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Julian

3 Nach den gestrigen Erfahrungen gönnte ich meinem Wecker und damit mir erst mal dreißig Minuten Zeitzugabe. Prompt platzte ich dieses Mal in einen vollen, aber mucksmäuschenstillen Unterrichtsraum und rauschte fast in einen riesigen Kerl hinein, der an der Tafel stand und anscheinend einen Vortrag hielt.

Ich bremste mitten in der Bewegung ab und glotzte den Typen an, der locker zwei Meter groß war, Unterarme hatte, die meinen Oberschenkeln Konkurrenz machten, und ein Kreuz, hinter dem ich mich zweimal hätte verstecken können. Mit seinen Tattoos, den Ohrringen und dem Kopftuch wirkte er wie ein Schwerverbrecher auf Hafturlaub. Hatte ich da gestern irgendwas verpasst? Was hatte der mit Knöpfle gemacht?

»Willst du ’ne Rede halten oder warum setzt du dich nicht?«, wandte sich der Riese mit tiefer Stimme an mich.

»Äh … ich …«, setzte ich an, brach jedoch sofort wieder ab, als er schweigend eine Augenbraue hob und mit dem Kinn zu einem freien Stuhl deutete.

Automatisch schlüpfte ich in so eine dämliche unterwürfige Buckelfigur, schob mich hin zu meinem Platz und kassierte neben einigen gehässigen Grinsern auch noch einen Tadelblick von meiner speziellen, auch heute schwarz gekleideten Freundin … Liza. So hieß sie laut dem Namensschild, das heute alle vor sich auf den Tisch gelegt hatten, wie ich nun registrierte. Flott beschriftete ich ebenfalls ein Blatt aus meiner Kladde.

»Also, ich denke, ihr habt mich verstanden«, setzte Mr Easy Rider seinen Vortrag fort. »Für die ganze Zeit hier gilt: Wenn ihr was braucht, kommt zu Marlen, Hugo oder mir, wir sind für euch da. Wofür wir jedoch nicht da sind, ist, euch den Arsch nachzutragen.«

Erst jetzt fiel mir auf, dass einen halben Meter unter dem Rockerschädel Knöpfles Rotschopf hervorlugte. Ich hatte sie bloß nicht gesehen. Und neben dem Riesen selbst stand ein Name an die Tafel geschrieben: Til Pfeiffer.

»Ob ihr das Ganze total lächerlich findet, Bock auf die Nummer hier habt oder nicht, ist euer Ding«, fuhr der Riese namens Pfeiffer fort. »Wir haben ein ziemlich cooles Angebot für euch, also nutzt die Chancen, die ihr jetzt bekommt. Aber letztendlich liegt es in eurer Hand. Wenn wir nachmittags nach Hause düsen, haben wir unsere Kohle auf jeden Fall eingefahren, egal, ob ihr was mitgenommen habt oder nicht.«

Moment, das hörte sich aber jetzt irgendwie nicht so prickelnd an und auch Gangster Tariq schaute irritiert zu Pfeiffer. Da vorn standen schließlich unsere Betreuer! Die mussten sich doch um uns kümmern, oder nicht? Andererseits … das klang auch ein bisschen nach In-Ruhe-gelassen-Werden und Abhängen-ohne-Stress und die einzige Voraussetzung, dass meine Eltern diese Familienkassenkohle kassierten, war ja nur, nicht zu fliegen.

»Wie ihr bestimmt auf dem Stundenplan gesehen habt, werdet ihr jetzt gleich in der Halle eure Einweisung für den ersten Holztag bekommen. Viel Spaß!« Damit verabschiedete sich Pfeiffer und lächelte Knöpfle zum Abschied überraschend sanftmütig an. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um. »Ach … und neben dem Unterricht werdet ihr auch noch an einem Projekt arbeiten, für das ihr in Vierergruppen eingeteilt werdet. Genauere Infos dazu bekommt ihr später noch. Die Ergebnisse werden dann beim Tag der offenen Tür der Kölner Medienschule Mediasos vorgestellt. «

Kaum, dass das Wort im Raum verhallt war, begann das Mädchen mit den schwarzen Klamotten wieder zu zucken. Doch dieses Mal wirkte es sogar total euphorisch. Anscheinend gefiel ihr das mit der Medienschule.

Der Typ in der Holzwerkstatt, zu dem Knöpfle uns dann brachte, war irgendwie schräg: um die sechzig. Flusige, schulterlange graue Haare, die er – als wäre das nicht übel genug – auch noch zu einem rattenschwanzähnlichen, dürren Zopf gebunden hatte. Dazu: drahtiger Bizeps in einem verblichenen, schlackernden Muskelshirt und fliederfarbene Latzhose.

»Hallo, die Bande, mein Name ist Hugo!«, rief er fröhlich und hob grüßend seine nicht mehr ganz vollständigen Hände in die Höhe.

»Wie ihr seht, gebe ich alles fürs Holz«, kicherte er und wackelte mit den ihm noch verbliebenen Fingergliedern.

Dann bekamen wir von ihm und Knöpfle eine Grundeinweisung in das Arbeiten an der Werkbank. Ziemlich sinnlos, wie ich fand.

Das reichlich aufgedonnerte Mädchen neben mir sah es anscheinend ähnlich. »Hey, ich bin Elvira«, flüsterte sie mir lächelnd zu.

»Glückwunsch«, gab ich wortkarg zurück.

Sie schnaubte beleidigt. Dann schob sie sich mit einer Arschbacke auf den Kreissägentisch, checkte ihr Dekolleté und startete den Selfiemodus ihres Smartphones.

Katzengleich schlich Hugo sich heran, setzte mit einem geschmeidigen Drehen eines Schalters die Kreissäge in Gang – und löste damit ein Kreischduett von Beautyqueen und Säge aus.

»Regel Nummer eins«, sagte Hugo gelassen, nachdem Maschine und Sirene allmählich wieder zur Ruhe gekommen waren. »Nie auf Werkbänke und elektrische Geräte setzen. Ich kannte mal eine, die …«

Knöpfle atmete tief durch und schaute Hugo warnend an.

»Okay, das gehört nicht hierhin …« Er riss sich zusammen, grinste jedoch so sehr vor sich hin, dass ich gerne mehr gewusst hätte.

Nach Hugos Werkstatteinweisung starteten bei der Knöpfle unsere so genannten »Förderkurse«.

»Also«, begann sie, »ich habe die Tests kontrolliert. Die Auswertung bekommt ihr jetzt und außerdem das hier …« Sie gab jedem von uns einen Stapel Übungsmaterial. »… individuell zusammengestellt«, erläuterte sie mit einem fast entschuldigenden Blick in meine Richtung.

In Mathe war ich auf 7 von 120 Punkten gekommen. Okay, das war nicht wirklich überraschend. Aber dass ich im Aufsatz eine ähnliche Nullnummer fabriziert hatte, kratzte mich schon sehr. Vielleicht lag es daran, dass ich gestern mal wieder keinen einzigen klaren Gedanken hatte fassen können?

Ernüchtert schnappte ich mir die für mich persönlich zusammengestellten Matheübungsblätter – und zuckte angewidert zurück: Auf dem Deckblatt schritten ein Minus- und ein Pluszeichen Arm in Arm lächelnd in meine Richtung. Es war, als wollten sie mich fragen: »Naaa? Hast du eine Idee, warum wir so drollig illustriert auf dich zumarschieren? Das liegt daran, dass diese Arbeitsblätter eigentlich für Siebenjährige sind, und die stehen auf solche wie uns!«

Scheiß Kobolde, dachte ich wütend und tötete sie mit gezielten Bleistiftstichen.

»Hey, Alter … es reicht. Eine Irre genügt«, grunzte der Skinhead vor mir. Auch andere glotzten irritiert in meine Richtung und ausgerechnet Liza schüttelte nur schweigend den Kopf. Dabei sollte die doch nun wirklich Verständnis für solche … Ausbrüche haben.

Oder vielleicht auch nicht. Irgendwie schien sie eher so der Typ nerviger Überflieger zu sein – auch jetzt löste sie schon eifrig erste Aufgaben.

Als sich alle endlich wieder Interessanterem als meinem Zahlenmord zuwandten, blickte ich mich verstohlen um. Lagen auf den übrigen Tischen eigentlich auch solche peinlichen Zweitklässlerblätter? Ich konnte nirgendwo welche entdecken und platzierte meinen Rucksack reflexartig so, dass keiner die Übungsaufgaben vor mir erkennen konnte.

Juliandu bist so ein Versager!

Wie aus dem Nichts hörte ich plötzlich die Stimmen von früheren Klassenkollegen, manchen Lehrern und allen voran: meinem lieben Vater.

… ein Idiotselbst zu dumm für diese Qualider Dümmste der Dummen ging es weiter.

Und dann passierte es. Ich schrumpfte, schrumpfte, schrumpfte und schien meinem Körper zu entweichen.

»Sorry … ich muss mal aufs Klo«, stammelte ich Richtung Knöpfle und schob mich an den anderen vorbei. Leicht wankend lief ich aus dem Klassenraum zu den Toiletten. Dort angekommen spritzte ich mir erst mal am Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht und lehnte mich an die geflieste Wand.

Ganz langsam atmete ich tief ein und aus.

Ich hatte echt gedacht, diese Zeiten wären vorbei. Die Zeiten von Panikattacken. Die Zeiten, in denen die Meinung anderer mich so fertigmachte.

Ausgeschlossen, dass ich jetzt wieder in den Klassenraum reinging.

Wenigstens auf meine Beine war in solchen Momenten Verlass, sie wussten von ganz allein, was zu tun war, und lenkten mich einfach aus der Halle heraus und runter vom Qualigelände in Richtung Heimat.

Doch mein Flashback hatte mich immer noch so heftig in seinen Klauen, dass ich mich hoffnungslos verlief und am Ende auch noch die falsche Bahn nahm.

Erst satte zwei Stunden später schloss ich die Tür zu meiner Wohnung auf. Ich zog den Tabak samt seinen feinen Zutaten aus dem Versteck und baute mir eine stattliche Tüte des Vergessens. Dann drehte ich Jimi Hendrix auf, ließ mich aufs Sofa fallen und sehnte den lila Nebel herbei.

Voll verkackt ist halb gewonnen

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