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Liza

2 Ich hasste mich dafür, dass Idioten wie dieser Tariq immer wieder solche heftigen Reaktionen bei mir auslösen konnten. Eigentlich schaffte ich es mittlerweile ganz gut, nichts auf dumme Sprüche zu geben – warum musste ich ausgerechnet heute so neben der Spur sein?

Obwohl … vielleicht lag es auch daran, dass es im Grunde schon vorher echt blöd losgegangen war: gestern diese Einführungsveranstaltung, bei der keiner zugehört hatte. Und heute? Da saß ich schon kurz vor Schulbeginn voller Tatendrang im Klassenraum. Allein. Auch zum offiziellen Stundenbeginn war ich immer noch die Einzige. Ein paar Minuten später kam dann so ein Typ mit geflickter Brille und setzte sich an einen Einzeltisch. Ich hatte es mit etwas Small Talk probiert, doch er reagierte einfach nicht. Er saß da nur so rum und stierte auf das ramponierte Notizbuch, das er mittlerweile aus einer Plastiktüte gezogen hatte.

Nach und nach kamen weitere Leute rein und ich spürte, dass mit jedem von ihnen eine neue Portion Unlust den Raum erfüllte, bis ich irgendwann dachte, ich kriege keine Luft mehr. Wie sollte ich denn hier irgendwas lernen, wenn ich als Einzige freiwillig in dieser Quali hockte? Natürlich hätte auch ich mir etwas Besseres gewünscht, als mit sechzehn Jahren so für meinen Hauptschulabschluss zu kämpfen, aber nach meinem Zusammenbruch in der Achten schien das hier die einzige sinnvolle Option zu sein.

Jedenfalls hatte mich das gestern schon ziemlich runtergezogen. Nicht gut für meine Tics, denn jeder Hauch von Stress steigerte sie heftig. Dabei war es ja auch schon an normalen Tagen schwer genug, sie im Zaum zu halten. Stellt euch vor, ihr müsstet einen hyperaktiven, tonnenschweren Ackergaul am Strick umherführen, dann wisst ihr so ungefähr, wie viel Kraft es mich kostete. Eine Weile lang funktionierte das meist und auch jetzt gelang es mir, zumindest nicht ganz so wild herumzuzucken, doch als dieser Tariq mich ansprach, da ging irgendwie gar nichts mehr und es riss mich samt Ackergaul davon. Ich versuchte, es noch mit einer kleinen Erklärung zu retten, aber dann musste ich erst mal raus, um wieder ein bisschen runterzukommen.

Luzifer – so habe ich dieses unnütze Etwas genannt, das mich kurz vor dem zehnten Geburtstag entdeckt und sich an mir festgekrallt hat. Erst war Luzifer noch damit zufrieden, mal meine Augen oder meinen Kopf zum Zucken zu bringen, aber irgendwann wollte er mehr. Er wollte aus mir kichern, schnalzen und bellen und je aufgeregter ich war, desto wilder trieb er es mit mir. In den siebentausend Gesprächsgruppen, die ich bereits besucht hatte, hieß es zwar immer: Du hast Tourette und nicht das Tourette dich, aber … ich empfinde das durchaus ein bisschen anders. Hilflos sah ich mit an, wie Luzifer alles verschlucken wollte, was ich mal war. Am Ende sah dann wirklich jeder nur noch Luzifer statt mich. Das war so grausam, dass ich vor über einem Jahr endgültig beschloss, die Einsamkeit meiner vier Wände dem permanenten Spießrutenlaufen in der Schule und draußen vorzuziehen. Fortan hockte ich meist auf dem Bett und ließ den Laptop auf dem Schoß zunehmend die Lücke füllen, die entstanden war, als selbst Mia, meine letzte und treueste Freundin aus Grundschulzeiten, ständig neue Ausreden fand, um sich nicht mehr mit mir treffen zu müssen. Vielleicht habe ich sie aber auch nur mit meiner immer öfter gruseligen Laune vergrault. Der Frust über Luzifer hatte mich zu einer meist angenervten, dummen Ziege werden lassen.

Jetzt wieder meine Höhle zu verlassen, war deshalb Stress pur und damit ich mich nicht sofort aufs Neue blamierte, hatte ich die letzten Wochen hart trainiert, Luzifer zu bändigen. Ich hatte ihn um Ruhephasen angefleht, Entspannungskram gemacht, Wunderzeug geschluckt. Ich wollte nicht wegen der Blicke und Sprüche meiner Mitschüler eine weitere Schule verlassen. Und da Luzifers Bändigung zu Hause so gut funktionierte, hatte ich am Ende echt geglaubt, es könnte auch in der Maßnahme klappen. Wie naiv von mir.

Nachdem Luzifer, der Herr meiner Tics, sich also dank Tariq direkt am ersten richtigen Tag unserer Qualifizierungsmaßnahme schon ausgetobt hatte, marschierte ich jetzt wieder zurück in den Klassenraum.

So ein Schlabberklamottentyp stauchte gerade Tariq zusammen. Ob es da um mich ging? Das wäre ja eigentlich echt nett, andererseits brauchte ich keinen Beschützer. Das kriegte ich auch allein hin. So wie sonst auch.

Als mein Möchtegernbeschützer zu mir schaute, musste ich dennoch das erste Mal lächeln. Er hatte wirre dunkle Locken, die sich aus seiner Wollmütze herauswanden. Aber diese knallroten Augen … der hatte wahrscheinlich schon heute Morgen eine komplette Hanfplantage inhaliert. Dass er wenig später mit dem Kopf auf seinem Rucksack einpennte, bestätigte diesen Verdacht. Schade eigentlich, aber solche Typen waren echt nicht mein Ding.

Als dann Frau Knöpfle, tausend Entschuldigungen murmelnd, durch die Tür rauschte, waren endlich fast alle Plätze besetzt.

Wie sie so dastand, in einem grünen Filzkleidchen, orangeschwarz gemusterter Strumpfhose und knöchelhohen Mary-Poppins-Schuhen, wirkte sie ein bisschen wie ein verlorenes Kind. Vielleicht lag das auch daran, dass sie so klein und zierlich war oder weil sie gerade sehr unsicher mit dem Amulett spielte, das an einem Lederband um ihren Hals baumelte. Ihre Lippen bewegten sich, doch der Lärm, den die anderen veranstalteten, überlagerte ihre dünne Stimme.

Oje, Frau Knöpfle war die mit Abstand schüchternste Lehrerin, die mir je begegnet war. Das war für all die Klassenclowns hier bestimmt ein gefundenes Fressen. Ich hatte sofort Mitleid mit ihr.

Doch auf einmal zog sie einen riesigen Schlüsselbund aus der Tasche und ließ ihn mehrmals geräuschvoll auf ihr Pult krachen.

»Wir werden jetzt direkt mit ein paar … kleinen, äh … Tests beginnen«, nutzte sie die überraschte Stille. »Die Resultate sind dann die Grundlage für die Aufteilung in Lernniveaustufen. Alles ganz entspannt natürlich!« Sie kicherte und fügte fast entschuldigend hinzu: »… und es gibt auch keine Noten.«

Die Tests – Mathe, Deutsch, Englisch – waren wirklich okay. Ich war ja auch gar nicht so schlecht in der Schule, zumindest solange ich noch regelmäßig hingegangen war.

Während es um mich herum ächzte und stöhnte, löste ich den Matheteil in weniger als der Hälfte der vorgeschriebenen Zeit und konnte unauffällig die Leute beobachten, denn sie waren größtenteils so sehr im Stressmodus, dass sie um sich herum nichts mehr mitbekamen. Der Schweiger war recht eifrig, Tariq balancierte pseudocool seinen Bleistift auf einer Fingerkuppe, wirkte jedoch ziemlich nervös.

Ich ertappte den Kiffer immer wieder dabei, wie er seinerseits mich beobachtete. Er grinste charmant, leider auch verdammt breit. Sein Blatt war komplett bemalt. Die Kritzeleien sahen sogar recht kunstvoll aus, doch es sollten ja eigentlich die Lösungen der Aufgaben draufstehen und so wie der wirkte, würde er heute nichts Vernünftiges mehr zu Papier bringen. Links von mir schnieften ein paar Mädchen. Besonders theatralisch wimmerte Elvira, ein Mädchen mit blonden Ringellöckchen und Glitzerminirock. Sie schluchzte, als nahe gerade der Weltuntergang, doch da sie dabei auf ihren abgesplitterten Gelnagel blickte, vermutete ich mal, dass es ihr weniger um den Test ging.

Nachdem Luzifer sich in den letzten Minuten ziemlich still verhalten hatte, spürte ich nun jenes untrügerische Ziehen in meiner Brust, das jedem Tic vorausging. Ich versuchte, es wegzudrängen, doch es hatte keinen Zweck, denn das Tourette-Syndrom kämpft immer um sein Recht und irgendwann kracht es dann so aus dir heraus, als hätten sich alle unterbundenen Tics zusammengetan. Und egal wann das passierte, dieser Moment war in meinen Augen niemals passend.

Jetzt war einer dieser unpassenden Momente: Für jeden anderen im Raum völlig unvermittelt erwachte Luzifer zum Leben. Ein Kläffen entwich meiner Kehle, gefolgt von einem zweiten und dritten, und prompt saß die Hälfte der Klasse senkrecht und kurz vorm Herzinfarkt auf den Stühlen.

Alle starrten mich an, als hätte ich völlig den Verstand verloren.

»Boah, Alte«, zischte dieser beschränkte Skinheadtyp, der in der Einführungsveranstaltung neben mir gesessen hatte. »Du gehörst echt in die Klapse, ey!« Zustimmendes Gemurmel brandete auf. »Ab in die Psychiatrie!«

Ein paar Reihen vor mir näherte sich ein blasses Mädchen zögernd ihrem Banknachbarn und versuchte doch tatsächlich, ihr Gesicht hinter einem Taschentuch zu verstecken. »Ist das ansteckend?«, flüsterte sie etwas zu laut. Die alten Erinnerungen an ähnliche Erlebnisse klopften an und ich presste die Augenlider aufeinander, um nicht auch noch vor allen in Tränen auszubrechen.

»Genauso wenig wie deine Dummheit«, antwortete jemand genervt. Die Neugier öffnete mir gegen meinen Willen einen Spaltbreit die Augen. Anscheinend kam der Kommentar von dem Typ neben dem Mädchen, denn sie schaute ihn irritiert an. Er sah ziemlich krass aus. Stoppelhaare, etliche Ohrringe, Löcherpulli, abgeschnittene, zerrissene Hose und Springerstiefel. Vielleicht so eine Art Kurzhaarpunk? Zumindest deuteten die ganzen gekritzelten Anarcho- und Antinazisprüche auf seinem Rucksack darauf hin.

»Schon mal was von Tourette gehört?«, fragte er und ahmte ihren dumpf glotzenden Blick originalgetreu nach. »Tourette-Syndrom? Neuropsychiatrische Erkrankung? Tics?«, konkretisierte er ungeduldig mit schief gelegtem Kopf. »Na …? Klingelt da was?« Sein Zeigefinger umkreiste seine Schläfe, als könne er auf diese Weise ihre Hirnströme ankurbeln, doch seine nervöse Banknachbarin wandte sich nur ruckartig von ihm ab und stierte, die Lippen zum Schmollmund gespitzt, in eine andere Richtung.

»Ruhe bitte …«, schaltete sich nun Frau Knöpfle wieder zaghaft ein.

»Rede einfach nicht mehr so einen Scheiß daher«, schnaubte der Punk, ohne den Blick von dem Mädchen abzuwenden. Frau Knöpfle ignorierte er. »Ich kann es nämlich gar nicht leiden, wenn Leute null Ahnung haben, aber einfach mal das Maul aufreißen. Kapiert?«

Auf das Lehrerpult krachte wieder mal der Schlüsselbund. »Max? Möchtest du gerne eine Frage stellen?«

Punk Max hob die Hände minimal zu einer Entschuldigungsgeste, die eigentlich keine war, blickte dann auf seine bereits fertig ausgefüllten Testblätter und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch.

Ich seufzte leise. Es war, als wollte Luzifer meinen neuen Klassenkameraden direkt zum Start klarmachen, was für ein Freak ich war.

Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Meine Mutter würde ausflippen. Für sie war ich ein ganz normales Mädchen.

Aber was hieß bei uns zu Hause schon normal? Meine Ma war Performancekünstlerin mit Schwerpunkt auf tänzerisch interpretierten Lautgedichten! Und ihr Langzeitfreund, der sich selbst ernsthaft Digga nannte, davon abgesehen aber mehr als okay war, na ja, der war ein langsam alternder Rockgitarrist mit reichlich Träumen, wenigen Gigs und jeder Menge allmählich verblassender Tattoos. Die beiden waren also echt alles andere als normal. Und wenn in unserer kleinen Hinterhofwohnung links nebenan Digga seine Gitarre johlen ließ und auf der anderen Seite Ma ihre Lautgedichte stammelte, dann fiel Luzifer eben wirklich kaum noch auf.

Und ja, ich weiß, dass ich so nicht denken sollte. Hier allerdings … ich sah mich unauffällig im Klassenraum um. Hier fiel er auf.

Andererseits – es gab auch was Gutes. Ich blickte kurz zum Schlabberklamottenkiffer. Dann zu diesem Max. Beide hatten sich … für mich eingesetzt.

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