Читать книгу Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 5

Sechstes Kapitel
Jähzorn. Und noch etwas ganz Peinliches

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So kam der August, und glücklich war unter seinen ersten Tagen der Jahrestag von unseres Helden Ankunft bei uns hier oben vorübergeschlüpft. Nur gut, daß er vorüber war – er hatte dem jungen Hans Castorp etwas unangenehm vorgestanden. So war es die Regel. Der Tag der Ankunft war nicht beliebt, es wurde seiner unter den Voll – und Mehrjährigen nicht gedacht, und während doch sonst kein Vorwand zu Festivität und Becher-klang unbenutzt blieb, die allgemeinen und großen Betonungen im Jahresrhythmus und – pulslauf durch möglichst viele private und irreguläre vermehrt und Geburtstage, Generaluntersuchun-gen, bevorstehende wilde oder echte Abreisen und dergleichen Anlässe mehr mit Schmaus und Pfropfenknall im Restaurant be-gangen wurden – widmete man diesem Gedenktage nichts als Stillschweigen, ließ sich darüber hinweggleiten, vergaß auch I wohl wirklich, auf ihn zu achten und durfte vertrauen, daß die andern ihn überhaupt nicht so genau im Sinne hatten. Auf Glie-derung hielt man wohl; man beobachtete den Kalender, den Turnus, die äußere Wiederkehr. Aber die Zeit, die sich für den einzelnen mit dem Raum hier oben verband, die persönliche und individuelle Zeit also zu messen und zu zählen war Sache der Kurzfristigen und Anfänger; die Eingesessenen lobten sich in dieser Hinsicht das Ungemessene und Achtlos-Ewige, den Tag, der immer derselbe war, und einer setzte mit Zartgefühl beim anderen einen Wunsch voraus, den er selber hegte. Es hätte für ganz und gar ungeschickt und brutal gegolten, jemandem zu sagen, heut sei er drei Jahre hier, – das kam nicht vor. Frau Stöhr selbst, so weit es ihr sonst immer fehlen mochte, in diesem Punkt war sie taktfest und abgeschliffen, nie wäre ein sol-cher Verstoß ihr unterlaufen. Ihr Kranksein, der Fieberstand ih-res Körpers war mit großer Unbildung verbunden, gewiß. Noch kürzlich hatte sie bei Tische von der "Affektation" ihrer Lun-genspitzen gesprochen und, als das Gespräch auf historische Dinge gekommen war, erklärt, Geschichtszahlen seien nun ein-mal ihr "Ring des Polykrates", was ebenfalls eine gewisse Er-starrung der Umsitzenden hervorgerufen hatte. Aber daß sie et-wa im Februar den jungen Ziemßen an sein Jubiläum hätte erinnern sollen, wäre undenkbar gewesen, obgleich sie wahr-scheinlich daran gedacht hatte. Denn ihr unseliger Kopf war na-türlich voll unnützer Daten und Dinge, und sie liebte es, anderen nachzurechnen; aber die Sitte hielt sie im Zaum.

So denn auch an Hans Castorps Tage. Sie hatte ihm wohl beim Essen einmal bedeutlich zuzuzwinkern versucht, aber da er dem Zeichen mit leerer Miene begegnet war, hatte sie sich schleunigst zurückgezogen. Auch Joachim hatte gegen den Vet-ter geschwiegen, und doch war er des Datums wohl eingedenk gewesen, an dem er den Zu-Besuch-Kommenden von Station "Dorf" abgeholt hatte. Aber Joachim, zum Reden von Natur schon nicht sehr geneigt, bei weitem nicht so, wie Hans Castorp es wenigstens hier oben geworden, von Humanisten und Rabu-listen ihrer Bekanntschaft ganz zu schweigen, – Joachim hatte sich in letzter Zeit eine besondere und auffallende Schweigsam-keit angeeignet, nur Einsilbigkeiten kamen noch über seine Lip-pen, aber in seiner Miene arbeitete es. Es war klar, daß sich für ihn mit Station "Dorf" andere Vorstellungen verbanden als die des Abholens und der Ankunft… Er stand in regem Brief-wechsel mit dem Flachlande. Entschlüsse reiften in ihm. Vorbe-reitungen, die er traf, näherten sich ihrem Abschluß.

Der Juli war warm und heiter gewesen. Aber mit Anbruch des neuen Monats fiel schlechtes Wetter ein, trübe Nässe, Schneeregen, dann unzweideutiger Schneefall, und mit Ein-schaltung einzelner prangender Sommertage dauerte das an, über das Monatsende hin, in den September hinein. Anfangs hielten die Zimmer sich noch warm von der vorhergegangenen Sommerperiode; man hatte zehn Grad darin, das galt für behag-lich. Aber rasch wurde es kälter und kälter, und man war froh über den Schnee, der das Tal bedeckte, denn sein Anblick – nur dieser, der Tiefstand der Temperatur allein wäre ohne Folge ge-blieben bewog die Verwaltung, zu heizen, zuerst nur den Speisesaal, dann auch die Zimmer, und man konnte, wenn man, nach geleistetem Liegedienst aus seinen zwei Decken gewickelt, von der Loggia hereinkam, mit den feuchtstarren Händen die belebten Röhren betasten, deren trockener Hauch freilich das Brennen der Wangen verstärkte.

War das der Winter? Die Sinne konnten sich diesem Ein-druck nicht entziehen, und man klagte, man sei "um den Sommer betrogen", obgleich man, unterstützt von natürlichen und künstlichen Umständen, durch einen innerlich wie äußerlich verschwenderischen Zeitverbrauch sich selber um ihn betrogen hatte. Die Vernunft wollte wissen, daß noch schöne Herbsttage folgen würden; vielleicht sogar serienweise würden sie erschei-nen und in so warmer Pracht, daß ihnen mit dem Namen des Sommers nicht zuviel Ehre würde angetan werden, vorausge-setzt, daß man sich den schon flacheren Tageslauf der Sonne, ih-ren schon zeitigen Abschied aus dem Sinne schlug. Aber die Wirkung auf das Gemüt, die der Anblick der Winterlandschaft draußen hervorbrachte, war stärker als solche Tröstungen. Man stand an seiner geschlossenen Balkontür und starrte mit Ekel hinaus in das Gestöber, – Joachim war es, der so stand, und mit gepreßter Stimme sagte er: "Soll nun das wieder losgehen?" Hans Castorp, hinter ihm im Zimmer, erwiderte: "Das wäre etwas früh, es kann nicht endgültig sein, aber es gibt sich allerdings eine schauderhaft endgültige Miene. Wenn Winter in Dunkelheit, Schnee und Kälte und warmen Röhren besteht, dann ist wieder Winter, da gibt es nichts zu leugnen. Und wenn man bedenkt, daß ja eben erst Winter war und kaum die Schneeschmelze vorüber ist – jedenfalls scheint es uns so, nicht wahr, als ob doch gerade erst Frühling gewesen wäre, – dann kann einem momentweise schlecht werden, das gebe ich zu. Es ist gefährlich für die menschliche Lebenslust, – laß dir erläutern, wie ich das meine. Ich meine es so, daß die Welt normalerweise so eingerichtet ist, wie es den Bedürfnissen des Menschen entspricht und der Lebenslust zukömmlich ist, das muß man anerkennen. Ich will nicht so weit gehen, zu sagen, daß die Naturordnung, zum Beispiel also gleich mal die Größe der Erde, die Zeit, die sie zur Umdrehung um sich selbst und um die Sonne braucht, der Wechsel der Tages – und Jahreszeiten, der kosmische Rhythmus, wenn du willst, – nach unserem Bedürfnis bemessen ist, – das wäre wohl frech und einfältig, es wäre Teleologie, wie der Denker sagt. Aber die Sache ist einfach so, daß unser Bedürfnis und die allgemeinen, grundlegenden Naturtatsachen gottlob miteinander im Einklang stehen – gott-lob, sage ich, denn es ist wirklich ein Anlaß, Gott zu loben – , und wenn im Flachland der Sommer kommt oder der Winter, dann ist der vorige Sommer oder Winter genau so lange her, daß Sommer und Winter uns wieder neu und willkommen sind, und darauf beruht die Lebenslust. Bei uns hier oben nun aber ist diese Ordnung und dieser Einklang gestört, erstens weil es hier eigentlich gar keine richtigen Jahreszeiten gibt, wie du selbst mal bemerktest, sondern bloß Sommertage und Winterta-ge pêle-mêle durcheinander, und außerdem weil es überhaupt keine Zeit ist, was einem hier vergeht, so daß der neue Winter, wenn er kommt, gar nicht neu ist, sondern wieder der alte; und daraus erklärt sich das Mißvergnügen, mit dem du da durch die Scheibe guckst."

"Danke sehr", sagte Joachim. "Und nun, wo du es erklärt hast, da bist du, glaub' ich, so zufrieden, daß du unter anderm auch mit der Sache selbst zufrieden bist, obgleich sie doch … Nein!" sagte Joachim. "Schluß!" sagte er. "Es ist eine Schweinerei. Das ganze ist eine ungeheuere, ekelhafte Schweinerei, und wenn du für dein Teil … Ich …" Und er verließ raschen Schrittes das Zimmer, zog zornig die Tür hinter sich zu, und wenn nicht alles täuschte, so hatten Tränen in seinen schönen, sanften Augen gestanden.

Der andere blieb betreten zurück. Er hatte gewisse Entschlüsse des Vetters nicht sehr ernst genommen, solange dieser sich in lauten Ankündigungen ergangen hatte. Nun aber, da es nur noch schweigend in Joachims Miene arbeitete und er sich be-nahm wie eben, erschrak Hans Castorp, weil er begriff, daß dieser Militär der Mann war, zu Taten überzugehen, – erschrak bis zum Erblassen, und zwar für sie beide, für sich und ihn. Fort possible qu'il aille mourir, dachte er, und da das sicherlich eine Wissenschaft aus dritter Hand war, so mischte sich auch noch die Pein alten, nie gestillten Verdachtes hinein, während er gleichzeitig dachte: Ist es möglich, daß er mich allein hier oben läßt, – mich, der ich doch nur gekommen bin, ihn zu besu-chen?! um hinzuzufügen: das wäre doch toll und schrecklich, – es wäre dermaßen toll und schrecklich, daß ich fühle, wie ich ganz kalt im Gesicht werde und mein Herz sich regellos auf-führt, denn wenn ich allein hier oben zurückbleibe – und das tue ich, wenn er abreist; daß ich mit ihm fahre, ist platterdings ausgeschlossen – , dann ist es ja – aber nun steht mein Herz überhaupt still – dann ist es ja für immer und ewig, denn allein finde ich nie und nimmermehr den Weg ins Flachland zu-rück …

Soweit Hans Castorps schreckhafter Gedankengang. Noch am selben Nachmittag sollte er über den Lauf der Dinge Gewißheit erlangen: Joachim erklärte sich, die Würfel fielen, es kam zu Schlag und Entscheidung.

Nach dem Tee stiegen sie ins helle Souterrain hinab zur Mo-natsuntersuchung. Es war Anfang September. Beim Eintritt ins trocken durchhauchte Ordinationszimmer fanden sie Dr. Kro-kowski an seinem Schreibplatz, während der Hofrat, sehr blau im Gesicht, mit untergeschlagenen Armen an der Wand lehnte, in der einen Hand das Hörrohr, mit dem er sich gegen die Schulter klopfte. Er gähnte zur Decke empor. "Mahlzeit, Kinder!" sagte er matt und ließ auch fernerhin eine recht schlaffe Laune merken, Melancholie, allgemeinen Verzicht. Wahrschein-lich hatte er geraucht. Es lagen aber auch sachliche Ärgernisse vor, von denen die Vettern schon gehört hatten, Anstaltsinterna von sattsam bekannter Art: ein junges Mädchen, Ammy Nöl-ting mit Namen, welches, eingetreten zuerst im Herbst vorvori-gen Jahres und nach neun Monaten, im August, als gesund ent-lassen, sich vor Ablauf des September schon wieder eingefun-den hatte, weil sie sich zu Hause "nicht wohlgefühlt" habe, zum Februar abermals völlig geräuschlos befunden und dem Flach-lande zurückgegeben worden war, aber seit Mitte Juli schon wieder ihren Platz am Tische der Iltis einnahm, – diese Ammy war 1 Uhr nachts mit einem Leidenden namens Polypraxios, demselben Griechen, der beim Faschingsfest durch die Wohlge-stalt seiner Beine berechtigtes Aufsehen erregt hatte, einem jun-gen Chemiker, dessen Vater am Piräus Farbwerke besaß, in ihrem Zimmer ertappt worden, und zwar durch eine von Eifer-sucht verstörte Freundin, die auf demselben Wege in Ammys Zimmer gelangt war wie Polypraxios, nämlich über die Balkons, und, zerrissen von Schmerz und Wut über das Wahrgenommene, ein furchtbares Geschrei erhoben, alles in Bewegung gesetzt und die Sache an die große Glocke gehängt hatte. Behrens hatte allen dreien, dem Athener, der Nölting Und ihrer Freundin, die vor Leidenschaft der eigenen Ehre wenig geachtet hatte, den Laufpaß geben müssen und eben jetzt mit seinem Assistenten, bei dem übrigens Ammy sowohl wie die Verräterin in Privatbe-handlung gestanden hatten, die widrige Sache durchgesprochen. Auch während der Untersuchung der Vettern fuhr er noch fort, im Tone der Schwermut und der Resignation sich darüber aus-zulassen, denn er war ein so fertiger Künstler der Auskultation, daß er zugleich eines Menschen Inneres belauschen, von etwas anderem reden und dem Assistenten das Erhorchte diktieren konnte.

"Ja, ja, Gentlemen, die verfluchte libido!" sagte er. "Sie ha-ben natürlich noch Ihr Vergnügen an der Chose, Ihnen kann's recht sein. – Vesikulär. – Aber so ein Anstaltschef, der hat davon die Neese plein, das können Sie mir – Dämpfung – das können Sie mir glauben. Kann ich dafür, daß die Phthise nun mal mit be-sonderer Konkupiszenz verbunden ist – leichte Rauhigkeit? Ich habe es nicht so eingerichtet, aber eh' man sich's versieht, steht man da wie ein Hüttchenbesitzer, – verkürzt hier unter der lin-ken Achsel. Wir haben die Analyse, wir haben die Aussprache, – ja Mahlzeit! Je mehr die Rasselbande sich ausspricht, desto lü-sterner wird sie. Ich predige die Mathematik. – Besser hier, das Geräusch ist weg. – Die Beschäftigung mit der Mathematik, sage ich, ist das beste Mittel gegen die Kupidität. Staatsanwalt Pa-ravant, der stark angefochten war, hat sich drauf geworfen, er hat es jetzt mit der Quadratur des Kreises und spürt große Er-leichterung. Aber die meisten sind ja zu dumm und zu faul da-zu, daß Gott erbarm'. – Vesikulär. – Sehen Sie, ich weiß ganz gut, daß junges Volk hier gar nicht ganz unschwer verlumpt und verkommt, und früher habe ich manchmal einzuschreiten ver-sucht gegen die Debauchen. Aber dann ist es mir passiert, daß irgendein Bruder oder Bräutigam mich ins Gesicht hinein ge-fragt hat, was es mich eigentlich angehe. Seitdem bin ich nur noch Arzt – schwaches Rasseln rechts oben."

Er war fertig mit Joachim, steckte sein Hörrohr in die Kitteltasche und rieb sich mit der riesigen Linken die beiden Augen, wie er zu tun pflegte, wenn er "abfiel" und melancholisch War. Halb mechanisch und zwischendurch gähnend vor Mißlaune sagte er sein Sprüchlein her:

"Na, Ziemßen, nur immer munter. Ist ja noch immer nicht alles genau so, wie es im Physiologiebuche steht, hapert noch da und da, und mit Gaffky haben Sie Ihre Angelegenheiten auch noch nicht restlos bereinigt, sind sogar in der Skala gegen neu-lich um eine Nummer aufgerückt, – sechs ist es diesmal, aber darum nur keinen Weltschmerz geblasen. Als Sie herkamen, waren Sie kränker, das kann ich Ihnen schriftlich geben, und wenn Sie noch fünf, sechs Monate – wissen Sie, daß man früher 'mânôt' sagte und nicht 'Monat'? War eigentlich viel volltöni-ger. Ich habe mir vorgenommen, nur noch 'Manot' zu sagen –"

"Herr Hofrat", setzte Joachim an … Er stand, mit bloßem Oberkörper, in geschlossener Haltung, Brust heraus, die Absätze zusammengenommen, und war so fleckig im Gesicht wie da-mals, als Hans Castorp bei bestimmter Gelegenheit erstmals be-merkt hatte, daß dies die Art des tief Gebräunten sei, blaß zu werden.

"Wenn Sie", redete Behrens über seinen Anlauf hin, "noch rund ein halbes Jährchen hier stramm Gamaschendienst tun, dann sind Sie ein gemachter Mann, dann können Sie Konstantinopel erobern, dann können Sie vor lauter Markigkeit Oberbe-fehlshaber in den Marken werden –"

Wer weiß, was er in seiner Verdüsterung noch alles gekohlt haben würde, wenn Joachims unbeirrte Haltung, seine unver-kennbare Gewilltheit, zu sprechen, und zwar mutig zu sprechen, ihn nicht aus dem Konzept gebracht hätte.

"Herr Hofrat", sagte der junge Mann, "ich wollte gehorsamst melden, daß ich mich entschlossen habe, zu reisen."

"Nanu? Wollen Sie Reisender werden? Ich dachte, Sie woll-ten später mal, als gesunder Mensch, zum Militär?"

"Nein, ich muß jetzt abreisen, Herr Hofrat, in acht Tagen."

"Sagen Sie mal, hör' ich recht? Sie werfen die Flinte hin, Sie wollen durchbrennen? Wissen Sie, daß das Desertion ist?"

"Nein, das ist nicht meine Auffassung, Herr Hofrat. Ich muß nun zum Regiment."

"Obgleich ich Ihnen sage, daß ich Sie in einem halben Jahr bestimmt entlassen kann, daß ich Sie aber vor einem halben Jahr nicht entlassen kann?"

Joachims Haltung wurde immer dienstlicher. Er nahm den Magen herein und sagte kurz und gepreßt: "Ich bin über andert-halb Jahre hier, Herr Hofrat. Ich kann nicht länger warten. Herr Hofrat haben ursprünglich gesagt: ein Vierteljahr. Dann ist meine Kur immer wieder viertel – und halbjahrsweise verlängert worden, und ich bin immer noch nicht gesund."

"Ist das mein Fehler?"

"Nein, Herr Hofrat. Aber ich kann nicht länger warten. Wenn ich nicht ganz den Anschluß verpassen will, so kann ich meine richtige Genesung hier oben nicht abwarten. Ich muß jetzt hinunter. Ich brauche noch etwas Zeit für meine Equipie-rung und andere Vorbereitungen."

"Sie handeln im Einverständnis mit Ihrer Familie?"

"Meine Mutter ist einverstanden. Es ist alles abgemacht. Ich trete ersten Oktober als Fahnenjunker bei den Sechsundsiebzigern ein."

"Auf jede Gefahr?" fragte Behrens und sah ihn aus blutunterlaufenen Augen an …

"Zu Befehl, Herr Hofrat", antwortete Joachim mit zuckenden Lippen.

"Na, dann is gut, Ziemßen." Der Hofrat wechselte die Mie-ne, gab nach in seiner Haltung und ließ in jeder Weise locker. "Is gut, Ziemßen. Rühren Sie! Reisen Sie mit Gott. Ich sehe, Sie wissen, was Sie wollen, Sie nehmen die Sache auf sich, und so-viel stimmt, daß es Ihre Sache ist, nicht meine, von dem Augen-blick an, wo Sie sie auf sich nehmen. Selbst ist der Mann. Sie reisen ohne Garantie, ich stehe für nichts. Aber bewahre, es kann ganz gut gehen. Ist ja ein luftiger Beruf, den Sie ergreifen. Kann durchaus sein, daß es Ihnen bekommt, und daß Sie sich herausbeißen."

"Jawohl, Herr Hofrat."

"Na, und Sie, junger Mann aus dem Zivilpublikum? Sie wollen wohl mit?"

Das war Hans Castorp, der antworten sollte. Er stand da, ebenso bleich wie vor Jahresfrist bei jener Untersuchung, die seine Aufnahme herbeigeführt hatte, stand auf demselben Fleck wie damals, und wieder war deutlich das Pulsen seines Herzens gegen die Rippen zu sehen. Er sagte:

"Ich möchte es von Ihrem Votum abhängig machen, Herr Hofrat."

"Meinem Votum. Schön!" Und er zog ihn am Arme an sich, horchte und klopfte. Er diktierte nicht. Es ging ziemlich schnell. Als er fertig war, sagte er:

"Sie können reisen."

Elans Castorp stotterte:

"Das heißt … wieso? Bin ich denn gesund?"

"Ja, Sie sind gesund. Die Stelle links oben ist nicht mehr der Rede wert. Ihre Temperatur paßt nicht zu der Stelle. Woher sie kommt, kann ich Ihnen nicht sagen. Ich nehme an, daß sie wei-ter nichts zu bedeuten hat. Meinetwegen können Sie reisen."

"Aber … Herr Hofrat … Das ist vielleicht im Augenblick nicht Ihr voller Ernst?"

"Nicht mein Ernst? Wieso denn? Was denken Sie denn? Was denken Sie überhaupt so beiläufig von mir, möchte ich wissen? Wofür halten Sie mich? Für einen Hüttchenbesitzer?!"

Es war Jähzorn. Die Bläue in des Hofrats Gesicht hatte sich ins Veilchenfarbene vertieft durch lodernden Zudrang, die ein-seitige Schürzung seiner Lippe mit dem Schnurrbärtchen sich heftig verstärkt, so daß die seitlichen Oberzähne sichtbar wur-den, er schob schon den Kopf vor, wie ein Stier, seine Augen quollen tränend und blutig.

"Das verbitte ich mir!" schrie er. "Ich bin erstens überhaupt kein Besitzer! Ich bin Angestellter hier! Ich bin Arzt! Ich bin nur Arzt, verstehen Sie mich?! Ich bin kein Kuppelonkel! Ich bin kein Signor Amoroso auf dem Toledo im schönen Neapel, verstehen Sie mich wohl?! Ich bin ein Diener der leidenden Menschheit! Und sollten Sie sich eine andere Auffassung gebil-det haben von meiner Person, dann können Sie beide zum Kuk-kuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde, ganz nach belie-biger Auswahl! Glückliche Reise!"

Mit langen und breiten Schritten ging er zur Tür hinaus, durch die Tür, die ins Vorderzimmer des Durchleuchtungsraumes führte, und ließ sie hinter sich zukrachen.

Rat suchend blickten die Vettern auf Dr. Krokowski, der sich jedoch in seine Papiere vertieft und vergraben zeigte. Sie spute-ten sich, in ihre Kleider zu kommen. Auf der Treppe sagte Hans Castorp:

"Das war ja schrecklich. Hast du ihn schon mal so gesehen?"

"Nein, so noch nicht. Das sind so Vorgesetzten-Anfälle. Das einzig Richtige ist, daß man sie in einwandfreier Haltung über sich ergehen läßt. Er war ja natürlich gereizt durch die Ge-schichte mit Polypraxios und der Nölting. Aber hast du gese-hen", fuhr Joachim fort, und man merkte, wie die Freude dar-über, daß er seine Sache durchgefochten, in ihm aufstieg und ihm die Brust beengte, "hast du gesehen, wie er klein beigab und kapitulierte, als er einsah, daß es mein Ernst war? Man muß nur Schneid zeigen, sich nur nicht zudecken lassen. Nun habe ich sozusagen Erlaubnis, – er selbst hat gesagt, daß ich mich wahrscheinlich herausbeißen werde, – und über acht Tage rei-sen … in drei Wochen bin ich beim Regiment", verbesserte er sich, indem er Hans Castorp aus dem Spiele ließ und seine freu-debebende Aussage auf die eigene Person beschränkte.

Hans Castorp schwieg. Er sagte nichts über Joachims "Er-laubnis", noch über seine eigene, von der ja allenfalls auch zu reden gewesen wäre. Er machte Toilette zur Liegekur, steckte das Thermometer in den Mund, schlug mit kurzen und sicheren Griffen, mit voll ausgebildeter Kunst, jener geheiligten Praktik gemäß, von der im Flachlande niemand eine Ahnung hatte, die beiden Kamelhaardecken um sich und lag dann still, als eben-mäßige Walze, auf seinem vorzüglichen Liegestuhl in der kalten Feuchte des Frühherbstnachmittags.

Die Regenwolken hingen tief, die Phantasiefahne drunten war eingezogen, Schneereste lagen auf den nassen Zweigen der Edeltanne. Aus der unteren Liegehalle, von wo vor Jahr und Tag zuerst Herrn Albins Stimme an sein Ohr geschlagen, drang leises Gespräch zu dem Diensttuenden herauf, dessen Finger und Angesicht sich in Kürze naßkalt versteiften. Er war es ge-wohnt und wußte der hiesigen, ihm längst zur einzig denkbar gewordenen Lebenshaltung Dank für die Gunst, in Geborgen-heit liegen und alles bedenken zu dürfen.

Es war entschieden, Joachim würde reisen. Rhadamanth hatte ihn entlassen, – nicht rite, nicht als gesund, aber mit halber Bil-ligung entlassen eben doch, auf Grund und in Anerkennung seiner Standhaftigkeit. Er würde hinunterfahren, mit der Schmalspurbahn in die Tiefe nach Landquart, nach Romanshorn, dann über den weiten, abgründigen See, über den im Gedichte der Reiter ritt, und durch ganz Deutschland nach Hause. Er würde dort leben, in der Welt des Flachlandes, unter lauter Menschen, die keine Ahnung hatten, wie man leben mußte, die nichts wußten vom Thermometer, von der Kunst des Sichein-wickeins, vom Pelzsack, vom dreimaligen Lustwandel, von … es war schwer zu sagen, schwer aufzuzählen, wovon alles sie drunten nichts wußten, aber die Vorstellung, daß Joachim, nachdem er länger als anderthalb Jahre hier oben verbracht, un-ter den Unwissenden leben sollte, – diese Vorstellung, die nur Joachim betraf, und nur ganz von fern und versuchsweise auch ihn, Hans Castorp, – verwirrte ihn so, daß er die Augen schloß und eine abwehrende Handbewegung machte. "Unmöglich, unmöglich", murmelte er.

Da es denn aber unmöglich war, so würde er also allein und ohne Joachim hier oben weiter leben? Ja. Wie lange? Bis Beh-rens ihn als geheilt entließ, und zwar im Ernst, nicht so wie heute. Aber erstens war das ein Zeitpunkt, zu dessen Bestimmung man nur, wie Joachim einst bei irgendeiner Gelegenheit, in die Luft hinein die Gebärde des Unabsehbaren machen konnte, und zweitens: würde das Unmögliche dann möglicher geworden sein? Im Gegenteil eher. Und soviel war loyalerweise zuzugeben, daß eine Hand ihm geboten war, jetzt, wo das Unmögliche vielleicht noch nicht ganz so unmöglich war, wie es später sein würde, – eine Stütze und Führung für ihn, durch Joachims wilde Abreise, auf dem Wege ins Flachland, den er von sich aus in Ewigkeit nie zurückfinden würde. Wie würde humanistische Pädagogik ihn mahnen, die Hand zu ergreifen und die Führung anzunehmen, wenn die humanistische Pädagogik von der Gelegenheit erfuhr! Aber Herr Settembrini war nur ein Vertreter – von Dingen und Mächten, die hörenswert wa-ren, aber nicht allein, nicht unbedingt; und auch mit Joachim stand es so. Er war Militär, jawohl. Er reiste ab – beinahe in dem Augenblick, wo die hochbrüstige Marusja zurückkehren sollte (am ersten Oktober kehrte sie bekanntlich zurück), wäh-rend ihm, dem zivilistischen Hans Castorp, die Abreise nament-lich und abgekürzt gesprochen darum unmöglich schien, weil er auf Clawdia Chauchat warten mußte, von deren Rückkehr bei weitem noch nichts verlautete. "Das ist nicht meine Auffas-sung", hatte Joachim gesagt, als Rhadamanth ihm von Desertion gesprochen hatte, was zweifellos in Hinsicht auf Joachim nur Kohl und Geschwafel gewesen war von des verdüsterten Hof-rats Seite. Aber für ihn, den Zivilisten, lagen die Dinge denn doch wohl anders. Für ihn (ja, ganz ohne Zweifel, so war es! Um diesen entscheidenden Gedanken aus seinem Gefühl em-porzuarbeiten, hatte er sich heute hier ins Naßkalte gelegt) – für ihn wäre es wirklich Desertion gewesen, die Gelegenheit zu ergreifen und wilde oder halbwilde Abreise ins Flachland zu hal-ten, Desertion von ausgebreiteten Verantwortlichkeiten, die ihm aus der Anschauung des Hochgebildes, genannt Homo Dei, hier oben erwachsen, Verrat an schweren und erhitzenden, ja seine natürlichen Kräfte übersteigenden, doch abenteuerlich be-glückenden Regierungspflichten, denen er hier in der Loge und am blau blühenden Orte oblag.

Er riß das Thermometer aus dem Munde, so heftig, wie vor-her nur einmal: nach erster Benutzung, nachdem die Oberin ihm eben das zierliche Werkzeug verkauft, und blickte mit ebensolcher Begierde wie damals darauf nieder. Merkurius war kräftig emporgewandert, er zeigte siebenunddreißigacht, fast – neun.

Hans Castorp warf die Decken von sich, sprang auf und tat einen schnellen Gang ins Zimmer, zur Korridortür und zurück. Dann, wieder in horizontaler Lage, rief er leise Joachim an und fragte nach dessen Kurve.

"Ich messe nicht mehr", antwortete Joachim.

"Na, ich habe Tempus", sagte Hans Castorp, das Wort in Nachfolge Frau Stöhrs nach Analogie von "Schampus" behandelnd; worauf Joachim hinter der Glaswand sich schweigend verhielt.

Auch später sagte er nichts an diesem Tag und den folgenden, forschte mit Worten nicht nach des Vetters Plänen und Ent-schlüssen, die sich ganz von selbst, bei knapp gesetzter Frist, of-fenbaren mußten: durch Handlungen oder das Unterlassen von Handlungen, und das taten sie, nämlich durch letzteres. Er schien es mit dem Quietismus zu halten, der hatte wissen wol-len, daß Handeln Gott beleidigen heiße, der es allein tun wolle. Jedenfalls hatte Hans Castorps Aktivität in diesen Tagen sich auf einen Besuch bei Behrens beschränkt, eine Rücksprache, von der Joachim wußte, und deren Verlauf und Ergebnis er sich an fünf Fingern ausrechnen konnte. Sein Vetter hatte erklärt, er erlaube sich, auf des Hofrats frühere vielfältige Ermahnungen, seinen Fall hier gründlich auszuheilen, damit er niemals wiederkom-men müsse, mehr Gewicht zu legen, als auf das rasche Wort einer unwilligen Minute; er habe 37,8, er könne sich nicht als rite entlassen fühlen, und wenn des Hofrats Äußerung von neulich nicht etwa als Relegation zu verstehen gewesen sei, zu welcher Maßregel Anlaß gegeben zu haben er, Sprecher, sich nicht be-wußt sei, so habe er, nach ruhiger Überlegung und in bewußtem Gegensatz zu Joachim Ziemßen, beschlossen, noch hier zu bleiben und seine völlige Entgiftung abzuwarten. Worauf der Hofrat ziemlich wörtlich erwidert hatte: "Bon und schön!" und "Nichts für ungut!" und: das heiße er wie ein vernünftiger Kerl reden, und: er habe es doch gleich gesehen, daß Hans Castorp mehr Talent zum Patienten habe, als dieser Durchgänger und Haudegen da. Und so fort.

Dies also war, nach Joachims annähernd genauer Kalkulation, der Hergang des Gespräches gewesen, und so sagte er nichts und stellte eben nur schweigend fest, daß Hans Castorp sich seinen die Abreise vorbereitenden Schritten nicht anschloß. Wieviel hatte aber auch der gute Joachim mit sich selber zu tun! Er konnte sich wirklich um Schicksal und Verbleib des Vetters nicht weiter kümmern. Ein Sturm wogte in seiner Brust, – man kann es sich denken. Nur gut, vielleicht, daß er sich nicht mehr maß, sondern sein Instrument, angeblich, indem er es hatte fallen lassen, zerbrochen hatte: Messungen hätten beirrende Er-gebnisse zeitigen mögen – , so furchtbar aufgeregt, bald dunkel glühend, bald bleich vor Freude und Spannung, wie Joachim war. Er konnte nicht mehr liegen; den ganzen Tag ging er in seinem Zimmer auf und ab, wie Hans Castorp hörte: zu all den Stunden, viermal am Tage, in welchen auf "Berghof" die Hori-zontale herrschte. Anderthalb Jahre! Und nun hinunter ins Flachland, nach Hause, nun wirklich zum Regiment, wenn auch nur mit halber Erlaubnis! Das war keine Kleinigkeit, in keinem Sinne, Hans Castorp fühlte es dem ruhelos wandernden Vetter nach. Achtzehn Monate, den vollen Jahreszirkel und dann die Hälfte noch einmal durchlaufen hier oben, tief eingelebt; eingefahren in dieses Ordnungsgeleis, diesen unverbrüchlichen Le-bensgang, den er in siebenmal siebenzig Tagen zu allen Gezei-ten erprobt, – und nun nach Hause in die Fremde, zu den Un-wissenden! Welche Akklimatisationsschwierigkeiten mochten da drohen? Und durfte man sich wundern, wenn Joachims gro-ße Aufregung nicht nur aus Freude bestand, sondern auch Ban-gigkeit, Weh des Abschieds vom durch und durch Gewohnten ihn durch sein Zimmer trieb? – Von Marusja hier ganz zu schweigen.

Aber die Freude überwog. Herz und Mund gingen dem gu-ten Joachim über davon; er sprach von sich, er ließ des Vetters Zukunft auf sich beruhen. Er sprach davon, wie neu und er-frischt alles sein werde, das Leben, er selbst, die Zeit – jeder Tag, jede Stunde. Solide Zeit werde er wieder haben, langsam gewichtige Jugendjahre. Er sprach von seiner Mutter, Hans Ca-storps Stieftante Ziemßen, die ebenso sanfte, schwarze Augen hatte, wie Joachim, und die dieser all die Bergzeit her nicht gesehen, da sie, hingehalten von Monat zu Monat, von Halbjahr zu Halbjahr gleich ihm, zu einem Besuche des Sohnes sich nie entschlossen hatte. Er sprach mit begeistertem Lächeln vom Fahneneid, den er nun baldigst ablegen würde – : in Gegenwart der Fahne wurde er unter feierlichen Umständen geleistet, ihr selbst, der Standarte wurde er zugeschworen. "Nanu?" fragte Hans Castorp. "Ernstlich? Der Stange? Dem Fetzen Tuch?" – Ja, allerdings; und bei der Artillerie dem Geschütz, symbolischer-weise. – Das seien ja schwärmerische Sitten, meinte der Zivilist, empfindsamfanatische, könne man sagen; wozu Joachim stolz und glücklich mit dem Kopf nickte.

Er ging auf in Vorbereitungen, er beglich seine Schlußnota auf der Verwaltung, begann schon Tage vor dem selbstgesetzten Termin mit dem Kofferpacken. Sommer – und Winterzeug pack-te er ein und ließ den Pelzsack nebst den Kamelhaardecken vom Hausdiener in Sackleinen nähen: vielleicht, daß er sie im Ma-növer einmal gebrauchen konnte. Er fing an, Lebewohl zu sagen. Er machte Abschiedsvisite bei Naphta und Settembrini – allein, denn sein Vetter schloß sich nicht an bei diesem Gange und fragte auch nicht, was Settembrini zu Joachims bevorste-hender Abreise und Hans Castorps bevorstehender Nicht-Abreise gemeint und geäußert: ob er nun "Szieh, szieh" oder "Szo, szo" gesagt hatte, oder beides, oder "Poveretto", das mußte ihm gleichgültig bleiben.

Dann kam der Vorabend der Abreise, wo Joachim alles zum letztenmal absolvierte, jede Mahlzeit, jede Liegekur, jeden Lust-wandel, und von den Ärzten, der Oberin Urlaub nahm. Und es tagte der Morgen selbst: heißäugig und mit kalten Händen kam Joachim zum Frühstück, denn er hatte die ganze Nacht nicht ge-schlafen, nahm auch kaum einen Bissen zu sich und schnellte, als die Zwergin meldete, das Gepäck sei aufgeschnallt, hastig vom Stuhl, um von den Tischgenossen zu scheiden. Frau Stöhr vergoß Tränen, die leicht fließenden, salzlosen Tränen der Un-gebildeten, beim Lebewohl und zeigte gleich darauf hinter Joachims Rücken der Lehrerin mit Kopfschütteln und gespreizt hin und her gedrehter Hand eine faule Miene voll überaus or-dinärer Zweifelsucht in Hinsicht auf Joachims Befugnis zur Ab-reise und auf sein Wohlergehen. Hans Castorp sah es, indem er im Stehen seine Tasse austrank, um dem Vetter auf dem Fuß zu folgen. Noch gab es Trinkgelder zu reichen, den amtlichen Ab-schiedsgruß eines Gesandten der Verwaltung im Vestibül zu er-widern. Wie immer standen Patienten bereit, der Abfahrt zuzu-sehen: Frau Iltis mit dem "Sterilett", die elfenbeinfarbene Levi, der ausschweifende Popow mit seiner Braut. Sie winkten mit Tüchern, während der Wagen, am Hinterrad gebremst, die An-fahrt hinabschurrte. Joachim hatte Rosen erhalten. Er trug einen Hut auf dem Kopf Hans Castorp nicht.

Der Morgen war prächtig, der erste sonnige nach langer Trü-be. Das Schiahorn, die Grünen Türme, die Kuppe des Dorfber-ges standen unveränderlich wahrzeichenhaft vor der Bläue, und Joachims Augen ruhten darauf. Fast schade, meinte Hans Castorp, daß gerade zur Abreise so schönes Wetter geworden. Es läge Bosheit darin, und ein recht unwirtlicher Schlußeindruck erleichtere jede Trennung. Worauf Joachim: der Erleichterung bedürfe er nicht, und das sei vorzügliches Ausbildungswetter, er könne es drunten wohl brauchen. Sonst sprachen sie wenig. Wie alles lag für jeden von beiden und zwischen ihnen, gab es frei-lich nichts Rechtes zu sagen. Auch hatten sie vor sich den Hin-kenden auf dem Bock neben dem Kutscher.

Hochsitzend, gestoßen auf den harten Kissen des Kabrioletts, hatten sie den Wasserlauf, das schmale Geleise zurückgelassen, fuhren sie hin auf der unregelmäßig bebauten, der Eisenbahn gleichlaufenden Straße und hielten auf steinigem Platz vorm Bahnhofsgebäude von "Dorf", das nicht viel mehr als ein Schuppen war. Hans Castorp erkannte alles mit Schrecken wie-der. Seit seiner Ankunft vor dreizehn Monaten, bei einfallender Dämmerung, hatte er die Station nicht wieder gesehen. "Hier bin ich ja angekommen", sagte er überflüssigerweise, und Joachim antwortete nur: "Tja, das bist du" und entlohnte den Kutscher.

Der rührige Hinkende besorgte alles, den Fahrschein, das Gepäck: Sie standen beieinander auf dem Perron, am Miniaturzuge, neben dem kleinen, grau gepolsterten Wagenabteil, worin Joachim mit Mantel, Plaidrolle und Rosen einen Platz belegt hatte. "Na, dann schwöre du nur deinen schwärmerischen Eid!" sagte Hans Castorp, und Joachim erwiderte: "Wird gemacht." Was noch? Letzte Grüße trugen sie einander auf, Grüße an die dort unten, an die hier oben.

Dann zeichnete Hans Castorp nur noch mit seinem Stock auf dem Asphalt. Als zum Einsteigen gerufen wurde, fuhr er auf, sah Joachim an und dieser ihn. Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lächelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. "Hans!" sagte er – allmächtiger Gott! hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! Nicht mit "Du" oder "Mensch", wie sie es ihrer Lebtag gehalten hatten, sondern aller Sittensprödigkeit zum Trotz und peinlichst überschwenglicher Weise mit Vornamen! "Hans" sagte er und drückte mit dringli-cher Angst dem Vetter die Hand, während dieser bemerken mußte, daß dem Übernächtigten, Reisefiebrigen, Erschütterten das Genick zitterte, wie ihm beim "Regieren" –"Hans", sagte er inständig, "komm bald nach!" Dann schwang er sich aufs Tritt-brett. Die Tür schlug zu, es pfiff, die Wagen stießen aneinander, die kleine Lokomotive zog an, der Zug entglitt. Der Reisende winkte durchs Fenster mit dem Hut, der Zurückbleibende mit der Hand. Zerwühlten Herzens stand er noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zurück, den Joachim ihn vor Jahr und Tag geführt.

Der Zauberberg. Volume 2

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