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PROLOG
ОглавлениеMama und ich nach der Flucht 1975
In meinem 2015 bei Edel Books erschienenen Buch „Gedanken im Kofferraum“ beschreibe ich meine Flucht im Kofferraum eines Diplomatenwagens am Checkpoint Charlie mit meiner Mutter 1975.
Hier der Epilog daraus:
Ich bin jetzt 57 Jahre alt.
Nach der Flucht aus Ostberlin habe ich mir die Welt angesehen, oh ja! Mein Horizont hat sich erweitert; in Afrika, Amerika, in Asien und fast ganz Europa. Ich habe große Geschäfte gemacht und bin ein paar Mal pleitegegangen, die ganze Klaviatur der Möglichkeiten, die man in der Freiheit hat. Ich habe zweimal geheiratet, wurde zweimal geschieden, bin ein ewiger Flüchtling geblieben. Sobald jemand anfängt mir zu sagen, wie ich leben oder was ich machen soll, ziehe ich weiter. Auf diesem Weg habe ich einige Herzen gebrochen. Heute versuche ich, sie zu heilen.
Nun bin ich endlich angekommen und schreibe Bücher – in den letzten vierzig Jahren „kleine Bücher“, Songtexte, unzählige kleine Geschichten.
Und ich habe drei wunderbare Kinder: Melanie, Nathalie und Daniel. Aufgewachsen in Freiheit, ohne die hässliche Fratze einer Diktatur.
Der Stress der Flucht und die Angst vor dem neuen Leben hatten ein paar hübsche Krankheiten zur Folge, unter anderem Morbus Crohn, mal mehr und mal weniger, und mir versagten die Nieren. Nach der quälenden Zeit der Dialyse bekam ich 2004 auf Mallorca, wo ich seit Jahren lebte, endlich eine Spenderniere. Das gab mir meine Lebensqualität zurück, die Möglichkeit wieder zu arbeiten. In meinem Pass steht jetzt der Künstlername Tomas de Niero, mit „ie“ geschrieben, so wie die Niere, um diesen Neuanfang, der zugleich eine zweite Chance und eine Art Wiedergeburt war, für ewig festzuschreiben. Was für ein Spinner, werden vielleicht einige sagen, aber ich wollte den von schweren Krankheiten heimgesuchten Flüchtling behutsam in die Schatulle der Vergangenheit legen, mit allem nötigen Respekt, und als Tomas de Niero gesunden.
Wahrscheinlich ist das der Preis, den man zu bezahlen hat, wenn man sein Leben riskiert; man gewinnt etwas, in meinem Fall die Freiheit, und man verliert etwas anderes, zum Beispiel die körperliche Gesundheit. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Ich gelte bei meinen Freunden als „unkaputtbar“. Meine positive Einstellung zum Leben ist ungebrochen und der Motor meiner Existenz.
Aber es gab auch Verluste.
Meine geliebte Oma Hedwig verließ diese Welt im Oktober 1984.
Mama heiratete ihren Michel, aber die Ehe hielt nicht lange. Den Brief, der einige Wochen vor unserer Flucht anonym bei der Stasi einging, hatte übrigens die Frau geschrieben, mit der Michel in Westberlin zusammenlebte.
Das, was meine Mutter im Kofferraum gedacht hatte, erzählte sie mir in der Zeit, die sie noch im Goldenen Westen hatte – zehn Jahre, in denen ich sie nie aus den Augen ließ, bevor sie 1985 im Alter von nur 51 Jahren verstarb. Das Herz, was auch sonst.
Mein Vater starb 2004, in dem Jahr, als ich meine neue Niere bekam. Gearbeitet hat er nicht mehr sehr viel, hat viel gelesen und noch einmal geheiratet und mir eine weitere Schwester, Tanja, geschenkt. Aber auch diese Ehe war längst Geschichte. Die Liebe zu seiner Tochter Tanja blieb, sie hatten ein sehr inniges Verhältnis zueinander, sie besuchte ihn regelmäßig.
Der Botschafter, unser Fluchthelfer, wurde wenige Tage nach unserer Flucht nach Afrika zurückbeordert und durfte nie wieder europäischen Boden betreten. Ein stiller Held, der zwei Menschen mitten im Kalten Krieg die Freiheit ermöglicht hat.
Mein Bruder Peer lebt mit seiner Frau in Berlin; er hat seine Mutter nie wieder gesehen.
Und Dirk, der Tagträumer, wurde im zarten Alter von sechzehn Jahren direkt nach unserer Flucht langsam zum Trinker. Man muss nicht lange nach den Gründen suchen. Nachdem er betrunken schwer gestürzt war, stand ich 1992 an seinem Bett im Krankenhaus und hielt seine Hand. Das Gehirn war tot, von einem Blutgerinnsel zerstört, und nach zwei Tests verstand auch ich, dass es ihn nicht mehr gab, nur noch seinen Körper. Diesmal musste ich eine schwere Entscheidung fällen und ließ schließlich schweren Herzens und nicht ohne Schuldgefühle die Maschinen abstellen.
Ein hoher Preis für eine einzige Flucht!
Es gab viele geglückte Fluchten, allein 5075 über die Berliner Mauer (laut eines Projekts des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF), der Bundeszentrale für politische Bildung und des Deutschlandradios). Nach Angaben des ehemaligen Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen gelang vom Mauerbau bis 1988 rund 40.000 DDR-Bürgern die Flucht in den Westen. Aber da waren auch all die gescheiterten Fluchtversuche. An der innerdeutschen Grenze starben mindestens 239 Menschen. Wegen der Vertuschungspraxis der Stasi allerdings eine nicht verlässliche Zahl.
Ich hatte Glück und versuche demütig zu sein.
Die Angst vor dem Tod habe ich im Kofferraum liegen lassen. (Zitat Ende)
Damit besser zu verstehen ist, was danach geschah und wie ich und Mutter nach gelungener Flucht ins „westliche Leben“ eingetaucht sind, will ich hier eine Frau beschreiben, die uns sehr in dieses neue Leben geholfen hat.