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1975, Evelyn Künneke

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Ich habe diese Künstlerin geliebt; wir waren 25 Jahre lang befreundet und durch unsere lange Zusammenarbeit habe ich auch viel Heiteres erlebt. Ihr wohl größter Verdienst war die Tatsache, dass sie meine Mutter und mich nach unserer Flucht in ihrer Wohnung in der Giesebrechtstraße 5 aufnahm und uns damit das Notaufnahmelager Marienfelde – ja, so was gab es auch für deutsche Flüchtlinge 1975 – ersparte.

Als Evelyn ihre Wohnung damals betrat und ich unsere zweite Retterin in Sachen Flucht, nach dem Diplomaten, der uns in seinem Wagen am Checkpoint Charlie in seinem Kofferraum in den Westen gefahren hatte, nun endlich kennenlernen durfte, begrüßten Mama und sie sich derart herzlich, als wären sie gestern erst zusammen gewesen. Meine Mutter und Evelyn kannten sich aus der Zeit vor dem Mauerbau 1961, da meine Oma Hedwig bei den Künnekes als Haushaltshilfe gearbeitet hatte und sich unsere Familien so näher kamen. Wir wohnten schon einige Tage bei ihr, denn sie hatte einer Freundin, die sich während ihrer Abwesenheit um ihre Wohnung kümmerte, gebeten, uns in die Wohnung zu lassen, um nicht ins Aufnahmelager zu müssen. Sie war in Hamburg auf Tour, hatte in diesem Jahr im „Onkel Pö“ ein grandioses Comeback hingelegt. Ich musterte sie genau. Die Statur war der meiner Mutter sehr ähnlich, großer Busen, nur in den Hüften war Mama ja eher schlank, Evelyn – ich würde sagen – stabiler.

Wir mochten uns auf Anhieb. Nächtelang saßen wir nun an einem kleinen runden Tisch im Arbeitszimmer ihres Vaters, des berühmten Operettenkomponisten Eduard Künneke, und rauchten und redeten. Natürlich wollte sie – ebenso wie der Geheimdienst der Amerikaner – von uns wissen, wie wir nun geflohen sind. Und hier bewunderte ich meine Mutter endlos. Wann immer diese Frage gestellt wurde, antwortete sie stereotyp:

„Das sage ich nicht, denn wenn jemand anderes fliehen will, und die wüssten wie und würden ihn dann erwischen, wäre ich ja mitschuldig an seinem Schicksal.“

Ende. Ich übernahm diese Sätze für Jahre genau so. Es waren sehr schöne und für mich auch wichtige Gespräche mit Evelyn. Sie war ein hervorragender Zuhörer mit einer schier unendlichen Geduld. Als ich mehrere Wochen lang Liebeskummer hatte, hörte sich Evelyn Abend für Abend, wieder und wieder dasselbe Gejammer von mir tapfer an. Und tröstete mich mit Worten wie:

„Tomas, bitte glaube mir, das geht vorbei! Ich hatte auch …“

Und dann erzählte sie von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Thema Liebe. Und das waren wunderbare Geschichten aus ihrem bewegten Leben. Ein Satz beeindruckte mich derart, dass ich daraus ein Lied machte:

„Liebeskummer ist kein Scherz!“

Es tat mir einfach gut mit einem intelligenten Menschen zu sprechen, der sich Zeit für mich nahm. Schließlich war mir durch die Flucht alles weggebrochen, was vorher mein Leben ausmachte und meine soziale Entwicklung:

Meine Freunde, meine Freundin, mein Kiez Prenzlauer Berg, gewohnte Wege und vieles mehr. Im Westen kamen mir die Menschen zum größten Teil sehr oberflächlich vor, was bei rückwirkender Betrachtung natürlich so nicht stimmte, denn sie waren einfach nur anders. Freier. Nicht unter den Deckel einer Diktatur gepresst und kamen mir deshalb ungewohnt vor. Evelyn baute mir eine Brücke in mein neues Umfeld, und ich verdanke es ihr, mich dann doch relativ schnell eingefunden zu haben in diese neue Welt.

Und langsam aber sicher stellte sich mir die Frage nach meiner beruflichen Zukunft.

So lernte ich die Erfindung des Arbeitsamtes kennen.

Der Herr dort erklärte mir kurzerhand, dass ich meine Ausbildung als Tischler und Bühnenbauer, die ich ja nun durch unsere Flucht mittendrin am Deutschen Theater hatte unterbrechen müssen, im Moment nicht einfach so weiter machen könne. Aber damit ich, während ich mir was suchte, gutes Arbeitslosengeld bekäme, stufte mich der nette Herr als Metallhilfsarbeiter ein, damit ich mehr Geld für den Start hätte, wie er sagte. So bekam ich für von mir so empfundenes Nichtstun über 500 Mark. Ich war erstaunt und konnte so erst einmal etwas zum Unterhalt beitragen.

Im August 1975 bezogen wir unsere eigene Wohnung in der Schöneberger Nollendorfstraße. Eine Wohnung ganz oben im 6. Stock, mit Fahrstuhl, Gott sei Dank. Ich hatte einen Job gefunden als Dekorationshilfe bei Hertie am Mehringdamm. Den ganzen Tag in dieser unnatürlichen Kaufhausluft zu arbeiten machte mir zu schaffen, die Stunden zogen sich und der „Ossi“ war alles andere als beliebt bei den Kollegen. Als ganz entsetzlich ist mir der Chef der Dekoration in Erinnerung geblieben. Durch seine arrogante Art fühlte ich mich als Mensch zweiter Klasse und schmerzlich herausgerissen aus dieser viel interessanteren Künstlerwelt, die ich zum einen zuhause bei meiner Mutter fand und zum anderen während vieler Essen bei Evelyn.

Wer jemals in den Genuss gekommen ist, in der Giesebrechtstraße 5 bei der Künneke zum Essen geladen worden zu sein, weiß, wovon ich hier jetzt ein wenig erzähle. Man wurde bestens unterhalten. Stellen Sie sich bitte vor, Sie betreten eine Altberliner Wohnung, stehen in einem kleinen Flur, legen ab und schreiten links in die Bibliothek. Hier erwartet Sie eine Sammlung von in schwarzen Regalen geordneten Büchern des Eduard Künneke, Vater von Evelyn und Komponist von so unsterblichen Operetten wie beispielsweise „Der Vetter aus Dingsda“.

Die Wände sind mit roter Tapete im Stil der Zwanziger Jahre beschlagen und runden das Bild im Zusammenspiel mit den durchweg schwarzen Möbeln hervorragend ab. Rechts ein Klavier, ein Stutzflügel, natürlich der gut erhaltene von Eduard Künneke, an dem er so manche Komposition schuf.

Nun durchschreiten Sie einen Türbogen ohne Türen, an den Seiten von einem schweren Vorhang flankiert, und betreten einen der wohl wichtigsten Kommunikationsräume für Künstler in Berlin, das Künneke-Esszimmer!

Hier saßen Gustaf Gründgens, Marianne Hoppe, Helmut Qualtinger, Kai Rautenberg, Rosa von Praunheim, R. W. Fassbender, Brigitte (Biggi) Mira, Michael Jary, Manfred Krug, Helen Vita und viele andere bekannte Künstler, aber auch bis dahin noch völlig unbekannte Talente – also fast alle guten Künstler, die Berliner Boden je berührten. Sie merken, ich habe die Aufzählung abbrechen müssen, da sonst dieses Buch zu den dickeren gehören würde und ich Gefahr liefe, selbst Evelyn im Himmel noch damit zu langweilen.

Also sind wir hier im Esszimmer, in dem sich Evelyn am wohlsten fühlte -, außer auf einer Bühne zu stehen natürlich.

Aber in gewisser Weise war auch dies hier ihre Bühne. Sie entschied, wer zu welchem Essen kommen durfte, kochte selbst, übrigens ausgezeichnet und nicht ohne damit so manches Mal für große Heiterkeit zu sorgen, wenn mal was misslang.

Kurzum, das Essen war meist ein voller Erfolg, und ihre Fähigkeit, verschiedenste Leute beim Essen zusammenzubringen mochte ich sehr, da ich so fast nie einen langweiligen Abend zu erwarten hatte.

Ich habe an diesem Tisch sehr interessante Partner für meine künstlerische Arbeit kennengelernt und auch eine große Liebe, wenn auch nicht ganz ohne die leicht kuppelnde Hand von Evelyn.

In diesem Fall hatte sich die Künneke entschlossen, Teile des Archivs ihres Vaters, Noten und Partituren, der Akademie der Künste zu überlassen. Zu diesem Zweck fand in der Akademie eine Feier statt, bei der junge Künstler vorsangen. Mir fiel eine der Sängerinnen auf, Evelyn auch. Und in ihrer herzlichen Art, wenn sie jemanden in ihr Herz geschlossen hatte, lud Evelyn die besagte Sängerin zu einem ihrer Essen ein. Und mich dazu. Sonst war keiner weiter zugegen. Evelyn thronte wie immer am Kopfende des zehn Personen fassenden Tischs. Links von ihr saß Ulla, die gerade den Strauss-Wettbewerb gewonnen hatte und nicht nur eine perfekte Klassiksängerin war, sondern auch andere Songs wunderbar singen konnte. Außerdem ist sie die Großnichte des berühmten Schauspielers Victor de Kowa, weshalb sie später unter dem Künstlernamen Stephanie de Kowa arbeitete. Rechts von der freudig kuppelnden Diva saß wie immer ich. Ein paar Tage später ging ich mit Ulla ins Kino. Wir sahen den fantastischen Film „Das Leben ist schön“ und verliebten uns an diesem Tag ineinander.

War der Abend fortgeschritten, das Dessert eingenommen und das Dauerrauchen von Evelyn eröffnet, ergab es sich fast immer, dass sie aus ihrem Leben zu plaudern begann.

Ich will es offen sagen:

Vieles ist wahr, aber einige Beispiele für die, sagen wir mal, leichte Krümmung der Wahrheit, seien hier kurz aufgezählt:

Gerne erzählte Evelyn von ihrer Zeit als Kampfpilotin im Zweiten Weltkrieg, wo sie als solche über Feindgebiet abgeschossen wurde.

Dann erdolchte sie auch schon mal, in ihren aufregenden Schilderungen, einen Partisanen.

Auch überlebte sie einen Flugzeugabsturz, indem sie blind, nur dem „piep piep“ irgendeines Gerätes folgend, das Benzin heldenhaft ablassend, noch geradeso die Maschine landen konnte … als Pilotin, selbstverständlich …

Ich denke, sie hat damit ihre Art der Verarbeitung der schrecklichen Erlebnisse im Krieg gefunden.

Ihre Frontbetreuungen mit ihrem Riesenhit „Sing, Nachtigall, sing“, die Konzerte vor den deutschen Soldaten, die am nächsten Tag oft schon tot waren, haben in ihr sicher den Wunsch nach einer Korrektur all dieser grausamen Fakten geweckt. Und dank ihrer Phantasie baute sie sich in den zunehmenden Lebensjahren eine Art Parallelwelt auf, in der sie bei all dem Unglück Zuflucht fand.

Wenn man, wie ich, an unzähligen dieser Essen im Laufe von 26 Jahren teilgenommen hat, dann können Sie sich annähernd vorstellen, wie toll es ist, diese Geschichten immer und immer wieder zu hören. Faszinierend dabei ist, dass es kaum Menschen außer Rosa von Praunheim und mir an diesem Tisch gegeben hat, die irgendetwas von dem Erzählten laut bezweifelten. Alle saßen meist da, hörten zu und nickten an den entsprechenden Stellen.

So habe ich den Begriff „Club der todlangweiligen Ja-Sager“ geprägt.

Heftig zusammenreißen musste ich mich aber dann doch schon bei ihren immer wiederkehrenden Lieblingsgeschichten.

Ihre angeblich ein paar Tage in Paris andauernde Liebes- und Bettgeschichte mit Frank Sinatra beispielsweise, die sie auch gnadenlos in der Presse ausschlachtete.

Übrigens eine große Fähigkeit der Künneke, sich immer bei der Presse im Gespräch zu halten, sei es auch noch so aberwitzig. Ein weiteres Beispiel für ihr Geschick medienwirksam die Diva zu geben, war zweifellos die Verlobung mit Rosa von Praunheim, was beiden viel Presse brachte. Auch die Behauptung, sie habe 5463 Liebhaber in ihrem Leben gehabt –, man urteile selbst. Wann hätte sie denn dann all die Auftritte, Filme und anderen künstlerischen Tätigkeiten, wie zum Beispiel Malen, schaffen können? Lustig.

Und die Geschichte ihrer Tochter, die in den USA lebt, zu ihr keinen Kontakt habe, und die sie im zarten Alter von 15 Jahren in der Hocke, die wirklich schönste Umschreibung einer nie stattgefundenen Geburt, die ich jemals gehört habe, zur Welt gebracht haben will.

Ich habe oft darüber nachgedacht und ich glaube heute, dass Evelyn ihren Wunsch nach Liebe auch hiermit zu verarbeiten gesucht hat. Schließlich gab es keinerlei Verwandtschaft mehr um sie herum. Sie war als das Einzelkind berühmter Eltern ein wenig zu unerzogen, ja fast verzogen, weshalb sie sicher ihre tödlichste und für Freunde auch sehr anstrengende Waffe entwickelt haben mochte: ihre Wutausbrüche!

Spätestens als ich ihre Testamente las, wusste ich, dass da nie eine Tochter existiert hat, aber wer sollte da den ersten Stein werfen?

Ihre Sehnsucht nach Liebe hat nie aufgehört, bis in ihre letzten Tage hinein war sie in ihren Pianisten verliebt. Liebe kennt kein Alter … … und der Wunsch nach ihr ist wohl unsterblich.

Ich fing früh, schon 1975, an Songs zu schreiben und schrieb erste Texte für Evelyn. Nach mehreren Versuchen gefiel Evelyn mein Text „Schaufensterboy“ gut und sie ließ ihn vertonen. Zum ersten Mal saß ich in einer ihrer Vorstellungen im Kleinen Theater am Südwestkorso, geleitet von Sabine Fromm, und hörte, wie jemand einen Text von mir sang. Ein Schlüsselerlebnis.

Mama blieb zuhause und versuchte ihre Bilder, die sie nun zahlreich malte, an den Mann zu bringen, was nicht so recht gelingen wollte.

Und sie legte wieder Karten. Sie nannte das Lebensberatung. War aber nicht glücklich damit.

Daher stand sie plötzlich eines Tages im Herbst vor mir und verkündete:

„Wir machen eine Diskothek für Schwarze auf. Ich habe einen Geldgeber gefunden und auch das passende Lokal in der Martin-Luther-Straße. Wir nennen es La Mama.“

Ich kündigte glücklich bei meinem Dekorations-Chef und lud ihn zur Eröffnung ein. Sein Gesichtsausdruck, in etwa zwischen Alice im Wunderland und Rumpelstielzchen, war eine adäquate Entschädigung für all die Sticheleien der vergangenen Wochen. Herrlich.

Nun war ich Discjockey. Aha. In dem Lokal stand ganz hinten an der Tanzfläche ein schneeweißes Klavier. Dort thronte ich in angemessener Erhöhung und spielte die Soul-Hits jener Tage. Von Barry White bis Stevie Wonder war alles dabei und ich liebte diese Musik über alles. Mama schmiss die Bar mit Michel, den sie inzwischen geheiratet hatte, und an der Tür stand ein Zwei-Meter-Mann namens Willy aus Jamaika. Eine tolle Zeit. Mit viel sehr guter Soulmusik. Wenn etwas weniger los war, legte ich eine Scheibe von Hamilton Bohannon mit einem mehrere Minuten langem Klaviersolo im Opening auf und tat an meinem weißen Flügel – die Schallplattenspieler und das Mischpult waren darin so eingebaut, dass man es im Lokal nicht sehen konnte – so, als würde ich das selbst spielen. Ich reckte meinen Kopf in die Luft, verschloss die Augen und alles sah ziemlich echt aus, wie Mutter und verblüffte Gäste feststellten.

Nach einigen Monaten mussten wir wieder schließen. Natürlich.

Michel, der heißgeliebte Ehemann meiner Mutter, machte sich aus dem Staub nach Frankreich, natürlich nicht, ohne das letzte Geld vom Konto abzuheben.

Die Malerin aus dem Osten und ihr tapferer Sohn hatten nicht die geringste Ahnung von der Gastronomie und vom Überleben im Westen und mit einigen Schulden mehr am Hals hieß es nun wieder: Neuanfang.

Wir zogen ein zweites Mal zu Evelyn.

Ich wurde von Evelyn kurzerhand als ihr Sekretär eingestellt und schleppte fortan ihre Koffer, reiste mit ihr durch die verschiedensten TV-Sender, Schwulenclubs und Kleinkunstbühnen Deutschlands. Das war sehr lehrreich. Und auch ein bisschen anstrengend für einen blonden, schlanken, heterosexuellen jungen Mann wie mich. Bei Tisch zuhause sagte Evelyn bei Flirtversuchen ihrer diversen schwulen Freunde immer denselben Satz: „Vergiss es Schätzchen, Tommy ist durch und durch eine Hete!“

Das schützte mich ein wenig, aber es machte für viele die Sache auch noch spannender. Nicht einfach, aber da ich seit frühester Kindheit durch meine Mutter viele Schwule kannte, war das nicht wirklich ein Problem, oft auch durchaus heiter. Ich gewöhnte mir als Verteidigung an sie einfach nachzumachen, wenn sie mir gegenüber saßen, um sie völlig zu verwirren. Da fand ich mich grandios.

Ich taumelte zwischen meiner Traumwelt, in der ich bereits ein erfolgreicher Künstler war, und Wirklichkeit hin und her wie ein Blatt im Herbstwind. Als kleinen Einblick in meine ersten Tätigkeiten für Evelyn seien hier zwei kurze Beschreibungen angeführt.

Nur eine kleine Operation

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