Читать книгу Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 3

Sechstes Kapitel
Noch Jemand

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Lange Tage, die längsten, sachlich gesprochen und mit Bezug auf die Anzahl ihrer Sonnenstunden, denn ihrer Kurzweiligkeit vermochte astronomische Ausdehnung nichts anzuhaben, weder was jeden einzelnen betraf, noch ihre einförmige Flucht. Frühlings-Nachtgleiche lag fast drei Monate zurück, Sommerson-nenwende war da. Aber das natürliche Jahr bei uns hier oben folgte dem Kalender zurückhaltend: erst jetzt, erst dieser Tage war endgültig Frühling geworden, ein Frühling noch ohne alle Sommerschwere, würzig, dünnluftig und leicht, mit silbrig strahlender Himmelsbläue und kindlich kunterbunter Wiesen-blüte.

Hans Castorp fand an den Hängen dieselben Blumen wieder, von denen Joachim freundlicherweise ihm einige letzte einst zur Begrüßung ins Zimmer gestellt: Schafgarbe und Glockenblumen, – ein Zeichen für ihn, daß das Jahr in sich selber lief. Allein was hatte sich nun nicht alles aus dem jungen, smaragde-nen Grase der Schrägen und Wiesengebreite des Grundes an or-ganischem Leben als Stern, Kelch und Glocke oder von unre-gelmäßigerer Gestalt, die sonnige Luft mit trockener Würze er-füllend, hervorgebildet: Pechnelken und wilde Stiefmütterchen in ganzen Massen, Gänseblümchen, Margueriten, Primeln in gelb und rot, viel schöner und größer, als Hans Castorp sie im Flachlande je erblickt zu haben meinte, soweit er dort unten darauf achtgegeben; dazu die nickenden Soldanellen mit ihren gewimperten Glöckchen, blau purpurn und rosig, eine Speziali-tät dieser Sphäre.

Er pflückte von all der Lieblichkeit, trug Sträuße heim, ern-sten Sinnes und nicht sowohl zum Schmuck seines Zimmers, als zur streng wissenschaftlichen Bearbeitung, wie er es sich vorge-setzt. Einiges floristische Rüstzeug war angeschafft, ein Lehr-buch der allgemeinen Botanik, ein handlicher kleiner Spaten zum Ausheben der Pflanzen, ein Herbarium, eine kräftige Lupe; und damit wirtschaftete der junge Mann in seiner Loggia, – sommerlich gekleidet nun wieder, in einen der Anzüge, die er damals gleich mit sich heraufgebracht, – auch dies ein Merkmal der Jahresrundung.

Frische Blumen standen in mehreren Wassergläsern auf den Möbelplatten des inneren Zimmers, auf dem Lampentischchen zur Seite seines vorzüglichen Liegestuhls. Blumen, halb welk, schon matt, aber noch in Saft, fanden sich lose auf der Balkon-brüstung, am Boden der Loggia verstreut, während andere, wohlausgebreitet, zwischen Löschpapierbogen, die ihre Feuch-tigkeit tranken, der Presse von Steinen unterlagen, damit Hans Castorp die flachen Trockenpräparate mit gummierten Papier-streifen in sein Album kleben könnte. Er lag, die Knie hochge-zogen, dazu noch eins über das andere geschlagen, und während der Rücken des offen umgelegten Leitfadens auf seiner Brust einen Dachfirst bildete, hielt er das dickgeschliffene Rund des Vergrößerungsglases zwischen seine einfachen blauen Augen und eine Blüte, deren Krone er teilweise mit dem Taschenmes-ser entfernt hatte, um besser den Fruchtboden studieren zu kön-nen, und die hinter der starken Linse zum abenteuerlich flei-schigen Gebilde schwoll. Da schütteten die Staubbeutel, an der Spitze der Filamente, ihren gelben Pollen aus, vom Ovarium starrte der narbige Griffel, und legte man einen Schnitt durch ihn, so konnte man den zarten Kanal betrachten, durch den die Pollenkörner und – schlauche von zuckriger Ausscheidung in die Fruchtknotenhöhle geschwemmt wurden. Hans Castorp zählte, prüfte und verglich; er untersuchte Bau und Stellung der Kelch-und Blumenblätter wie der männlichen und weiblichen Ge-schlechtsorgane, beaufsichtigte die Übereinstimmung dessen, was er sah, mit schematischen und natürlichen Abbildungen, stellte die wissenschaftliche Richtigkeit in dem Bau ihm be-kannter Pflanzen mit Befriedigung fest und ging dazu über, sol-che, die er nicht zu nennen gewußt hätte, an der Hand des Lin-né nach Abteilung, Gruppe, Ordnung, Art, Familie und Gattung zu bestimmen. Da er viel Zeit hatte, gelangen ihm einige Fort-schritte in botanischer Systematik auf Grund vergleichender Morphologie. Unter die getrocknete Pflanze ins Herbarium schrieb er kalligraphisch den lateinischen Namen, den die hu-manistische Wissenschaft ihr galanterweise beigelegt, schrieb ih-re kennzeichnenden Eigenschaften dazu und zeigte es dem gu-ten Joachim, der sich wunderte.

Am Abend betrachtete er die Gestirne. Ein Interesse für das in sich laufende Jahr hatte ihn überkommen, – der doch schon einige zwanzig Sonnenumläufe auf Erden verbracht und sich noch niemals um dergleichen gekümmert hatte. Wenn wir selbst uns unwillkürlich in Ausdrücken wie "Frühlings-Nachtgleiche" bewegten, so geschah es in seinem Geist und schon in Hinsicht auf Gegenwärtiges. Denn dieser Art waren die Termini, die er neuerdings um sich zu streuen liebte, und auch durch hier einschlagende Kenntnisse setzte er seinen Vetter in Erstau-nen.

"Jetzt ist die Sonne nahe daran, ins Zeichen des Krebses zu treten", mochte er auf einem Spaziergang beginnen, "bist du dir darüber im klaren? Das ist das erste Sommerzeichen des Tier-kreises, verstehst du? Es geht nun über den Löwen und die Jungfrau auf den Herbstpunkt zu, den einen Äquinoktialpunkt, gegen Ende September, wenn wieder der Sonnenort auf den Himmelsäquator fällt, wie neulich im März, als die Sonne in den Widderpunkt trat."

"Das ist mir entgangen", sagte Joachim mürrisch. "Was redest denn du dir da so geläufig zusammen? Widderpunkt? Tier-kreis?"

"Allerdings, der Tierkreis; zodiacus. Die uralten Himmelszeichen, – Skorpion, Schütze, Steinbock, aquarius und wie sie hei-ßen, wie soll man sich dafür nicht interessieren! Es sind zwölf, das wirst du wenigstens wissen, drei für jede Jahreszeit, die auf-steigenden und die niedersteigenden, der Kreis der Sternbilder, durch die die Sonne wandert, – großartig meiner Ansicht nach! Stelle dir vor, daß man sie in einem ägyptischen Tempel als Deckenbild gefunden hat, – einem Tempel der Aphrodite noch dazu, nicht weit von Theben. Die Chaldäer kannten sie auch schon, – die Chaldäer, ich bitte dich, dies alte Zauberervolk, arabischsemitisch, hochgelehrt in Astrologie und Wahrsagerei. Die haben auch schon den Himmelsgürtel studiert, in dem die Planeten laufen, und ihn in die zwölf Sternbildzeichen einge-teilt, die Dodekatemoria, wie sie auf uns gekommen sind. Das ist großartig. Es ist die Menschheit!"

"Nun sagst du 'Menschheit', wie Settembrini."

"Ja, wie er, oder etwas anders. Man muß sie nehmen, wie sie ist, aber großartig ist es schon damit. Ich denke viel mit Sympa-thie an die Chaldäer, wenn ich so liege und den Planeten zuse-he, die sie auch schon kannten, denn alle kannten sie nicht, so gescheit sie waren. Aber die sie nicht kannten, kann ich auch nicht sehen, Uranus ist ja erst neulich mit dem Fernrohr ent-deckt worden, vor hundertzwanzig Jahren."

"Neulich?"

"Das nenne ich 'neulich', wenn du erlaubst, im Vergleich mit den dreitausend Jahren bis damals. Aber wenn ich so liege und mir die Planeten besehe, dann werden die dreitausend Jahre auch zu 'neulich', und ich denke intim an die Chaldäer, die sie auch sahen und sich ihren Vers darauf machten, und das ist die Menschheit."

"Na gut; du hast ja großzügige Entwürfe in deinem Kopf."

"Du sagst 'großzügig', und ich sage 'intim', – wie man es nun nennen will. Aber wenn nun also die Sonne in die Waage tritt, in zirka drei Monaten, dann haben die Tage wieder so weit abgenommen, daß Tag und Nacht gleich sind, und dann nehmen sie weiter ab bis gegen Weihnachten, das ist dir bekannt. Willst du aber, bitte, bedenken, daß, während die Sonne durch die Winterzeichen geht, den Steinbock, den Wassermann und die Fische, die Tage schon wieder zunehmen! Denn dann kommt neuerdings der Frühlingspunkt zum dreitausendstenmal seit den Chaldäern, und die Tage wachsen weiter bis übers Jahr, wenn wieder Sommeranfang ist."

"Selbstverständlich."

"Nein, das ist eine Eulenspiegelei! Im Winter wachsen die Tage, und wenn der längste kommt, 21. Juni, Sommersanfang, dann geht es schon wieder bergab, sie werden schon wieder kürzer, und es geht gegen den Winter. Du nennst das selbstverständlich, aber wenn man einmal davon absieht, daß es selbst-verständlich ist, dann kann einem angst und bange werden, momentweise, und man möchte krampfhaft nach etwas greifen. Es ist, als ob Eulenspiegel es so eingerichtet hätte, daß zu Win-tersanfang eigentlich der Frühling beginnt und zu Sommersanfang eigentlich der Herbst … Man wird ja an der Nase herum-gezogen, im Kreise herumgelockt mit der Aussicht auf etwas, was schon wieder Wendepunkt ist… Wendepunkt im Kreise. Denn das sind lauter ausdehnungslose Wendepunkte, woraus der Kreis besteht, die Biegung ist unmeßbar, es gibt keine Rich-tungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht 'geradeaus, geradeaus', sondern 'Karussell, Karussell'."

"Hör' auf!"

"Sonnwendfeier!" sagte Hans Castorp, "Sommersonnenwende! Bergfeuer und Ringelreihn rund um die lodernde Flamme herum mit angefaßten Händen! Ich habe es nie gesehen, aber ich höre, so wird es gemacht von urwüchsigen Menschen, so feiern sie die erste Sommernacht, mit der der Herbst beginnt, die Mittagsstunde und Scheitelhöhe des Jahres, von wo es ab-wärts geht, – sie tanzen und drehen sich und jauchzen. Worüber jauchzen sie in ihrer Urwüchsigkeit, – kannst du dir das be-greiflich machen? Worüber sind sie so ausgelassen lustig? Weil es nun abwärts geht ins Dunkel, oder vielleicht, weil es bisher aufwärts ging und nun die Wende gekommen ist, der unhaltba-re Wendepunkt, Mittsommernacht, die volle Höhe, mit Weh-mut im Übermut? Ich sage es, wie es ist, mit den Worten, die mir dafür einfallen. Es ist melancholischer Übermut und über-mütige Melancholie, weshalb die Urwüchsigen jauchzen und um die Flammen tanzen, sie tun es aus positiver Verzweiflung, wenn du so sagen willst, zu Ehren der Eulenspiegelei des Krei-ses und der Ewigkeit ohne Richtungsdauer, in der alles wieder-kehrt."

"Ich will nicht so sagen", murmelte Joachim, "bitte, schiebe es nicht auf mich. Es sind ja weitläufige Dinge, mit denen du dich beschäftigst des Abends, wenn du liegst."

"Ja, ich will nicht leugnen, daß du dich nützlicher beschäftigst mit deiner russischen Grammatik. Du mußt die Sprache nächstens ja fließend beherrschen. Mensch, natürlich ein großer Vorteil für dich, wenn es Krieg gibt, was Gott verhüte."

"Verhüte? Du sprichst wie ein Zivilist. Krieg ist notwendig. Ohne Kriege würde bald die Welt verfaulen, hat Moltke gesagt."

"Ja, dazu hat sie wohl eine Neigung. Und so viel kann ich dir zugeben", setzte Hans Castorp an und wollte eben auf die Chaldäer zurückkommen, die ebenfalls Krieg geführt und Ba-bylonien erobert hätten, obgleich sie Semiten und also beinahe Juden gewesen seien, – als beide gleichzeitig gewahr wurden, daß zwei Herren, die dicht vor ihnen gingen, die Köpfe nach ihnen wandten, aufmerksam gemacht durch ihre Reden, gestört in eigener Unterhaltung.

Es war auf der Hauptstraße, zwischen dem Kurhaus und dem Hotel Belvedere, auf dem Rückweg nach Davos-Dorf Das Tal lag im Festkleide, in zarten, lichten und frohen Farben. Die Luft war köstlich. Eine Symphonie von heiteren Wiesenblumendüften erfüllte die reine, trockene, klar durchsonnte Atmosphäre.

Sie erkannten Lodovico Settembrini zur Seite eines Frem-den; doch schien es, als erkenne er seinerseits sie nicht oder als wünsche er kein Zusammentreffen, denn er wandte rasch den Kopf wieder ab und vertiefte sich gestikulierend in die Unterhaltung mit seinem Begleiter, wobei er sogar rascher vorwärts zu kommen suchte. Als freilich die Vettern, rechts neben ihm, durch heitere Verbeugung grüßten, stellte er sich wunder wie angenehm überrascht, mit "Sapristi!" und "Teufel noch ein-mal!", wollte aber nun wieder zurückhalten, die beiden vor-über – und vorangehen lassen, was sie jedoch nicht verstanden, das heißt: nicht bemerkten, weil sie keine Vernunft darin sahen. Ehrlich erfreut vielmehr, ihm nach längerer Trennung wieder zu begegnen, hielten sie sich bei ihm und schüttelten ihm die Hand, indem sie nach seinem Ergehen fragten und in höflicher Erwartung dabei zu seinem Gefährten hinüberblickten. So zwangen sie ihn, zu tun, was er offenbar lieber nicht getan hätte, was aber ihnen als die natürlichste und zu gewärtigendste Sache von der Welt erschien: nämlich sie mit jenem bekannt zu machen, – was denn also im Gehen und halben Stehenbleiben derart geschah, daß Settembrini, mit verbindenden Handbewegun-gen und lustigen Reden die Herren miteinander in Beziehung setzte, sie vor seiner Brust sich die Hände reichen ließ.

Es stellte sich heraus, daß der Fremde, der Settembrinis Jahre haben mochte, dessen Hausgenosse war: der andere Aftermieter Lukaçeks, des Damenschneiders, Naphta mit Namen, soviel die jungen Leute verstanden. Er war ein kleiner, magerer Mann, ra-siert und von so scharfer, man möchte sagen: ätzender Häßlich-keit, daß die Vettern sich geradezu wunderten. Alles war scharf an ihm: die gebogene Nase, die sein Gesicht beherrschte, der schmal zusammengenommene Mund, die dick geschliffenen Gläser der im übrigen leicht gebauten Brille, die er vor seinen hellgrauen Augen trug, und selbst das Schweigen, das er be-wahrte, und dem zu entnehmen war, daß seine Rede scharf und folgerecht sein werde. Er war barhaupt, wie es sich gehörte, und im bloßen Anzug, – sehr wohlgekleidet dabei: sein dunkelblau-er Flanellanzug mit weißen Streifen zeigte guten, gehalten mo-dischen Schnitt, wie der weltkindlich prüfende Blick der Vettern feststellte, die übrigens einem ebensolchen, nur rascheren und schärferen, an ihren Personen hinabgleitenden Blick von seiner, des kleinen Naphta Seite, begegneten. Hätte Lodovico Settembrini seinen faserigen Flaus und seine gewürfelten Hosen nicht mit so viel Anmut und Würde zu tragen gewußt, – seine Erscheinung hätte unvorteilhaft abstechen müssen von der fei-nen Gesellschaft. Sie tat esjedoch um so weniger, als die Gewürfelten frisch aufgebügelt waren, so daß man sie auf den er-sten Blick fast für neu hätte halten können, – ein Werk seines Quartiergebers zweifellos, nach beiläufiger Überlegung der jungen Leute. Wenn aber der häßliche Naphta nach der Güte und Weltlichkeit seiner Kleidung den Vettern näher stand als seinem Hausgenossen, so ordneten doch nicht alleine seine vor-gerückteren Jahre ihn mit diesem gegen die Jünglinge zusam-men, sondern entschieden noch etwas anderes, was sich am be-quemsten auf die Gesichtsfarbe der beiden Paare zurückführen ließ, nämlich darauf, daß die einen braun und rotgebrannt, die anderen aber bleich waren: Joachims Gesicht war im Laufe des Winters noch bronzefarbener nachgedunkelt, und dasjenige Hans Castorps glühte rosenrot unter seinem blonden Scheitel; aber Herrn Settembrinis welscher Blässe, die gar edel zu seinem schwarzen Schnurrbart stand, hatte die Strahlung nichts anzuhaben vermocht, und sein Genosse, obgleich blonden Haares – es war übrigens aschblond, metallisch-farblos, und er trug es glatt aus der fliegenden Stirn über den ganzen Kopf zurückgestrichen – , zeigte gleichfalls die mattweiße Gesichtshaut brünetter Rassen. Zwei von den vieren trugen Spazierstöcke, nämlich Hans Castorp und Settembrini; denn Joachim ging aus militäri-schen Gründen ohne einen solchen, und Naphta legte nach er-folgter Vorstellung sogleich wieder die Hände auf dem Rücken zusammen. Sie waren klein und zart, wie auch seine Füße sehr zierlich waren, übrigens seiner Figur entsprechend. Daß er er-kältet wirkte und auf eine gewisse schwächliche und unförderli-che Art hustete, fiel nicht auf.

Jenen Anflug von Betroffenheit oder Verstimmung beim Gewahrwerden der jungen Leute hatte Settembrini sofort mit Eleganz überwunden. Er zeigte sich in der besten Laune und machte die drei unter Scherzreden bekannt, – zum Beispiel be-zeichnete er Naphta als "Princeps scholasticorum". Die Fröh-lichkeit, sagte er, "halte glanzvoll Hof im Saale seiner Brust", wie Aretino sich ausgedrückt habe, und das sei des Frühlings Verdienst, eines Frühlings, den er sich lobe. Die Herren wüßten, daß er gegen die Welt hier oben manches auf dem Herzen habe, sooft er es sich bereits davon heruntergeredet. Ehre jedoch dem Hochgebirgsfrühling! – vorübergehend vermöge er ihn mit allen Greueln dieser Sphäre zu versöhnen. Da fehle alles Verwir-rende und Aufreizende des Frühlings der Ebene. Kein Gebrodel in der Tiefe! Keine feuchten Düfte, kein schwüler Dunst! Sondern Klarheit, Trockenheit, Heiterkeit und derbe Anmut. Es sei nach seinem Herzen, es sei süperb!

Sie gingen in unregelmäßiger Reihe, nebeneinander alle vier, so weit es möglich war, aber bald, wenn Entgegenkommende vorbeigingen, mußte Settembrini, der den rechten Flügel hielt, auf die Fahrstraße treten, bald löste ihre Front durch das Zu-rückbleiben und Einlenken einzelner Glieder, Naphtas etwa, linkerseits, oder Hans Castorps, der den Platz zwischen dem Humanisten und Vetter Joachim hatte, sich vorübergehend auf. Naphta lachte kurz, mit einer vom Schnupfen sordinierten Stimme, die beim Sprechen an den Klang eines gesprungenen Tellers erinnerte, an den man mit dem Knöchel klopft. Indem er mit dem Kopf seitlich zu dem Italiener hinüberwies, sagte er mit schleppendem Akzent:

"Man höre den Voltairianer, den Rationalisten. Er lobt die Natur, weil sie uns auch bei fertilster Gelegenheit nicht mit my-stischen Dämpfen verwirrt, sondern klassische Trockenheit wahrt. Wie hieß doch die Feuchtigkeit auf lateinisch?"

"Der Humor", rief Settembrini über die linke Schulter, "der Humor in der Naturbetrachtung unseres Professors besteht dar-in, daß er, wie die heilige Katharina von Siena, an die Wunden Christi denkt, wenn er rote Primeln sieht."

Naphta erwiderte:

"Das wäre eher witzig als humoristisch. Aber es hieße im-merhin Geist in die Natur tragen. Sie hat es nötig."

"Die Natur", sagte Settembrini mit gesenkter Stimme und nicht mehr völlig über die Schulter hinweg, sondern nur noch an ihr hinunter, "hat Ihren Geist durchaus nicht nötig. Sie ist selber Geist."

"Sie langweilen sich nicht mit Ihrem Monismus?"

"Ah, Sie geben also zu, daß es Vergnügungssucht ist, wenn Sie die Welt feindlich entzweien, Gott und Natur auseinanderreißen!"

"Es interessiert mich, daß Sie Vergnügungssucht nennen, was ich im Sinne habe, wenn ich Passion und Geist sage."

"Zu denken, daß Sie, der große Worte für so frivole Bedürfnisse setzt, mich manchmal einen Redner nennen!"

"Sie bleiben dabei, daß Geist Frivolität bedeutet. Aber er kann nichts dafür, daß er von Hause aus dualistisch ist. Der Dualismus, die Antithese, das ist das bewegende, das leidenschaftliche, das dialektische, das geistreiche Prinzip. Die Welt feindlich gespalten sehen, das ist Geist. Aller Monismus ist langweilig. Solet Aristoteles quaerere pugnam."

"Aristoteles? Aristoteles hat die Wirklichkeit der allgemeinen Ideen in die Individuen verlegt. Das ist Pantheismus."

"Falsch. Geben Sie den Individuen substantiellen Charakter, denken Sie das Wesen der Dinge aus dem Allgemeinen fort in die Einzelerscheinung, wie Thomas und Bonaventura es als Ari-stoteliker taten, so haben Sie die Welt aus jeder Einheit mit der höchsten Idee gelöst, sie ist außergöttlich und Gott transzen-dent. Das ist klassisches Mittelalter, mein Herr."

"Klassisches Mittelalter ist eine köstliche Wortverbindung!"

"Ich bitte um Entschuldigung, aber ich lasse den Begriff des Klassischen statthaben, wo er am Platze ist, das heißt, wo immer eine Idee auf ihren Gipfel kommt. Die Antike war nicht immer klassisch. Ich stelle eine Abneigung gegen die … Freizügigkeit der Kategorien bei Ihnen fest, gegen das Absolute. Sie wollen auch nicht den absoluten Geist. Sie wollen, der Geist, das sei der demokratische Fortschritt."

"Ich hoffe uns einig in der Überzeugung, daß der Geist, so absolut er sei, niemals den Anwalt der Reaktion wird machen können."

"Er ist jedoch immer der Anwalt der Freiheit!"

"Jedoch? Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe, nicht Nihilismus und Bosheit."

"Wovor Sie offenbar Angst haben."

Settembrini warf den Arm über den Kopf Das Geplänkel brach ab. Joachim blickte verwundert von einem zum andern, während Hans Castorp mit hochgezogenen Brauen auf seinen Weg niedersah. Naphta hatte scharf und apodiktisch gesprochen, wiewohl er es gewesen war, der die weitere Freiheit verfochten hatte. Besonders seine Art, mit "Falsch!" zu widersprechen, beim "Sch"-Laut die Lippen vorzuschieben und dann den Mund zu verkneifen, war unangenehm. Settembrini hatte ihm teils auf heitere Weise Widerpart gehalten, teils auch eine schö-ne Wärme in seine Worte gelegt, etwa dort, wo er zur Einigkeit in gewissen Grundgesinnungen gemahnt hatte. Jetzt, während Naphta schwieg, begann er, den Vettern die Existenz des ihnen Fremden zu erläutern, womit er dem Bedürfnis nach Aufklä-rung entgegenkam, das er nach seinem Wortwechsel mit Naphta bei ihnen voraussetzte. Dieser ließ es geschehen, ohne sich dar-um zu kümmern. Er sei Professor der alten Sprachen in den obersten Klassen des Fridericianums, erklärte Settembrini, in-dem er den Stand des Vorzustellenden nach italienischer Art möglichst pomphaft herausstrich. Sein Schicksal sei dem seinen, Settembrinis eigenem, gleich. Durch seinen Gesundheitszustand vor fünf Jahren heraufgeführt, habe er sich überzeugen müssen, daß er des Aufenthaltes für lange Frist bedürftig sei, habe sein Sanatorium verlassen und sich privat-ansässig gemacht, bei Luka-çek, dem Damenschneider. Des hervorragenden Latinisten, Zöglings einer Ordensschule, wie er sich etwas unbestimmt ausdrückte, habe sich klugerweise die höhere Lehranstalt des Ortes als eines Dozenten versichert, der ihr zur Zierde gerei-che … Kurz, Settembrini erhob den häßlichen Naphta nicht wenig, obgleich er doch eben noch etwas wie einen abstrakten Streit mit ihm gehabt, und obgleich dieser streitähnliche Wort-wechsel sich sogleich fortsetzen sollte.

Settembrini ging nämlich jetzt dazu über, Herrn Naphta Er-läuterungen über die Vettern zu geben, 'wobei sich übrigens zeigte, daß er ihm schon früher von ihnen erzählt hatte. Dies sei also der junge Ingenieur mit den drei Wochen, bei dem Hofrat Behrens eine feuchte Stelle gefunden habe, sagte er, und dies hier jene Hoffnung der preußischen Heeresorganisation, Leut-nant Ziemßen. Und er sprach von Joachims Gemütsempörung und Reiseplänen, um hinzuzufügen, daß man dem Ingenieur zweifellos zu nahe treten würde, wenn man ihm nicht dieselbe Ungeduld zuschiebe, zur Arbeit zurückzukehren.

Naphta verzog das Gesicht. Er sagte:

"Die Herren haben da einen beredten Vormund. Ich hüte mich, zu bezweifeln, daß er Ihre Gedanken und Wünsche zu-treffend verdolmetscht. Arbeit, Arbeit – , ich bitte, gleich wird er mich einen Feind der Menschheit schelten, einen inimicus hu-manae naturae, wenn ich es wage, an Zeiten zu erinnern, wo er mit dieser Fanfare den gewohnten Effekt durchaus nicht erzielt hätte, nämlich an Zeiten, wo das Gegenteil seines Ideals in un-vergleichlich höheren Ehren stand. Bernhard von Clairvaux et-wa lehrte eine andere Stufenfolge der Vollkommenheit, als Herr Lodovico sie sich je hat träumen lassen. Wollen Sie wis-sen, welche? Sein unterster Stand befindet sich in der 'Mühle', der zweite auf dem 'Acker', der dritte und lobenswerteste aber – hören Sie nicht zu, Settembrini – , 'auf dem Ruhebett'. Die Mühle, das ist das Sinnbild des Weltlebens, – nicht schlecht ge-wählt. Der Acker bedeutet die Seele des weltlichen Menschen, darauf der Prediger und geistliche Lehrer wirkt. Diese Stufe ist schon würdiger. Auf dem Bette aber –"

"Genug! Wir wissen!" rief Settembrini. "Meine Herren, jetzt wird er Ihnen Zweck und Gebrauch des Lotterbettes vor Augen führen!"

"Ich wußte nicht, daß Sie prüde sind, Lodovico. Wenn man Sie den Mädchen zuzwinkern sieht … Wo bleibt die heidnische Unbefangenheit? Das Bett also ist der Ort der Beiwoh-nung des Minnenden mit dem Gemeinten und als Symbolum die beschauliche Abgeschiedenheit von Welt und Kreatur zum Zwecke der Beiwohnung mit Gott."

"Puh! Andate, andate!" wehrte der Italiener fast weinend ab. Man lachte. Dann aber fuhr Settembrini mit Würde fort:

"Ah, nein, ich bin Europäer, Okzidentale. Ihre Rangordnung da ist reiner Orient. Der Osten verabscheut die Tätigkeit. Lao-Tse lehrte, daß Nichtstun förderlicher sei, als jedes Ding zwi-schen Himmel und Erde. Wenn alle Menschen aufgehört haben würden, zu tun, werde vollkommene Ruhe und Glückseligkeit auf Erden herrschen. Da haben Sie Ihre Beiwohnung."

"Was Sie nicht sagen. Und die abendländische Mystik? Und der Quietismus, der Fénélon zu den Seinen zählen darf, und der lehrte, daß jedes Handeln fehlerhaft sei, da tätig sein zu wollen, Gott beleidigen heiße, der allein handeln wolle? Ich zitiere die Propositionen von Molinos. Es scheint doch, daß die geistige Möglichkeit, das Heil in der Ruhe zu finden, allgemeine menschliche Verbreitung besitzt."

Hier griff Hans Castorp ein. Mit dem Mut der Einfalt misch-te er sich ins Gespräch und äußerte ins Leere blickend:

"Beschaulichkeit, Abgeschiedenheit. Es hat was für sich, es läßt sich hören. Wir leben ja ziemlich hochgradig abgeschieden, wir hier oben, das kann man sagen. Fünftausend Fuß hoch lie-gen wir auf unseren Stühlen, die auffallend bequem sind, und sehen auf die Welt und Kreatur hinunter und machen uns unse-re Gedanken. Wenn ich mir's überlege und soll die Wahrheit sagen, so hat das Bett, ich meine damit den Liegestuhl, verste-hen Sie wohl, mich in zehn Monaten mehr gefördert und mich auf mehr Gedanken gebracht, als die Mühle im Flachlande all die Jahre her, das ist nicht zu leugnen."

Settembrini sah ihn mit traurig schimmernden schwarzen Augen an. "Ingenieur", sagte er gepreßt, "Ingenieur!" Und er nahm Hans Castorp am Arm und hielt ihn ein wenig zurück, gleichsam um hinter dem Rücken der anderen privatim auf ihn einzureden.

"Wie oft habe ich Ihnen gesagt, daß man wissen sollte, was man ist, und denken, wie es einem zukommt! Sache des Abend-länders, trotz aller Propositionen, ist die Vernunft, die Analyse, die Tat und der Fortschritt, – nicht das Faulbett des Mönches!"

Naphta hatte zugehört. Er sprach nach hinten:

"Des Mönchs! Man dankt den Mönchen die Kultur des euro-päischen Bodens! Man dankt ihnen, daß Deutschland, Frank-reich und Italien nicht mit Wildwald und Ursümpfen bedeckt sind, sondern uns Korn, Obst und Wein bescheren! Die Mön-che, mein Herr, haben sehr wohl gearbeitet …"

"Ebbe, nun also!"

"Ich bitte. Die Arbeit des Religiösen war weder Selbstzweck, das heißt: Betäubungsmittel, noch lag ihr Sinn darin, die Welt zu fördern oder geschäftliche Vorteile zu erlangen. Sie war reine asketische Übung, Bestandteil der Bußdisziplin, Heilsmittel. Sie gewährte Schutz gegen das Fleisch, diente der Abtötung der Sinnlichkeit. Sie trug also – erlauben Sie mir, das festzustellen – völlig unsozialen Charakter. Sie war ungetrübtester religiöser Egoismus."

"Ich bin Ihnen für die Aufklärung sehr verbunden und freue mich, den Segen der Arbeit auch gegen den Willen des Men-schen sich bewähren zu sehen."

"Ja, gegen seine Absicht. Wir bemerken da – nichts Geringeres, als den Unterschied zwischen dem Nützlichen und dem Huma-nen."

"Ich bemerke vor allem mit Unmut, daß Sie schon wieder Weltentzweiung treiben."

"Ich bedauere, mir Ihr Mißfallen zugezogen zu haben, aber man muß die Dinge scheiden und ordnen und die Idee des Homo Dei von unreinen Bestandteilen freihalten. Ihr Italiener habt das Wechslergeschäft und die Banken erfunden; das verzeih' euch Gott. Aber die Engländer erfanden die ökonomistische Gesellschaftslehre, und das wird der Genius des Menschen ihnen niemals verzeihen."

"Ah, der Genius der Menschheit war auch in den großen ökonomischen Denkern jener Inseln lebendig! – Sie wollten sprechen, Ingenieur?"

Das leugnete Hans Castorp, sagte aber dennoch – und Naphta sowohl wie Settembrini hörten ihm mit einer gewissen Span-nung zu:

"An dem Beruf meines Vetters müssen Sie demnach Gefallen haben, Herr Naphta, und einverstanden sein mit seiner Unge-duld, ihn zu ergreifen … Ich bin ja Zivilist durch und durch, mein Vetter macht es mir öfters zum Vorwurf. Ich habe nicht mal gedient und bin ganz ausgesprochen ein Kind des Friedens und habe sogar schon manchmal gedacht, daß ich sehr gut auch Geistlicher hätte werden können, – fragen Sie meinen Vetter, ich habe verschiedentlich so was geäußert. Aber wenn ich von meinen persönlichen Neigungen absehe – und vielleicht brauch' ich, genau genommen, gar nicht so ganz davon abzuse-hen – , so habe ich eine Menge Verständnis und Neigung für den militärischen Stand. Es hat ja eine verteufelt ernsthafte Be-wandtnis damit, eine 'asketische', wenn Sie wollen – Sie waren vorhin so freundlich, den Ausdruck irgendwie zu gebrauchen – , und immer muß er damit rechnen, es mit dem Tode zu tun zu bekommen, – mit dem ja letzten Endes auch der geistliche Stand es zu tun hat, – womit denn sonst. Daher hat der Solda-tenstand die bienséance und die Rangordnung und den Gehor-sam und die spanische Ehre, wenn ich so sagen darf, und es ist ziemlich gleich, ob er einen steifen Uniformkragen trägt oder eine gestärkte Halskrause, es kommt auf dasselbe hinaus, auf das 'Asketische', wie Sie vorhin so hervorragend sich ausdrück-ten … Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, Ihnen meinen Gedankengang …"

"Doch, doch", sagte Naphta und warf einen Blick zu Settembrini hinüber, der seinen Stock drehte und den Himmel be-trachtete.

"Und darum meine ich", fuhr Hans Castorp fort, "daß die Neigungen meines Vetters Ziemßen Ihnen sympathisch sein müßten, nach allem, was Sie sagen. Ich denke da nicht an 'Thron und Altar' und solche Verbindungen, womit manche Leute, so schlechthin ordnungsliebende und einfach bloß wohl-gesinnte Leute, die Zusammengehörigkeit manchmal rechtferti-gen. Sondern ich denke daran, daß die Arbeit des Soldatenstan-des, das heißt der Dienst – in diesem Falle spricht man von Dienst – absolut nicht um geschäftlicher Vorteile willen ge-schieht und zur "ökonomischen Gesellschaftslehre', wie Sie sag-ten, gar keine Beziehungen hat, weshalb denn auch die Engländer nur wenig Soldaten haben, ein paar für Indien und ein paar zu Hause für die Parade …"

"Es ist zwecklos, daß Sie fortfahren, Ingenieur", unterbrach ihn Settembrini. "Die soldatische Existenz – ich sage das, ohne unseren Leutnant zu nahe treten zu wollen – ist geistig indiskutabel, denn sie ist rein formal, an und für sich ohne Inhalt, der Grundtypus des Soldaten ist der Landsknecht, der sich für diese oder auch jene Sache anwerben ließ, – kurzum, es gab den Soldaten der spanischen Gegenreformation, den Soldaten der Re-volutionsheere, den napoleonischen, den Garibaldis, es gibt den preußischen. Lassen Sie mich über den Soldaten reden, wenn ich weiß, wofür er sich schlägt!"

"Daß er sich schlägt", versetzte Naphta, "bleibt immerhin ei-ne greifbare Eigentümlichkeit seines Standes, lassen wir das gut sein. Es ist möglich, daß sie nicht hinreicht, diesen Stand in Ih-rem Sinne 'geistig diskutabel' zu machen, aber sie rückt ihn in eine Sphäre, worein bürgerlicher Lebensbejahung jeder Einblick verwehrt ist."

"Was Sie bürgerliche Lebensbejahung zu nennen belieben", entgegnete Herr Settembrini mit dem vorderen Teil der Lippen, während seine Mundwinkel unter dem geschwungenen Schnurrbart sich straff in die Breite zogen und sein Hals sich auf ganz eigentümliche Art schräg und ruckweise aus dem Kragen herausschraubte, "wird immer bereit gefunden werden, für die Ideen der Vernunft und der Sittlichkeit und für ihren rechtmä-ßigen Einfluß auf junge schwankende Seelen in jeder beliebi-gen Form einzutreten."

Ein Schweigen folgte. Die jungen Leute blickten betroffen vor sich hin. Nach einigen Schritten sagte Settembrini, der Kopf und Hals wieder in natürliche Stellung gebracht hatte:

"Sie dürfen sich nicht wundern, dieser Herr und ich, wir zan-ken uns oft, aber es geschieht in aller Freundschaft und auf Grund manchen Einverständnisses."

Das tat wohl. Es war ritterlich und human von Herrn Settembrini. Aber Joachim, der es ebenfalls gut meinte und das Gespräch harmlos fortzuführen gedachte, sagte trotzdem, als stünde er unter irgendeinem Druck und Zwang, und gleichsam gegen seinen Willen: "Zufällig sprachen wir vom Kriege, mein Vetter und ich, vorhin, als wir hinter Ihnen gingen."

"Das hörte ich", antwortete Naphta. "Ich fing das Wort auf und sah mich um. Politisieren Sie? Erörterten Sie die Weltlage?"

"Oh, nein", lachte Hans Castorp. "Wie sollten wir dazu wohl kommen! Für meinen Vetter hier wäre es von Berufs wegen ge-radezu unpassend, sich um Politik zu kümmern, und ich ver-zichte freiwillig darauf, verstehe gar nichts davon. Seit ich hier bin, habe ich noch nicht einmal eine Zeitung in der Hand ge-habt …"

Settembrini fand das, wie früher schon einmal, tadelnswert. Er zeigte sich sofort aufs beste unterrichtet über die großen Ver-hältnisse und beurteilte sie beifällig insofern, als die Dinge einen der Zivilisation günstigen Verlauf nähmen. Die europäische Gesamtatmosphäre sei von Friedensgedanken, von Abrüstungs-plänen erfüllt. Die demokratische Idee marschiere. Er erklärte, vertrauliche Informationen zu besitzen, dahingehend, das Jung-türkentum beende soeben seine Vorbereitungen zu grundstür-zenden Unternehmungen. Die Türkei als National – und Verfas-sungsstaat, – welch ein Triumph der Menschlichkeit!

"Liberalisierung des Islam", spottete Naphta. "Vorzüglich. Der aufgeklärte Fanatismus, – sehr gut. Übrigens geht das Sie an", wandte er sich an Joachim. "Wenn Abdul Hamid fällt, ist es mit Ihrem Einfluß in der Türkei zu Ende, und England wirft sich zum Protektor auf… Sie müssen die Verbindungen und Informationen unseres Settembrini durchaus ernst nehmen", sagte er zu beiden Vettern, und auch dies klang impertinent, da er sie für geneigt zu halten schien, Herrn Settembrini nicht ernst zu nehmen. "In national-revolutionären Dingen weiß er Bescheid. Bei ihm zu Hause unterhält man gute Beziehungen zum englischen Balkankomitee. Was wird aber aus den Abma-chungen von Reval, Lodovico, wenn Ihre Fortschrittstürken Glück haben? Eduard der Siebente wird den Russen die Öff-nung der Dardanellen nicht mehr zugestehen können, und wenn Österreich sich trotzdem zu einer aktiven Balkanpolitik aufrafft, so …"

"Mit Ihrer Katastrophenprophetie!" wehrte Settembrini ab. "Nikolaus liebt den Frieden. Man verdankt ihm die Konferenzen im Haag, die moralische Tatsachen ersten Ranges bleiben."

"Ei, Rußland mußte sich nach seinem kleinen Mißgeschick im Osten noch etwas Erholung gönnen!"

"Pfui, mein Herr. Sie sollten die Sehnsucht der Menschheit nach ihrer gesellschaftlichen Vervollkommnung nicht verhöh-nen. Das Volk, das solche Bestrebungen durchkreuzt, wird sich unzweifelhaft der moralischen Achtung aussetzen."

"Wozu wäre die Politik auch da, als einander Gelegenheit zu geben, sich moralisch zu kompromittieren!"

"Sie huldigen dem Pangermanismus?"

Naphta zuckte die Schultern, die nicht ganz gleichmäßig standen. Er war wohl eigentlich etwas schief, zu seiner sonstigen Häßlichkeit. Er verschmähte es, zu antworten. Settembrini urteilte:

"Jedenfalls ist es zynisch, was Sie da sagen. In den hochherzigen Anstrengungen der Demokratie, sich international durchzu-setzen, wollen Sie nichts erblicken, als politische List…"

"Sie verlangen wohl, daß ich Idealismus oder gar Religiosität darin erblicke? Es handelt sich um letzte, schwächliche Regun-gen des Restes von Selbsterhaltungsinstinkt, über den ein verur-teiltes Weltsystem noch verfügt. Die Katastrophe soll und muß kommen, sie kommt auf allen Wegen und auf alle Weise. Neh-men Sie die britische Staatskunst. Englands Bedürfnis, das indi-sche Glacis zu sichern, ist legitim. Aber die Folgen? Eduard weiß so gut wie Sie und ich, daß die Machthaber von Petersburg die mandschurische Scharte auswetzen müssen und die Ableitung der Revolution so notwendig brauchen wie das liebe Brot. Trotzdem lenkt er – er muß es wohl! – den russischen Ausdehnungsdrang nach Europa, weckt eingeschlummerte Riva-litäten zwischen Petersburg und Wien –"

"Ach, Wien! Sie sorgen sich um dieses Welthindernis, ver-mutlich, weil Sie in dem morschen Imperium, dessen Haupt es ist, die Mumie des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation erkennen!"

"Und Sie finde ich russophil, vermutlich aus humanistischer Sympathie mit dem Cäsaro-Papismus."

"Mein Herr, die Demokratie hat selbst vom Kreml mehr zu hoffen, als von der Hofburg, und es ist eine Schande für das Land Luthers und Gutenbergs –"

"Es ist außerdem wahrscheinlich eine Dummheit. Aber auch diese Dummheit ist ein Werkzeug der Fatalität –"

"Ach, gehen Sie mir mit der Fatalität! Die menschliche Ver-nunft braucht sich nur stärker zu wollen als die Fatalität, und sie ist es?"

"Gewollt wird immer nur das Schicksal. Das kapitalistische Europa will das seine."

"Man glaubt an das Kommen des Krieges, wenn man ihn nicht hinlänglich verabscheut!"

"Ihre Abscheu ist logisch abrupt, solange Sie ihn nicht beim Staate selbst beginnen lassen."

"Der nationale Staat ist das Prinzip des Diesseits, das Sie dem Teufel zuschreiben möchten. Machen Sie aber die Nationen frei und gleich, schützen Sie die – kleinen und schwachen vor Unter-drückung, schaffen Sie Gerechtigkeit, schaffen Sie nationale Grenzen …"

"Die Brennergrenze, ich weiß. Die Liquidation Österreichs. Wenn ich nur wüßte, wie Sie sie ohne Krieg zu bewerkstelligen gedenken!"

"Und ich wüßte wahrhaftig gern, wann jemals ich den nationalen Krieg verdammt haben soll."

"Ich höre doch wohl –"

"Nein, das muß ich Herrn Settembrini bestätigen", mischte sich Hans Castorp in den Disput, dem er im Gehen gefolgt war, indem er den jeweils Sprechenden mit schrägem Kopfe auf-merksam von der Seite betrachtet hatte. "Mein Vetter und ich haben ja schon manchmal den Vorzug gehabt, uns mit ihm über diese und ähnliche Dinge zu unterhalten, das heißt, natürlich lief es darauf hinaus, daß wir ihm zuhörten, wie er seine Mei-nungen entwickelte und alles klarstellte. Und da kann ich denn bestätigen, und auch mein Vetter hier wird sich daran erinnern, daß Herr Settembrini mehr als einmal mit großer Begeisterung von dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion und der Weltverbesserung sprach, das ja an sich kein so ganz friedliches Prinzip ist, sollte ich meinen, und daß diesem Prinzip noch gro-ße Anstrengungen bevorständen, ehe es überall gesiegt haben werde und die allgemeine glückliche Weltrepublik stattfinden könne. Das waren seine Worte, wenn sie auch natürlich viel pla-stischer und schriftstellerischer waren als meine, das versteht sich von selbst. Was ich aber ganz genau weiß und wörtlich be-halten habe, weil ich als ausgepichter Zivilist direkt etwas dar-über erschrak, das war, daß er sagte, dieser Tag werde, wenn nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlerschwingen kommen (über die Adlerschwingen erschrak ich, wie ich mich erinnere), und Wien müsse aufs Haupt geschlagen sein, wenn man das Glück in die Wege leiten wolle. Man kann also nicht sagen, daß Herr Settembrini den Krieg überhaupt verworfen hat. Habe ich recht, Herr Settembrini?"

"Ungefähr", sagte der Italiener kurz, indem er abgewandten Kopfes seinen Stock schwenkte.

"Schlimm", lächelte Naphta häßlich. "Da sind Sie von Ihrem eigenen Schüler kriegerischer Neigungen überführt. Assument pennas ut aquilae …"

"Voltaire selbst hat den Zivilisationskrieg bejaht und Fried-rich dem Zweiten den Krieg gegen die Türken empfohlen."

"Statt dessen verbündete er sich mit ihnen, he, he. Und dann die Weltrepublik! Ich unterlasse es, mich zu erkundigen, was aus dem Prinzip der Bewegung und der Rebellion wird, wenn das Glück und die Vereinigung hergestellt sind. In diesem Augen-blick würde die Rebellion zum Verbrechen …"

"Sie wissen sehr wohl, und auch diese jungen Herren wissen es, daß es sich um einen als unendlich gedachten Fortschritt der Menschheit handelt."

"Alle Bewegung ist aber kreisförmig", sagte Hans Castorp. "Im Raum und in der Zeit, das lehren die Gesetze von der Er-haltung der Masse und von der Periodizität. Mein Vetter und ich sprachen vorhin noch davon. Kann denn bei geschlossener Bewegung ohne Richtungsdauer von Fortschritt die Rede sein? Wenn ich abends so liege und den Zodiakus betrachte, das heißt: die Hälfte, die zu sehen ist, und an die alten weisen Völ-ker denke …"

"Sie sollten nicht grübeln und träumen, Ingenieur", unterbrach ihn Settembrini, "sondern sich entschlossen den Instink-ten Ihrer Jahre und Ihrer Rasse anvertrauen, die Sie zur Tätigkeit drängen müssen. Auch Ihre naturwissenschaftliche Bildung muß Sie der Fortschrittsidee verbinden. Sie sehen in ungemessenen Zeiträumen das Leben vom Infusor zum Menschen sich fort-und emporentwickeln, Sie können nicht zweifeln, daß dem Menschen noch unendliche Vervollkommnungsmöglichkeiten offen stehen. Versteifen Sie sich denn aber auf die Mathematik, so führen Sie Ihren Kreislauf von Vollkommenheit zu Voll-kommenheit und erquicken Sie sich an der Lehre unseres acht-zehnten Jahrhunderts, daß der Mensch ursprünglich gut, glück-lich und vollkommen war, daß nur die gesellschaftlichen Irrtü-mer ihn entstellt und verdorben haben, und daß er auf dem Wege kritischer Arbeit am Gesellschaftsbau wieder gut, glück-lich und vollkommen werden soll, werden wir –"

"Herr Settembrini versäumt, hinzuzufügen", fiel Naphta ein, "daß das Rousseausche Idyll eine vernünftlerische Verballhornung der kirchlichen Doktrin von der ehemaligen Staat – und Sündlosigkeit des Menschen ist, seiner ursprünglichen Gottes-unmittelbarkeit und Gotteskindschaft, zu der er zurückkehren soll. Die Wiederherstellung des Gottesstaates nach Auflösung aller irdischen Formen liegt aber dort, wo Erde und Himmel, Sinnliches und Übersinnliches sich berühren, das Heil ist trans-zendent, und was Ihre kapitalistische Weltrepublik anbelangt, lieber Doktor, so ist es recht sonderbar, Sie in diesem Zusam-menhang von 'Instinkt' reden zu hören. Das Instinktive ist durchaus auf Seiten des Nationalen, und Gott selbst hat den Menschen den natürlichen Instinkt eingepflanzt, der die Völker veranlaßt hat, sich in verschiedenen Staaten voneinander zu sondern. Der Krieg …"

"Der Krieg", rief Settembrini, "selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen müssen, wie Sie mir einräu-men werden, wenn Sie sich gewisser Ereignisse aus Ihrer Lieb-lingsepoche, ich meine: wenn Sie sich der Kreuzzüge erinnern! Diese Zivilisationskriege haben die Beziehungen der Völker im wirtschaftlichen und handelspolitischen Verkehr aufs glücklich-ste begünstigt und die abendländische Menschheit im Zeichen einer Idee vereinigt."

"Sie sind sehr duldsam gegen die Idee. Desto höflicher will ich Sie dahin berichtigen, daß die Kreuzzüge nebst der Ver-kehrsbelebung, die sie zeitigten, nichts weniger als international ausgleichend gewirkt haben, sondern im Gegenteil die Völker lehrten, sich voneinander zu unterscheiden, und die Ausbildung der nationalen Staatsidee kräftig förderten."

"Sehr zutreffend, soweit das Verhältnis der Völker zur Kleri-sei in Frage kommt. Ja! damals begann das Gefühl staatlich na-tionaler Ehre sich gegen hierarchische Anmaßungen zu festi-gen …"

"Und dabei ist, was Sie hierarchische Anmaßung nennen, nichts als die Idee menschlicher Vereinigung im Zeichen des Geistes!"

"Man kennt diesen Geist, und man bedankt sich."

"Es ist klar, daß Ihre nationale Manie den weltüberwindenden Kosmopolitismus der Kirche verabscheut. Wenn ich nur wüßte, wie Sie den Abscheu vor dem Kriege damit zu vereinigen gedenken. Ihr antikisierender Staatskult muß Sie zum Ver-fechter positiver Rechtsauffassung machen, und als solcher …"

"Sind wir beim Recht? Im Völkerrecht, mein Herr, bleibt der Gedanke des Naturrechtes und allmenschlicher Vernunft leben-dig …"

"Pah, Ihr Völkerrecht ist abermals nichts als eine Rousseausche Verballhornung des ius divinum, das weder mit Natur noch Vernunft etwas zu schaffen hat, sondern auf Offenbarung beruht…"

"Streiten wir uns nicht um Namen, Professor! Nennen Sie ungehindert ius divinum, was ich als Natur – und Völkerrecht verehre. Die Hauptsache ist, daß über den positiven Rechten der Nationalstaaten ein höher-gültiges, allgemeines sich erhebt und die Schlichtung strittiger Interessenfragen durch Schiedsgerichte ermöglicht."

"Durch Schiedsgerichte! Wenn ich das Wort höre! Durch ein bürgerliches Schiedsgericht, das über Fragen des Lebens ent-scheidet, Gottes Willen ermittelt und die Geschichte bestimmt! Gott, soviel von den Taubenfüßen. Und wo bleiben die Adler-schwingen?"

"Die bürgerliche Gesittung –"

"Ei, die bürgerliche Gesittung weiß nicht, was sie will! Da schreien sie nach Bekämpfung des Geburtenrückganges, fordern, daß die Kosten der Kinderaufzucht und der Berufsvorbereitung verbilligt werden. Und dabei erstickt man im Gedränge, und al-le Berufe sind so überfüllt, daß der Kampf um den Eßnapf an Schrecken alle Kriege der Vergangenheit in den Schatten stellt. Freie Plätze und Gartenstädte! Ertüchtigung der Rasse! Aber wozu Ertüchtigung, wenn die Zivilisation und der Fortschritt wollen, daß kein Krieg mehr sei? Der Krieg wäre das Mittel ge-gen alles und für alles. Für die Ertüchtigung und sogar gegen den Geburtenrückgang."

"Sie scherzen. Das ist nicht mehr ernst. Unser Gespräch löst sich auf und tut es im rechten Augenblick. Wir sind zur Stelle", sagte Settembrini und zeigte den Vettern das Häuschen, vor dessen Zaunpforte sie hielten, mit dem Stock. Es lag nahe dem Eingang von "Dorf" an der Straße, von der nur ein schmales Vorgärtchen es trennte, und war bescheiden. Wilder Wein schwang sich aus bloßliegenden Wurzeln um die Haustür und streckte einen gebogenen, an die Mauer geschmiegten Arm gegen das ebenerdige Fenster zur Rechten hin, das Schaufenster eines kleinen Kramladens. Das Erdgeschoß sei des Krämers, er-klärte Settembrini. Naphtas Logis befinde sich eine Treppe hoch in der Schneiderei, und er selbst domiziliere im Dach. Es sei ein friedliches Studio.

Mit überraschend hervorgekehrter Liebenswürdigkeit gab Naphta der Hoffnung Ausdruck, daß weitere Begegnungen aus dieser folgen möchten. "Besuchen Sie uns", sagte er. "Ich würde sagen: Besuchen Sie mich, wenn Dr. Settembrini hier nicht ältere Rechte auf Ihre Freundschaft hätte. Kommen Sie, wann Sie wollen, sobald Sie Lust zu einem kleinen Kolloquium haben. Ich schätze den Austausch mit der Jugend, bin auch vielleicht nicht ohne alle pädagogische Überlieferung … Wenn unser Meister vom Stuhl" (er deutete auf Settembrini) "alle pädagogische Aufgelegtheit und Berufung dem bürgerlichen Humanis-mus vorbehalten will, so muß man ihm widersprechen. Auf bald also!"

Settembrini machte Schwierigkeiten. Es bestünden solche, sagte er. Die Tage des Leutnants hier oben seien gezählt, und der Ingenieur werde seinen Eifer im Kurdienst verdoppeln wollen, um ihm sehr bald in die Ebene nachfolgen zu können.

Die jungen Leute stimmten beiden zu, dem einen nach dem andern. Sie hatten Naphtas Einladung mit Verbeugungen aufge-nommen und erkannten im nächsten Augenblick die Bedenken Settembrinis mit Kopf und Schultern als berechtigt an. So blieb alles offen.

"Wie hat er ihn genannt?" fragte Joachim, als sie die Weg-schleife zum "Berghof" emporstiegen …

"Ich habe 'Meister vom Stuhl' verstanden", sagte Hans Ca-storp, "und denke auch eben darüber nach. Es ist wohl irgend so ein Witz; sie haben ja sonderbare Namen füreinander. Settembrini nannte Naphta 'princeps scholasticorum', – auch nicht übel. Die Scholastiker, das waren ja wohl die Schriftgelehrten des Mittelalters, dogmatische Philosophen, wenn du willst. Vom Mittelalter war ja denn auch verschiedentlich die Rede, – wobei mir einfiel, wie Settembrini gleich am ersten Tage sagte, es mute manches mittelalterlich an bei uns hier oben: wir ka-men darauf durch Adriatica von Mylendonk, durch den Namen. – Wie hat er dir gefallen?"

"Der Kleine? Nicht gut. Er sagte manches, was mir gefiel. Schiedsgerichte sind natürlich eine Duckmäuserei. Aber er selbst hat mir wenig gefallen, und da kann einer noch so viel Gutes sagen, was habe ich davon, wenn er selbst ein zweifelhafter Kerl ist. Und zweifelhaft ist er, das kannst du nicht leugnen. Allein schon die Geschichte mit dem 'Orte der Beiwohnung' war entschieden bedenklich. Und dabei hat er ja eine Judenna-se, sieh ihn dir doch an! So miekerig von Figur sind auch immer nur die Semiten. Hast du denn ernstlich vor, den Mann zu be-suchen?"

"Selbstverständlich werden wir ihn besuchen!" erklärte Hans Castorp. "Die Miekerigkeit, – das ist nur das Militär, das da aus dir spricht. Aber die Chaldäer hatten auch solche Nasen und waren doch höllisch auf dem Posten, nicht bloß in den Ge-heimwissenschaften. Naphta hat auch was von Geheimwissenschaft, er interessiert mich nicht wenig. Ich will auch nicht be-haupten, daß ich heute schon klug aus ihm geworden bin, aber wenn wir öfter mit ihm zusammenkommen, so werden wir es vielleicht, und ich halte es gar nicht für ausgeschlossen, daß wir überhaupt klüger werden bei dieser Gelegenheit."

"Ach, Mensch, du wirst ja immer klüger hier oben, mit dei-ner Biologie und Botanik und deinen unhaltbaren Wendepunkten. Und mit der 'Zeit' hattest du es gleich am ersten Tage zu tun. Und dabei sind wir doch hier, um gesünder, und nicht um gescheiter zu werden, – gesünder und ganz gesund, damit sie uns endlich in Freiheit setzen und als geheilt ins Flachland ent-lassen können!"

"Auf den Bergen wohnt die Freiheit!" sang Hans Castorp leichtsinnig. "Sage mir erst mal, was Freiheit ist", fuhr er sprechend fort. "Naphta und Settembrini stritten vorhin ja auch dar-über und kamen zu keiner Einigung. "Freiheit ist das Gesetz der Menschenliebe!' sagt Settembrini, und das klingt nach seinem Vorfahren, dem Carbonaro. Aber so tapfer der Carbonaro war, und so tapfer unser Settembrini selber ist…"

"Ja, er wurde ungemütlich, als auf persönlichen Mut die Rede kam."

" … so glaube ich doch, daß er vor manchem Angst hat, wo-vor der kleine Naphta nicht Angst hat, verstehst du, und daß seine Freiheit und Tapferkeit ziemlich etepetete sind. Meinst du, daß er Mut genug hätte, de se perdre ou même de se laisser dé-périr?"

"Was fängst du an, französisch zu sprechen?"

"Nur so … Die Atmosphäre hier ist ja so international. Ich weiß nicht, wer mehr Gefallen daran finden müßte: Settembrini, von wegen der bürgerlichen Weltrepublik, oder Naphta mit seinem hierarchischen Kosmopolis. Ich habe scharf aufgepaßt, wie du siehst, aber klar ist die Sache mir nicht geworden, ich fand im Gegenteil, die Konfusion war groß, die herauskam bei ihren Reden."

"Das ist immer so. Das wirst du immer so finden, daß bloß Konfusion herauskommt beim Reden und Meinungen haben, Ich sage dir ja, es kommt überhaupt nicht drauf an, was für Meinungen einer hat, sondern darauf, ob einer ein rechter Kerl ist. Am besten ist, man hat gleich gar keine Meinung, sondern tut seinen Dienst."

"Ja, so kannst du sagen, als Landsknecht und rein formale Existenz, die du bist. Bei mir ist es was andres, ich bin Zivilist, ich bin gewissermaßen verantwortlich. Und mich regt es auf, solche Konfusion zu sehen, wie daß der eine die internationale Weltrepublik predigt und den Krieg grundsätzlich verabscheut, dabei aber so patriotisch ist, daß er partout die Brennergrenze verlangt und dafür einen Zivilisationskrieg führen will, – und daß der andere den Staat für Teufelswerk hält und von der all-gemeinen Vereinigung am Horizonte flötet, aber im nächsten Augenblick das Recht des natürlichen Instinktes verteidigt und sich über Friedenskonferenzen lustig macht. Unbedingt müssen wir hingehen, um klug daraus zu werden. Du sagst zwar, wir sollen hier nicht klüger werden, sondern gesünder. Aber das muß sich vereinigen lassen, Mann, und wenn du das nicht glaubst, dann treibst du Weltentzweiung, und so was zu treiben, ist immer ein großer Fehler, will ich dir mal bemerken."

Der Zauberberg. Volume 2

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