand. Er wünschte, er hätte ihn nicht gesehen.

Langsam rappelte sich der Kniende wieder auf und lehnte sich an einen Felsbrocken. Mit der einen Hand wischte er sich den Mund ab, mit der anderen fühlte er instinktiv seinen Herzschlag. Sein Inneres war völlig außer sich.

Ein Legionär beugte sich zu ihm nieder und klopfte ihm erstaunlich sanft auf den Kopf. Er schien zu denken, Tyr wäre ein Freund des Gestürzten.

„Nicht schlimm. Mach gut.“

Die abgehackten Worte des Soldaten sollten wohl aufmunternd wirken oder ihn zu irgendetwas ermutigen. Er ahnte schon, zu was.

Nach dem Zwischenfall überquerten vier Legionären den engen Pfad, um die andere Seite zu verstärken. Tyr war am Ende mit den Nerven.

Doch plötzlich hörte er etwas, das ihn aufhorchen ließ.

„Bei Asgards goldenen Schlössern!“

Tyr riss den Kopf herum. Konnte es sein? War es möglich? Er war sich absolut sicher, Vali gehört zu haben.

Das Einzige, auf das er einen Blick erhaschen konnte, war ein Schatten, der sich um die Felswand drückte. Sofort sprang er auf und wollte den Pfad betreten. Die Freude war überwältigend. Doch eine strenge Hand hielt ihn zurück. „Vorsicht“, war die makaber überflüssige Mitteilung, welche die Maske verließ.

Tyr hatte nicht die Absicht, sich zu besinnen. Unüberlegt setzte er einen Fuß vor den anderen und zwang sich, seinen Blick gerade zu halten.

„Vali, bist du es?“, rief er mit trockener Kehle. „Vali, ich komme zu dir!“

Plötzlich verlor sein linker Fuß den Halt. Er trat ins Leere. Eine unnatürliche Stille überkam ihn, alles schien in Zeitlupe abzulaufen. Tyr neigte sich zur Seite, wedelte mit den Armen und riss den Kopf herum, um einen Blick zurückzuwerfen. Einen schrecklichen Moment lang schien die Welt stillzustehen.

Dann krachte es dumpf und Tyrs Arme wurden der Länge nach gezerrt. Er hatte sich im letzten Augenblick an der felsigen Kante festgekrallt und hing über dem endlosen Abgrund. Die Füße strampelten ins Leere, während sein Mund verstümmelte Sätze bildete und sie in die Welt warf. Schließlich rang er sich zu einem einzigen Wort durch.

„HILFE!“

Hektik brach unter den Legionären aus, diesmal waren sie nicht so unvorbereitet. Einen weiteren Gefangenen zu verlieren, hätte bedeutet, Panik zu riskieren.

Der Kommandant des ehemaligen dritten Zuges brüllte forsch Befehle, woraufhin sich Männer fanden, die ein langes Tau anschleppten. Der Rest der Legionäre hatte sich umgewandt und die Waffen gezogen, um die Gefangenen in Schach zu halten.

Tyr versuchte verzweifelt, sich hochzuziehen, doch umso mehr er sich bemühte, umso mehr verloren seine schweißnassen Hände den Halt. Im Geiste sah er sich schon fallen, während ein anderer Gefangener ihm einen letzten Gruß hinterher kotzte – so wie er es getan hatte. Ewig währender Sturz, seliges Ersticken in der Luft und ein berstender Aufprall im Tal. Er konnte es sich bildlich vorstellen.

Plötzlich erschien unweit seiner Hände ein Legionär im blauen Mantel der Kommandanten, dessen Maske einen wütenden Eber darstellte. Er streckte seine metallverstärkte Hand aus.

„Nimm, nimm!“

Was für ein Vorschlag, dachte Tyr wütend. Eine Hand vom Fels zu lösen, hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Also spuckte er aus, soviel seine trockene Kehle hergab, und richtete einen flehenden Blick nach oben.

Der Kommandant gab ein angewidertes Grunzen von sich, dann rief er seinen Untergebenen etwas zu. Diese beeilten sich nun sichtlich, das armdicke Tau in Stellung zu bringen. Kurze Zeit später war das Seil fest um einen Felsbrocken geschlungen.

Der Hauptmann griff sich das andere Ende, legte sich flach auf den Boden und streckte beide Hände in Tyrs Richtung. Dessen Finger glitten gerade sichtbar von der Felskante ab. Er verfiel in wüstes Gebrüll, während sein Retter ihm das Tau eng um den Oberkörper schlang. Mit einem verzweifelten letzten Aufbäumen biss sich Tyr in die linke Hand, woraufhin diese ihren Dienst einstellte. Ein schriller Schrei entfuhr seiner Kehle, dann riss es ihn hinab in die Tiefe.

Der Luftzug dröhnte dumpf in seinen Ohren, seine Organe schienen durcheinandergewürfelt zu werden. Mit rasender Geschwindigkeit entfernte sich der Felsvorsprung von ihm – oder war es umgekehrt? Das Bewusstsein verließ ihn. Es war soweit.

Ein reißender Schmerz bohrte sich in seinen Brustkorb, sein Kopf wurde hart herumgeschleudert, wie sein gesamter Körper. Er hatte das Gefühl, sein Geist würde weiterstürzen, doch sein Leib stoppte urplötzlich. Der Schwung des Sturzes schleuderte ihn gegen die Felswand. Der Aufprall nahm ihm für einen Moment das Bewusstsein, aber das Seil hielt stand.

Mit weit aufgerissenen Augen sah er auf die Nebelwand herab, in die sein Blut in fortwährenden Strömen troff. Es kam irgendwo aus seinem Kopf.

Von weit oben erklangen Jubelrufe. Zu Tyrs Glück hatte der Kommandant die Weisheit gehabt, ihm das Tau in mehreren Lagen um den gesamten Oberkörper zu binden und sich nicht nur auf den Hals oder den Bauch zu beschränken.

Tyr wusste später nicht mehr, wie lange er in jener verkrümmten Pose gehangen hatte wie ein Fisch am Haken, aber irgendwann kam der Moment, als er sich genug gefasst hatte, um wieder Gefühl in den Armen zu haben. Also griff er das Seil mit beiden Händen und zog sich empor. Jedes Mal, wenn er es ein Stück erklommen hatte, griff er um und wuchtete seinen Körper nach oben. Nur unter großen Schmerzen gelang es ihm, sich dem Felsvorsprung zu nähern. Als die Legionäre sahen, dass er aus eigener Kraft fast über die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, griffen sie ein und zogen am Seil.

Erst als Tyr über den scharfkantigen Vorsprung gezogen wurde, in etwa dort, wo er sich zuvor übergeben hatte, entspannten sich seine Muskeln und seine Nerven hatten die Möglichkeit, Unmengen von Impulsen in seinen geschunden Körper zu jagen. Er stöhnte gedrückt, während ihm helles Blut über die Mundwinkel schwappte.

Sofort tauchten die Eisenmasken der Legionäre über ihm auf, spürte er kalte Hände über seinen Hals tasten.

Formicidus näherte sich dem Unglücksraben mit gemächlichem Schritt, während drei seiner Kameraden schon über diesen gebeugt waren und ihn untersuchten. Nicht, dass er sich für das Schicksal dieser Kreatur interessiert hätte, ganz im Gegenteil. Am liebsten hätte er ihn gleich wieder hinuntergetreten, allein um seinen Gestank zu vertreiben. Er roch erbärmlich nach Kot und Urin.

Viel schlimmer jedoch war, dass der Zug nun einen weiteren Verletzten zu transportieren hatte. Der ebergesichtige Kommandant, der ihre Abteilung übernommen hatte, war ein ausgesprochener Weichling. Er würde auf medizinischer Versorgung bestehen. So eine Witzfigur.

Formicidus wollte sich abwenden, da erkannte er den Gefangenen wieder. Es war der Störenfried, der zum Streit zwischen ihm und Ephemopterus geführt hatte Als Formicidus sich an Ephemopterus Ableben erinnerte, grinste er unter seiner Maske und machte sich daran, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Auch für diesen Wilden hatte er bereits einen Plan.

Apokalyptika - Gesamtausgabe

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