Читать книгу Der Zauberberg. Volume 2 - Томас Манн, Thomas Mann - Страница 4
Sechstes Kapitel
Vom Gottesstaat und von übler Erlosung
ОглавлениеHans Castorp bestimmte in seiner Loge ein Pflanzengewächs, das jetzt, da der astronomische Sommer begonnen hatte und die Tage kürzer zu werden begannen, an vielen Stellen wucherte: die Akelei oder Aquilegia, eine Ranunkulazeenart, die stauden-artig wuchs, hochgestielt, mit blauen und veilchenfarbnen, auch rotbraunen Blüten und krautartigen Blättern von geräumiger Fläche. Die Pflanze wuchs da und dort, massenweis aber na-mentlich in dem stillen Grunde, wo er sie vor nun bald einem Jahre zuerst gesehen: der abgeschiedenen, wildwasserdurch-rauschten Waldschlucht mit Steg und Ruhebank, wo sein voreiligfreizügiger und unbekömmlicher Spaziergang von damals geendigt hatte, und die er nun manchmal wieder besuchte.
Es war, wenn man es weniger unternehmend anfing, als er damals getan, nicht gar so weit dorthin. Stieg man vom Ziel der Schlittlrennen in "Dorf" ein wenig die Lehne hinauf, so war der malerische Ort auf dem Waldwege, dessen Holzbrücken die von der Schatzalp kommende Bobbahn überkreuzten, ohne Umwege, Operngesang und Erschöpfungspausen in zwanzig Minuten zu erreichen, und wenn Joachim durch dienstliche Pflichten, durch Untersuchung, Innenphotographie, Blutprobe, Injektion oder Gewichtsfeststellung ans Haus gefesselt war, so wanderte Hans Castorp wohl bei heiterer Witterung nach dem zweiten Frühstück, zuweilen auch schon nach dem ersten dort-hin, und auch die Stunden zwischen Tee und Abendessen be-nutzte er wohl zu einem Besuch seines Lieblingsortes, um auf der Hank zu sitzen, wo ihn einst das mächtige Nasenbluten überkommen, dem Geräusche des Gießbachs mit schrägem Kopfe zu lauschen und das geschlossene Landschaftsbild um sich her zu betrachten, sowie die Menge von blauer Akelei, die nun wieder in ihrem Grunde blühte.
Kam er nur dazu? Nein, er saß dort, um allein zu sein, um sich zu erinnern, die Eindrücke und Abenteuer so vieler Monate zu überschlagen und alles zu bedenken. Es waren ihrer viele und mannigfaltige, – nicht leicht zu ordnen dabei, denn sie er-schienen ihm vielfach verschränkt und ineinanderfließend, so daß das Handgreifliche kaum vom bloß Gedachten, Geträumten und Vorgestellten, zu sondern war. Nur abenteuerlichen We-sens waren sie alle, in dem Grade, daß sein Herz, beweglich, wie es hier oben vom ersten Tage an gewesen und geblieben war, stockte und hämmerte, wenn er ihrer gedachte. Oder ge-nügte bereits die Vernunftüberlegung, daß die Aquilegia hier, wo ihm einst in einem Zustand herabgesetzter Lebenstätigkeit Pribislav Hippe leibhaftig erschienen war, nicht immer noch, sondern schon wieder blühte, und daß aus den "drei Wochen" demallemächst ein rundes Jahr geworden sein würde, um sein bewegliches Herz so abenteuerlich zu erschrecken?
Übrigens bekam er kein Nasenbluten mehr auf seiner Bank am Wildwasser, das war vorbei. Seine Akklimatisation, die Joachim ihm sogleich als schwierig hingestellt und die ihre Schwierigkeit denn auch bewährt hatte, war vorgeschritten, sie mußte nach elf Monaten als vollendet gelten, und Weiterge-hendes in dieser Richtung war kaum zu gewärtigen. Der Che-mismus seines Magens hatte sich geregelt und angepaßt, Maria Mancini schmeckte, die Nerven seiner ausgetrockneten Schleimhäute kosteten längst wieder empfänglich die Blume dieses preiswerten Fabrikats, das er sich nach wie vor, wenn der Vorrat zur Neige ging, mit einer Art von Pietätsgefühl aus Bremen verschrieb, obgleich sehr einladende Ware sich in den Schaufenstern des internationalen Kurortes empfahl. Bildete Maria nicht eine Art von Verbindung zwischen ihm, dem Ent-rückten, und dem Flachlande, der alten Heimat? Unterhielt und bewahrte sie dergleichen Beziehungen nicht wirksamer, als etwa die Postkarten, die er dann und wann nach unten an die Onkel richtete, und deren Abstände voneinander in demselben Maße größer geworden waren, als er sich unter Annahme hiesiger Be-griffe eine großartigere Zeitbewirtschaftung zu eigen gemacht hatte? Es waren meistens Ansichtskarten, der größeren Gefällig-keit halber, mit hübschen Bildern des Tales im Schnee wie in sommerlicher Verfassung, und sie boten für Schriftliches nur eben soviel Raum, als nötig war, um die neueste ärztliche Ver-lautbarung zu überliefern, das Ergebnis einer Monats – oder General-untersuchung verwandtschaftlich zu melden, das heißt also: etwa mitzuteilen, daß akustisch wie optisch eine unverkennbare Besserung zu verzeichnen gewesen, daß er aber noch nicht ent-giftet sei, und daß die leichte Übertemperatur, in der er immer noch stehe, von den kleinen Stellen komme, die eben noch vorhanden seien, aber bestimmt ohne Rest verschwinden wür-den, wenn er Geduld übe, so daß er dann keinesfalls wiederzu-kommen brauche. Er durfte sicher sein, daß darüber hinausge-hende briefstellerische Leistungen von ihm nicht verlangt und erwartet wurden; es war keine humanistisch rednerische Sphäre, an die er sich wandte; die Antworten, die er erhielt, waren ebensowenig ergußhafter Art. Sie begleiteten meistens die geld-lichen Subsistenzmittel, die ihm von zu Hause zukamen, die Zinsen seines väterlichen Erbes, die sich in hiesiger Münze so vorteilhaft ausnahmen, daß er sie niemals verzehrt hatte, wenn eine neue Lieferung eintraf, und bestanden in einigen Zeilen Maschinenschrift, gezeichnet James Tienappel mit Grüßen und Genesungswünschen vom Großonkel und manchmal auch von dem seefahrenden Peter.
Die Verabfolgung der Injektionen, so meldete Hans Castorp nach Hause, hatte der Hofrat neuestens unterbrochen. Sie beka-men diesem jungen Patienten nicht, verursachten ihm Kopf-schmerzen, Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Müdigkeit, hatten die "Temperatur" zunächst erhöht und dann nicht beseitigt. Sie glühte als trockene Hitze subjektiv fort in seiner rosen-roten Miene, als Mahnung daran, daß die Akklimatisation für diesen Sprößling der Tiefebene und ihrer feuchtfröhlichen Me-teorologie doch eben wohl hauptsächlich in der Gewöhnung daran bestand, daß er sich nicht gewöhnte, – was übrigens Rha-damanthys ja selber nicht tat, der immer blaue Backen hatte. "Manche gewöhnen sich nie", hatte Joachim gleich gesagt, und dies schien Hans Castorps Fall. Denn auch das Genickzittern, das ihn hier oben bald nach der Ankunft zu belästigen begon-nen, hatte sich nicht wieder verlieren wollen, sondern stellte sich im Gehen, im Gespräch, ja selbst hier oben am blau blü-henden Orte seines Nachdenkens über den Komplex seiner Abenteuer unvermeidlich ein, so daß ihm die würdige Kinn-stütze Hans Lorenz Castorps beinahe schon zur festen Gewohn-heit geworden war, – nicht ohne ihn selbst, wenn er sie benütz-te, an die Vatermörder des Alten, die Interimsform der Ehrenkrause, an das blaßgoldene Rund der Taufschale, an den from-men Ur-Ur-Laut und ähnliche Verwandtschaften unter der Hand zu erinnern und ihn so zum Überdenken seines Lebens-komplexes neuerdings hinzuleiten.
Pribislav Hippe erschien ihm nicht mehr leibhaftig, wie vor elf Monaten. Seine Akklimatisation war vollendet, er hatte kei-ne Visionen mehr, lag nicht mit stillgestelltem Leibe auf seiner Bank, während sein Ich in ferner Gegenwart weilte – nichts mehr von solchen Zufällen. Deutlichkeit und Lebendigkeit dieses Erinnerungsbildes, wenn es ihm denn vorschwebte, hielten sich in normalen, gesunden Grenzen, und im Zusammenhang damit zog dann Hans Castorp wohl aus seiner Brusttasche das gläserne Angebinde, das er dort in einem gefütterten Briefum-schlag und hierauf in der Brieftasche verwahrt hielt: ein Täfel-chen, das, wenn man es in gleicher Ebene mit dem Erdboden hielt, schwarz-spiegelnd und undurchsichtig schien, aber, gegen das Himmelslicht aufgehoben, sich erhellte und humanistische Dinge vorwies: das transparente Bild des Menschenleibes, Rip-penwerk, Herzfigur, Zwerchfellbogen und Lungengebläse, dazu das Schlüssel – und Oberarmgebein, umgeben dies alles von blaßdunstiger Hülle, dem Fleische, von dem Hans Castorp in der Faschingswoche vernunftwidrigerweise gekostet hatte. Was Wunder, daß sein bewegliches Herz stockte und stürzte, wenn er das Angebinde betrachtete und dann fortfuhr, "alles" zu überschlagen und zu bedenken, gelehnt an die schlicht gezim-merte Lehne der Ruhebank, die Arme gekreuzt, den Kopf zur Schulter geneigt, im Geräusche des Gießwassers und angesichts der blaublühenden Akelei?
Das Hochgebild organischen Lebens, die Menschengestalt, schwebte ihm vor, wie in jener Frost – und Sternennacht anläß-lich gelehrter Studien, und an ihre innere Anschauung knüpften sich für den jungen Hans Castorp so manche Fragen und Unter-scheidungen, mit denen sich abzugeben der gute Joachim nicht verpflichtet sein mochte, für die aber er als Zivilist sich verant-wortlich zu fühlen begonnen hatte, obwohl auch er im Flach-lande drunten ihrer niemals ansichtig geworden war und ver-mutlich nie ansichtig würde geworden sein, wohl aber hier, wo man aus der beschaulichen Abgeschiedenheit von fünftausend Fuß auf Welt und Kreatur hinabblickte und sich seine Gedanken machte, – vermöge einer durch lösliche Gifte erzeugten Steigerung des Körpers auch wohl, die als trockene Hitze im Antlitz brannte. Er dachte an Settembrini im Zusammenhang mit jener Anschauung, an den pädagogischen Drehorgelmann, dessen Va-ter in Hellas zur Welt gekommen, und der die Liebe zum Hochgebild als Politik, Rebellion und Eloquenz erläuterte, in-dem er die Pike des Bürgers am Altar der Menschheit weihte; dachte auch an den Kameraden Krokowski und an das, was er seit einiger Zeit im verdunkelten Zimmergelaß mit ihm trieb, besann sich über das doppelte Wesen der Analyse und wie weit sie der Tat und dem Fortschritte förderlich sei, wie weit dem Grabe verwandt und seiner anrüchigen Anatomie. Er rief die Bilder der beiden Großväter neben – und gegeneinander auf, des rebellischen und des getreuen, die Schwarz trugen aus unter-schiedlichen Gründen, und erwog ihre Würde; ging ferner mit sich zu Rate über so weitläufige Komplexe wie Form und Frei-heit, Geist und Körper, Ehre und Schande, Zeit und Ewigkeit, – und unterlag einem kurzen, aber stürmischen Schwindel bei dem Gedanken, daß die Akelei wieder blühte und das Jahr in sich selber lief.
Er hatte ein sonderbares Wort für diese seine verantwortliche Gedankenbeschäftigung am malerischen Orte seiner Zurückge-zogenheit: er nannte sie "Regieren", – gebrauchte dies Spiel-und Knabenwort, diesen Kinderausdruck dafür, als für eine Un-terhaltung, die er liebte, obwohl sie mit Schrecken, Schwindel und allerlei Herztumulten verbunden war und seine Gesichts-hitze übermäßig verstärkte. Doch fand er es nicht unschicklich, daß die mit dieser Tätigkeit verbundene Anstrengung ihn nötig-te, sich der Kinnstütze zu bedienen, denn diese Haltung stimm-te wohl mit der Würde überein, die das "Regieren" angesichts des vorschwebenden Hochgebildes ihm innerlich verlieh.
"Homo Dei" hatte der häßliche Naphta das Hochgebild ge-nannt, als er es gegen die englische Gesellschaftslehre verteidigte. Was Wunder, daß Hans Castorp um seiner zivilistischen Ver-antwortlichkeit willen und im Regierungsinteresse sich gehalten fand, mit Joachim bei dem Kleinen Besuch zu machen? Settem-brini sah es ungern, – dies deutlich zu spüren, war Hans Castorp schlau und dünnhäutig genug. Schon die erste Begegnung war dem Humanisten unangenehm gewesen, er hatte sie offensicht-lich zu verhindern gestrebt und die jungen Leute, namentlich aber ihn selbst – so sagte sich das durchtriebene Sorgenkind – vor der Bekanntschaft mit Naphta pädagogisch hüten wollen, obgleich ja er für seine Person mit ihm verkehrte und disputier-te. So sind die Erzieher. Sich selber gönnen sie das Interessante, indem sie sich ihm "gewachsen" nennen; der Jugend aber ver-bieten sie es und verlangen, daß sie sich dem Interessanten nicht "gewachsen" fühle. Ein Glück nur, daß es dem Drehorgelmann im Ernst überhaupt nicht zustand, dem jungen Hans Castorp et-was zu verbieten, und daß er ja auch gar nicht den Versuch dazu gemacht hatte. Der Sorgenzögling brauchte seine Dünnhäutigkeit nur zu verleugnen und Unschuld vorzuschützen, so hinder-te nichts ihn, der Einladung des kleinen Naphta freundlich zu folgen, – was er denn auch getan hatte, mit dem wohl oder übel sich anschließenden Joachim, wenige Tage nach dem ersten Zu-sammentreffen, an einem Sonntagnachmittag, nach dem Haupt-liegedienst.
Es waren wenige Minuten Wegs vom Berghof hinunter zum Häuschen mit der weinumkränzten Haustür. Sie traten ein, lie-ßen den Zugang zum Krämerladen zur Rechten liegen und er-klommen die schmale braune Stiege, die sie vor eine Etagentür führte, neben deren Klingel lediglich das Namensschild Luka-ceks, des Damenschneiders, angebracht war. Die Person, die ih-nen öffnete, war ein halbwüchsiger Knabe in einer Art von Livree, gestreifter Jacke und Gamaschen, ein Dienerchen, kurz-geschoren und rotbackig. Ihn fragten sie nach Herrn Professor Naphta und prägten ihm, da sie mit Karten nicht ausgestattet waren, ihre Namen ein, die er Herrn Naphta – er gebrauchte keinen Titel – zu nennen ging. Die dem Eingang gegenüberlie-gende Zimmertür stand offen und gewährte Einblick in die Schneiderei, wo des Feiertags ungeachtet Lukajek mit unterge-schlagenen Beinen auf einem Tische saß und nähte. Er war bleich und kahlköpfig; von einer übergroßen, abfallenden Nase hing ihm der schwarze Schnurrbart mit saurem Ausdruck zu Sei-ten des Mundes herab.
"Guten Tag!" wünschte Hans Castorp.
"Grütsi", antwortete der Schneider mundartlich, obgleich das Schweizerische weder zu seinem Namen noch zu seinem Äuße-ren paßte und etwas falsch und sonderbar klang.
"So fleißig?" fuhr Hans Castorp nickend fort… "Es ist ja Sonntag!"
"Eilige Arbeit", versetzte Lukaçek kurz und stichelte.
"Ist wohl was Feines", vermutete Hans Castorp, "was rasch gebraucht wird, für eine Reunion oder so?"
Der Schneider ließ diese Frage eine Weile unbeantwortet, biß den Faden ab und fädelte neu ein. Nachträglich nickte er.
"Wird es hübsch?" fragte Hans Castorp noch. "Machen Sie Ärmel dran?"
"Ja, Ärmel, es ist für eine Olte", antwortete Lukaçek mit stark böhmischem Akzent. Die Rückkehr des Dienerchens unterbrach dies durch die Tür geführte Gespräch. Herr Naphta lasse bitten, näher zu treten, meldete er und öffnete den jungen Leuten eine Tür, zwei oder drei Schritte weiter rechts, wobei er auch noch eine zusammenfallende Portiere vor ihnen aufzuheben hatte. Die Eintretenden empfing Naphta, in Schleifenschuhen auf moosgrünem Teppich stehend.
Beide Vettern waren überrascht durch den Luxus des zwei-fenstrigen Arbeitszimmers, das sie aufgenommen hatte, ja ge-blendet durch Überraschung; denn die Dürftigkeit des Häus-chens, seiner Treppe, seines armseligen Korridors ließ derglei-chen nicht entfernt erwarten und verlieh der Eleganz von Naphtas Einrichtung durch Kontrastwirkung etwas Märchenhaftes, was sie an und für sich kaum besaß und auch in den Augen Hans Castorps und Joachim Ziemßens nicht besessen hätte. Im-merhin, sie war fein, ja glänzend, und zwar so, daß sie trotz Schreibtisch und Bücherschränken den Charakter des Herrenzimmers eigentlich nicht wahrte. Es war zuviel Seide darin, weinrote, purpurrote Seide: die Vorhänge, die die schlechten Türen verbargen, waren daraus, die Fenster-Überfälle und eben-so die Bezüge der Meubles-Gruppe, die an einer Schmalseite, der zweiten Tür gegenüber, vor einem die Wand fast ganz be-spannenden Gobelin angeordnet war. Es waren Barockarmstüh-le mit kleinen Polstern auf den Seitenlehnen, um einen runden, metallbeschfagenen Tisch gruppiert, hinter dem ein mit Seiden-plüschkissen ausgestattetes Sofa desselben Stiles stand. Die Bü-cherspinde nahmen die Wandpartien neben den beiden Türen ein. Sie waren, wie der Schreibtisch, oder vielmehr der mit einem gewölbten Rolldeckel versehene Sekretär, der zwischen den Fenstern Platz gefunden hatte, in Mahagoni gearbeitet, mit Glastüren, hinter die grüne Seide gespannt war. Aber in dem Winkel links von der Sofagruppe war ein Kunstwerk zu sehen, eine große, auf rot verkleidetem Sockel erhöhte bemalte Holzplastik, – etwas innig Schreckhaftes, eine Pietà, einfältig und wirkungsvoll bis zum Grotesken: die Gottesmutter in der Hau-be, mit zusammengezogenen Brauen und jammernd schief ge-öffnetem Munde, den Schmerzensmann auf ihrem Schoß, eine im Größenverhältnis primitiv verfehlte Figur mit kraß heraus-gearbeiteter Anatomie, die jedoch von Unwissenheit zeugte, das hängende Haupt von Dornen starrend, Gesicht und Glieder mit Blut befleckt und berieselt, dicke Trauben geronnenen Blutes an der Seitenwunde und den Nägelmalen der Hände und Füße. Dies Schaustück verlieh dem seidenen Zimmer nun freilich einen besonderen Akzent. Auch die Tapete, über den Bücher-schränken und an der Fensterwand sichtbar, war übrigens offen-bar eine Leistung des Mieters: das Grün ihrer Längsstreifen war das des weichen Teppichs, der über die rote Bodenbespannung gebreitet war. Nur der niedrigen Decke war wenig zu helfen gewesen. Sie war kahl und rissig. Doch hing ein kleiner vene-zianischer Lüster daran herab. Die Fenster waren mit cremefar-benen Stores verhüllt, die bis zum Boden reichten.
"Da haben wir uns zu einem Kolloquium eingefunden!" sag-te Hans Castorp, während seine Augen mehr an dem frommen Schrecknis im Winkel, als an dem Bewohner des überraschen-den Zimmers hafteten, der es anerkannte, daß die Vettern Wort gehalten hätten. Er wollte sie mit gastlichen Bewegungen seiner kleinen Rechten zu den seidenen Sitzen leiten, aber Hans Castorp ging geradewegs und gebannt auf die Holzgruppe zu und blieb, Arme in die Hüften gestemmt, mit seitwärts geneigtem Kopf davor stehen.
"Was haben Sie denn da!" sagte er leise. "Das ist ja schreck-lich gut. Hat man je so ein Leiden gesehn? Etwas Altes, natür-lich?"
"Vierzehntes Jahrhundert", antwortete Naphta. "Wahrscheinlich rheinischer Herkunft. Es macht Ihnen Eindruck?"
"Enormen", sagte Hans Castorp. "Das kann seinen Eindruck auf den Besucher denn doch wohl gar nicht verfehlen. Ich hätte nicht gedacht, daß etwas zugleich so häßlich – entschuldigen Sie – und so schön sein könnte."
"Erzeugnisse einer Welt der Seele und des Ausdrucks", ver-setzte Naphta, "sind immer häßlich vor Schönheit und schön vor Häßlichkeit, das ist die Regel. Es handelt sich um geistige Schönheit, nicht um die des Fleisches, die absolut dumm ist. Übrigens, auch abstrakt ist sie", fügte er hinzu. "Die Schönheit des Leibes ist abstrakt. Wirklichkeit hat nur die innere, die des religiösen Ausdrucks."
"Das haben Sie dankenswert richtig unterschieden und ange-ordnet", sagte Hans Castorp. "Vierzehntes?" versicherte er sich … "Dreizehnhundertsoundso? Ja, das ist das Mittelalter, wie es im Buche steht, ich erkenne gewissermaßen die Vorstel-lung darin wieder, die ich mir in letzter Zeit vom Mittelalter gemacht habe. Ich wußte eigentlich nichts davon, ich bin ja ein Mann des technischen Fortschritts, soweit ich überhaupt in Fra-ge komme. Aber hier oben ist mir die Vorstellung des Mittelal-ters verschiedentlich nahegebracht worden. Die ökonomistische Gesellschaftslehre gab es damals noch nicht, soviel ist klar. Wie hieß der Künstler denn wohl?"
Naphta zuckte die Achseln.
"Was liegt daran?" sagte er. "Wir sollten danach nicht fragen, da man auch damals, als es entstand, nicht danach fragte. Das hat keinen wunderwie individuellen Monsieur zum Autor, es ist anonym und gemeinsam. Es ist übrigens sehr vorgeschrittenes Mittelalter, Gotik, Signum mortificationis. Sie finden da nichts mehr von der Schonung und Beschönigung, mit der noch die romanische Epoche den Gekreuzigten darstellen zu müssen glaubte, keine Königskrone, keinen majestätischen Triumph über Welt und Martertod. Alles ist radikale Verkündigung des Leidens und der Fleischesschwäche. Erst der gotische Ge-schmack ist der eigentlich pessimistisch-asketische. Sie werden die Schrift Innonzenz' des Dritten, 'De miseria humanae condi-tionis', nicht kennen, – ein äußerst witziges Stück Literatur. Sie stammt vom Ende des zwölften Jahrhunderts, aber erst diese Kunst liefert die Illustrationen dazu."
"Herr Naphta", sagte Hans Castorp nach einem Aufseufzen, "mich interessiert jedes Wort von dem, was Sie da hervorheben. "Signum mortificationis' sagten Sie? Das werde ich mir merken. Vorher sagten Sie etwas von "anonym und gemeinsam', was auch der Mühe wert scheint, darüber nachzudenken. Sie vermu-ten leider richtig, daß ich die Schrift des Papstes – ich nehme an, daß Innozenz der Dritte ein Papst war – nicht kenne. Habe ich richtig verstanden, daß sie asketisch und witzig ist? Ich muß ge-stehen, ich habe mir nie vorgestellt, daß das so Hand in Hand gehen könnte, aber wenn ich es ins Auge fasse, so leuchtet es mir ein, natürlich, eine Abhandlung über das menschliche Elend bietet zum Witz schon Gelegenheit, auf Kosten des Fleisches, Ist die Schrift denn erhältlich? Wenn ich mein Latein zusammen-nähme, vielleicht könnte ich sie lesen."
"Ich besitze das Buch", antwortete Naphta, mit dem Kopf nach einem der Schränke weisend. "Es steht Ihnen zur Verfügung. Aber wollen wir uns nicht setzen? Sie sehen die Pietà auch vom Sofa aus. Eben kommt unser kleines Vespermahl …"
Es war das Dienerchen, das Tee brachte, dazu einen hübschen silberbeschlagenen Korb, worin in Stücke geschnittener Baum-kuchen lag. Hinter ihm aber, durch die offene Tür, wer trat be-schwingten Schrittes mit "Sapperlot!!" "Accidenti!" und feinem Lächeln herein? Das war Herr Settembrini, wohnhaft eine Trep-pe höher, der sich einfand, in der Absicht, den Herren Gesell-schaft zu leisten. Durch sein Fensterchen, sagte er, habe er die Vettern kommen sehen und rasch noch eine enzyklopädische Seite heruntergeschrieben, die er eben unter der Feder gehabt, um sich dann ebenfalls hier zu Gaste zu bitten. Nichts war na-türlicher, als daß er kam. Seine alte Bekanntschaft mit den Berg-hofbewohnern berechtigte ihn dazu, und dann war auch sein Verkehr und Austausch mit Naphta, trotz tiefgehender Meinungsver-schiedenheiten, ja offenbar überhaupt sehr lebhaft, – wie denn der Gastgeber ihn leichthin und ohne Überraschung als Zugehörigen begrüßte. Das hinderte nicht, daß Hans Castorp von seinem Kommen sehr deutlich einen doppelten Eindruck gewann. Erstens, so empfand er, stellte Herr Settembrini sich ein, um ihn und Joachim, oder eigentlich kurzweg ihn, nicht mit dem häßlichen kleinen Naphta allein zu lassen, sondern durch seine Anwesenheit ein pädagogisches Gegengewicht zu schaffen; und zweitens war klar ersichtlich, daß er gar nichts da-gegen hatte, sondern die Gelegenheit recht gern benutzte, den Aufenthalt in seinem Dach auf eine Weile mit dem in Naphtas seidenfeinem Zimmer zu vertauschen und einen wohlservierten Tee einzunehmen: er rieb sich die gelblichen, an der Kleinfin-gerseite des Rückens mit schwarzen Haaren bewachsenen Hän-de, bevor er Zugriff, und speiste mit unverkennbarem, auch lo-bend ausgesprochenem Genuß von dem Baumkuchen, dessen schmale, gebogene Scheiben von Schokoladenadern durchzogen waren.
Das Gespräch fuhr noch fort, sich mit der Pietà zu beschäftigen, da Hans Castorp mit Blick und Wort an dem Gegenstand festhielt, wobei er sich an Herrn Settembrini wandte und diesen gleichsam mit dem Kunstwerk in kritischen Kontakt zu setzen suchte, – während ja der Abscheu des Humanisten gegen diesen Zimmerschmuck deutlich genug in der Miene zu lesen war, mit der er sich danach umwandte: denn er hatte sich mit dem Rük-ken gegen jenen Winkel gesetzt. Zu höflich, um alles zu sagen, was er dachte, beschränkte er sich darauf, Fehlerhaftigkeiten in den Verhältnissen und den Körperformen der Gruppe zu beanstanden, Verstöße gegen die Naturwahrheit, die weit entfernt seien, rührend auf ihn zu wirken, da sie nicht frühzeitlichem Unvermögen, sondern bösem Willen, einem grundfeindlichen Prinzip entsprängen, – worin Naphta ihm boshaft zustimmte. Gewiß, von technischem Ungeschick könne nicht entfernt die Rede sein. Es handle sich um bewußte Emanzipation des Geistes vom Natürlichen, dessen Verächtlichkeit durch die Verweige-rung jeder Demut davor religiös verkündet werde. Als aber Settembrini die Vernachlässigung der Natur und ihres Studiums für menschlich abwegig erklärte und gegen die absurde Form-losigkeit, der das Mittelalter und die ihm nachahmenden Epo-chen gefrönt hätten, das griechisch-römische Erbe, den Klassi-zismus, Form, Schönheit, Vernunft und naturfromme Heiter-keit, die allein die Sache des Menschen zu fördern berufen seien, in prallen Worten zu erheben begann, mischte Hans Castorp sich ein und fragte, was denn aber bei solcher Bewandtnis mit Plotinus los sei, der sich nachweislich seines Körpers ge-schämt, und mit Voltaire, der im Namen der Vernunft gegen das skandalöse Erdbeben von Lissabon revoliert habe? Absurd? Das sei auch absurd gewesen, aber wenn man alles recht überle-ge, so könne man seiner Ansicht nach das Absurde recht wohl als das geistig Ehrenhafte bezeichnen, und die absurde Natur-feindschaft der gotischen Kunst sei am Ende ebenso ehrenhaft gewesen wie das Gebaren der Plotinus und Voltaire, denn es drücke sich dieselbe Emanzipation von Fatum und Faktum darin aus, derselbe unknechtische Stolz, der sich weigere, vor der dummen Macht, nämlich vor der Natur abzudanken …
Naphta brach in Lachen aus, das sehr an den bewußten Teller erinnerte und in Husten endigte. Settembrini sagte vornehm:
"Sie schädigen unseren Wirt, indem Sie so witzig sind, und erweisen sich also undankbar für dies köstliche Gebäck. Ist Dankbarkeit überhaupt Ihre Sache? Wobei ich voraussetze, daß Dankbarkeit darin besteht, von empfangenen Geschenken einen guten Gebrauch zu machen …"
Da Hans Castorp sich schämte, setzte er scharmant hinzu:
"Man kennt Sie als Schalk, Ingenieur. Ihre Art, das Gute freundschaftlich zu necken, läßt mich keineswegs an Ihrer Liebe zu ihm verzweifeln. Sie wissen selbstverständlich, daß nur die-jenige Auflehnung des Geistes gegen das Natürliche ehrenhaft zu nennen ist, die die Würde und Schönheit des Menschen im Auge hat, nicht diejenige, welche, wenn sie seine Entwürdigung und Erniedrigung nicht bezweckt, sie doch jedenfalls nach sich zieht. Sie wissen auch, welche entmenschte Greuel, welche mordgierige Unduldsamkeit die Epoche, der das Artefakt da hinter mir sein Dasein verdankt, gezeitigt hat. Ich brauche Sie nur an den entsetzlichen Typ der Ketzerrichter, an die blutige Figur eines Konrad von Marburg etwa, zu erinnern und an seine infame Priesterwut gegen alles, was der Herrschaft des Überna-türlichen entgegenstand. Sie sind weit entfernt, Schwert und Scheiterhaufen als Instrumente der Menschenliebe anzuerken-nen …"
"In deren Dienst dagegen", äußerte Naphta, "arbeitete die Maschinerie, mit der der Konvent die Welt von schlechten Bür-gern reinigte. Alle Kirchenstrafen, auch der Scheiterhaufen, auch die Exkommunikation, wurden verhängt, um die Seele vor ewiger Verdammnis zu retten, was man von der Vertilgungslust der Jakobiner nicht sagen kann. Ich erlaube mir, zu bemerken, daß jede Pein – und Blutjustiz, die nicht dem Glauben an ein Jen-seits entspringt, viehischer Unsinn ist. Und was die Entwürdigung des Menschen betrifft, so fällt ihre Geschichte exakt mit der des bürgerlichen Geistes zusammen. Renaissance, Aufklä-rung und die Naturwissenschaft und Ökonomistik des neun-zehnten Jahrhunderts haben nichts, aber auch nichts zu lehren unterlassen, was irgend tauglich schien, diese Entwürdigung zu fördern, angefangen mit der neuen Astronomie, die aus dem Zentrum des Alls, dem erlauchten Schauplatz, wo Gott und Teufel um den Besitz des beiderseits heiß begehrten Geschöpfes kämpften, einen gleichgültigen kleinen Wandelstern machte und der großartigen kosmischen Stellung des Menschen, auf der übrigens die Astrologie beruhte, vorderhand ein Ende bereitete."
"Vorderhand?" Herrn Settembrinis Miene hatte, wie er es lauernd fragte, selber etwas von der eines Ketzerrichters und Inquisitors, der darauf wartet, daß der Aussagende sich im un-zweifelhaft Sträflichen verfange.
"Allerdings. Für ein paar hundert Jahre", bestätigte Naphta kalt. "Eine Ehrenrettung der Scholastik steht, wenn nicht alles täuscht, auch in dieser Beziehung bevor, sie ist schon im vollen Gange. Kopernikus wird von Ptolemäus geschlagen werden. Die heliozentrische These begegnet nachgerade einem geistigen Wi-derstand, dessen Unternehmungen wahrscheinlich zum Ziele führen werden. Die Wissenschaft wird sich philosophisch genö-tigt sehen, die Erde in alle Würden wieder einzusetzen, die das kirchliche Dogma ihr wahren wollte."
"Wie? Wie? Geistiger Widerstand? Philosophisch genötigt sehen? Zum Ziele führen? Welche Art von Voluntarismus spricht aus Ihnen? Und die voraussetzungslose Forschung? Die reine Erkenntnis ? Die Wahrheit, mein Herr, die mit der Freiheit so innig verbunden ist, und deren Blutzeugen, aus denen Sie Beleidiger der Erde machen wollen, diesem Stern vielmehr zur ewigen Zierde gereichen?"
Herr Settembrini hatte eine gewaltige Art, zu fragen. Hoch-aufgerichtet saß er und ließ seine ehrenhaften Worte auf den kleinen Herrn Naphta niedersausen, am Ende die Stimme so mächtig hochziehend, daß man wohl hörte, wie sicher er war, daß des Gegners Antwort hierauf nur in beschämtem Schweigen bestehen könne. Er hatte ein Stück Baumkuchen zwischen den Fingern gehalten, während er sprach, legte es aber nun auf den Teller zurück, da er nach dieser Fragestellung nicht hinein-beißen mochte.
Naphta erwiderte mit unangenehmer Ruhe:
"Guter Freund, es gibt keine reine Erkenntnis. Die Rechtmäßigkeit der kirchlichen Wissenschaftslehre, die sich in Augustins Satz 'Ich glaube, damit ich erkenne' zusammenfassen läßt, ist völlig unbestreitbar. Der Glaube ist das Organ der Erkenntnis und der Intellekt sekundär. Ihre voraussetzungslose Wissen-schaft ist eine Mythe. Ein Glaube, eine Weltanschauung, eine Idee, kurz: ein Wille ist regelmäßig vorhanden, und Sache der Vernunft ist es, ihn zu erörtern, ihn zu beweisen. Es läuft immer und in allen Fällen auf das 'Quod erat demonstrandum' hinaus. Schon der Begriff des Beweises enthält, psychologisch genom-men, ein stark voluntaristisches Element. Die großen Scholasti-ker des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts waren einig in der Überzeugung, daß in der Philosophie nicht wahr sein könne, was vor der Theologie falsch sei. Lassen wir die Theologie aus dem Spiel, wenn Sie wollen, aber eine Humanität, die nicht anerkennt, daß in der Naturwissenschaft nicht wahr sein kann, was vor der Philosophie falsch ist, das ist keine Humanität. Die Argumentation des heiligen Offiziums gegen Galilei lautete da-hin, daß seine Sätze philosophisch absurd seien. Eine schlagendere Argumentation gibt es nicht."
"Eh, eh, die Argumente unseres armen, großen Galilei haben sich als stichhaltiger erwiesen! Nein, lassen Sie uns ernsthaft re-den, Professore! Beantworten Sie mir vor diesen beiden auf-merksamen jungen Leuten die Frage: Glauben Sie an eine Wahrheit, an die objektive, die wissenschaftliche Wahrheit, der nachzustreben oberstes Gesetz aller Sittlichkeit ist, und deren Triumphe über die Autorität die Ruhmesgeschichte des Menschengeistes bilden?!"
Hans Castorp und Joachim wandten die Köpfe von Settembrini zu Naphta, der erstere schneller, als der andere. Naphta antwortete:
"Ein solcher Triumph ist nicht möglich, denn die Autorität ist der Mensch, sein Interesse, seine Würde, sein Heil, und zwischen ihr und der Wahrheit kann es keinen Widerstreit geben. Sie fallen zusammen."
"Die Wahrheit wäre demnach –"
"Wahr ist, was dem Menschen frommt. In ihm ist die Natur zusammengefaßt, in aller Natur ist nur er geschaffen und alle Natur nur für ihn. Er ist das Maß der Dinge und sein Heil das Kriterium der Wahrheit. Eine theoretische Erkenntnis, die des praktischen Bezuges auf die Heilsidee des Menschen entbehrt, ist dermaßen uninteressant, daß jeder Wahrheitswert ihr abzu-sprechen und ihre Nichtzulassung geboten ist. Die christlichen Jahrhunderte waren völlig einig über die menschliche Uner-heblichkeit der Naturwissenschaft. Lactantius, den Konstantin der Große zum Lehrer seines Sohnes wählte, fragte gerade her-aus, welche Seligkeit er denn gewinnen werde, wenn er wisse, wo der Nil entspringt, oder was die Physiker vom Himmel fa-seln. Das beantworten Sie ihm einmal! Wenn man die platoni-sche Philosophie jeder anderen vorzog, so darum, weil sie sich nicht mit Naturerkenntnis, sondern mit der Erkenntnis Gottes abgab. Ich kann Sie versichern, die Menschheit ist im Begriff, zu diesem Gesichtspunkt zurückzufinden und einzusehen, daß es nicht Aufgabe wahrer Wissenschaft ist, heillosen Erkenntnissen nachzulaufen, sondern das Schädliche oder auch nur ideell Be-deutungslose grundsätzlich auszuscheiden und mit einem Worte Instinkt, Maß, Wahl zu bekunden. Es ist kindisch, zu meinen, die Kirche habe die Finsternis gegen das Licht verteidigt. Sie tat dreimal wohl daran, ein 'voraussetzungsloses' Streben nach Erkenntnis der Dinge, das heißt: ein solches, das sich der Rück-sicht auf das Geistige, auf den Zweck der Heilserwerbung ent-schlägt, für strafbar zu erklären, und was den Menschen in Finsternis geführt hat und immer tiefer führen wird, ist vielmehr die 'voraussetzungslose', die aphilosophische Naturwissenschaft."
"Sie lehren da einen Pragmatismus", erwiderte Settembrini, "den Sie nur ins Politische zu übertragen brauchen, um seiner ganzen Verderblichkeit ansichtig zu werden. Gut, wahr und ge-recht ist, was dem Staate frommt. Sein Heil, seine Würde, seine Macht ist das Kriterium des Sittlichen. Schön! Damit ist jedem Verbrechen Tür und Tor geöffnet, und die menschliche Wahrheit, die individuelle Gerechtigkeit, die Demokratie – sie mö-gen sehen, wo sie bleiben …"
"Ich bringe ein wenig Logik in Vorschlag", versetzte Naphta. "Entweder Ptolemäus und die Scholastik behalten recht, und die Welt ist endlich in Zeit und Raum. Dann ist die Gottheit trans-zendent, der Gegensatz von Gott und Welt bleibt aufrecht, und auch der Mensch ist eine dualistische Existenz: das Problem seiner Seele besteht in dem Widerstreit des Sinnlichen und des Übersinnlichen, und alles Gesellschaftliche ist mit Abstand zweiten Ranges. Nur diesen Individualismus kann ich als kon-sequent anerkennen. Oder aber Ihre Renaissance-Astronomen fanden die Wahrheit, und der Kosmos ist unendlich. Dann gibt es keine übersinnliche Welt, keinen Dualismus; das Jenseits ist ins Diesseits aufgenommen, der Gegensatz von Gott und Natur hinfällig, und da in diesem Falle auch die menschliche Persön-lichkeit nicht mehr Kriegsschauplatz zweier feindlicher Prinzi-pien, sondern harmonisch, sondern einheitlich ist, so beruht der innermenschliche Konflikt lediglich auf dem der Einzel – und der gesamtheitlichen Interessen, und der Zweck des Staates wird, wie es gut heidnisch ist, zum Gesetz des Sittlichen. Eines oder das andere."
"Ich protestiere!" rief Settembrini, indem er seine Teetasse dem Gastgeber mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt. "Ich protestiere gegen die Unterstellung, daß der moderne Staat die Teufelsknechtschaft des Individuums bedeute! Ich protestiere zum drittenmal, und zwar gegen die vexatorische Alternative von Preußentum und gotischer Reaktion, vor die Sie uns stellen wollen! Die Demokratie hat keinen anderen Sinn, als den einer individualistischen Korrektur jedes Staatsabsolutismus. Wahrheit und Gerechtigkeit sind Kronjuwelen individueller Sittlich-keit, und im Falle des Konflikts mit dem Staatsinteresse mögen sie wohl sogar den Anschein staatsfeindlicher Mächte gewin-nen, während sie in der Tat das höhere, sagen wir es doch: das überirdische Wohl des Staates im Auge haben. Die Renaissance der Ursprung der Staatsvergottung! Welche Afterlogik! Die Er-rungenschaften – ich sage mit etymologischer Betonung:' die Errungenschaften von Renaissance und Aufklärung, mein Herr, heißen Persönlichkeit, Menschenrecht, Freiheit!"
Die Zuhörer atmeten aus, denn sie hatten die Luft angehalten bei Herrn Settembrinis großer Replik. Hans Castorp konnte sogar nicht umhin, mit der Hand, wenn auch zurückhaltenderweise, auf den Tischrand zu schlagen. "Brillant!" sagte er zwischen den Zähnen, und auch Joachim zeigte starke Befriedigung, ob-gleich ein Wort gegen das Preußentum gefallen war. Dann aber wandten sich beide dem eben zurückgeschlagenen Interlokutor! zu, Hans Castorp mit solchem Eifer, daß er den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Faust stützte, ungefähr wie beim Schweinchen-Zeichnen, und Herrn Naphta aus nächster Nähe gespannt ins Gesicht blickte.
Dieser saß still und scharf, die mageren Hände im Schoß. Er sagte:
"Ich suchte Logik in unser Gespräch einzuführen, und Sie antworten mir mit Hochherzigkeiten. Daß die Renaissance all das zur Welt gebracht hat, was man Liberalismus, Individualismus, humanistische Bürgerlichkeit nennt, war mir leidlich be-kannt; aber Ihre 'etymologischen Betonungen' lassen mich kühl, denn das 'ringende', das heroische Lebensalter Ihrer Ideale ist längst vorüber, diese Ideale sind tot, sie liegen heute zum mindesten in den letzten Zügen, und die Füße derer, die ihnen den Garaus machen werden, stehen schon vor der Tür. Sie nen-nen sich, wenn ich nicht irre, einen Revolutionär. Aber wenn Sie glauben, daß das Ergebnis künftiger Revolutionen – Freiheit sein wird, so sind Sie im Irrtum. Das Prinzip der Freiheit hat sich in fünfhundert Jahren erfüllt und überlebt. Eine Pädagogik, die sich heute noch als Tochter der Aufklärung versteht und in der Kritik, der Befreiung und Pflege des Ich, der Auflösung ab-solut bestimmter Lebensformen ihre Bildungsmittel erblickt, – eine solche Pädagogik mag noch rhetorische Augenblickserfolge davontragen, aber ihre Rückständigkeit ist für den Wissenden über jeden Zweifel erhaben. Alle wahrhaft erzieherischen Ver-bände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik immer nur handeln kann: nämlich um den ab-soluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleumdung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Ge-horsam."
Joachim richtete sich gerade auf. Hans Castorp errötete. Herr Settembrini drehte erregt an seinem schönen Schnurrbart.
"Nein!" fuhr Naphta fort. "Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und das Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird, das ist – der Terror."
Er hatte das letzte Wort leiser als alles Vorhergehende gesprochen, ohne eine Körperbewegung; nur seine Brillengläser hatten kurz aufgeblitzt. Alle drei, die ihn hörten, waren zusam-mengezuckt, auch Settembrini, der sich aber bald lächelnd wie-der faßte.
"Und darf man sich erkundigen", fragte er, "wen oder was – Sie sehen, ich bin ganz Frage, ich weiß nicht einmal, wie ich fragen soll wen oder was Sie sich als Träger dieses – ich wie-derhole ungern das Wort – dieses Terrors denken?"
Naphta saß stille, scharf und blitzend. Er sagte:
"Ich stehe zu Diensten. Ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich unsere Übereinstimmung voraussetze in der Annahme eines idealen Urzustandes der Menschheit, eines Zustandes der Staat-und Gewaltlosigkeit, der unmittelbaren Gotteskindschaft, worin es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenun-terschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit."
"Sehr gut. Ich stimme zu", erklärte Settembrini. "Ich stimme zu bis auf den Punkt der fleischlichen Verbindung, die offenbar jederzeit stattgehabt haben muß, da der Mensch ein höchstent-wickeltes Wirbeltier ist und nicht anders, als andere Wesen –"
"Wie Sie meinen. Ich konstatiere unser grundsätzliches Ein-verständnis, was den anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustand betrifft, der durch den Sündenfall verloren ging. Ich glaube, daß wir noch ein weiteres Stück We-ges Seite an Seite bleiben können, nämlich indem wir den Staat auf einen der Sünde Rechnung tragenden, zum Schutz gegen das Unrecht geschlossenen Gesellschaftsvertrag zurückführen und darin den Ursprung der herrschaftlichen Gewalt erblicken.".
"Benissimo!" rief Settembrini. "Gesellschaftsvertrag … das ist die Aufklärung, das ist Rousseau. Ich hätte nicht gedacht –"
"Ich bitte. Unsere Wege scheiden sich hier. Aus der Tatsache, daß alle Herrschaft und Gewalt ursprünglich beim Volke war, und daß dieses sein Recht an der Gesetzgebung und seine ganze Gewalt dem Staate, dem Fürsten übertrug, folgert Ihre Schule vor allem das revolutionäre Recht des Volkes vor dem König-tum. Wir dagegen –"
"Wir?" dachte Hans Castorp gespannt … Wer sind "wir"? Ich muß unbedingt nachher Settembrini danach fragen, wen er mit "wir" meint.
"Wir unsererseits", sprach Naphta, "vielleicht nicht weniger revolutionär als Sie, haben daraus von jeher in erster Linie den Vorrang der Kirche vor dem weltlichen Staat gefolgert. Denn wenn die Ungöttlichkeit des Staates ihm nicht an der Stirn ge-schrieben stände, würde ein Hinweis auf eben dieses historische Faktum, daß er auf den Willen des Volkes und nicht, wie die Kirche, auf göttliche Stiftung zurückzuführen ist, genügen, um ihn, wenn nicht geradezu als eine Veranstaltung der Bosheit, so doch jedenfalls als eine solche der Notdurft und der sündhaften Unzulänglichkeit zu erweisen."
"Der Staat, mein Herr –"
"Ich weiß, wie Sie über den nationalen Staat denken. 'Über alles geht die Vaterlandsliebe und grenzenlose Ruhmesbegier.' Das ist Virgil. Sie korrigieren ihn durch etwas liberalen Indivi-dualismus, und das ist die Demokratie; aber Ihr grundsätzliches Verhältnis zum Staat bleibt dadurch völlig unberührt. Daß seine Seele das Geld ist, ficht Sie offenbar nicht an. Oder wollen Sie es bestreiten? Die Antike war kapitalistisch, weil sie staats-fromm war. Das christliche Mittelalter hat den immanenten Ka-pitalismus des weltlichen Staates klar erkannt. 'Das Geld wird Kaiser sein', – das ist eine Prophezeiung aus dem elften Jahr-hundert. Leugnen Sie, daß das wörtlich eingetroffen, und daß die Verteufelung des Lebens damit restlos erreicht ist?"
"Lieber Freund, Sie haben das Wort. Ich bin ungeduldig, mit dem großen Unbekannten, dem Träger des Schreckens, bekannt gemacht zu werden."
"Eine gewagte Neugier bei dem Sprecher einer Gesellschaftsklasse, welche Träger der Freiheit ist, die die Welt zugrunde ge-richtet hat. Ich' kann auf Ihre Widerrede zur Not verzichten, denn die politische Ideologie der Bürgerlichkeit ist mir bekannt. Ihr Ziel ist das demokratische Imperium, die Selbstübersteige-rung des nationalen Staatsprinzips ins Universelle, der Weltstaat. Der Kaiser dieses Imperiums? Wir kennen ihn. Ihre Utopie ist gräßlich, und doch, – wir finden uns an diesem Punkt gewisser-maßen wieder zusammen. Denn Ihre kapitalistische Weltrepu-blik hat etwas Transzendentes, tatsächlich, der Weltstaat ist die Transzendenz des weltlichen Staates, und wir stimmen überein in dem Glauben, daß einem vollkommenen Anfangszustande der Menschheit ein in Horizontferne liegender vollkommener Endzustand entsprechen soll. Seit den Tagen Gregors des Großen, Gründers des Gottesstaates, hat die Kirche es als ihre Auf-gabe betrachtet, den Menschen unter die Leitung Gottes zurück-zuführen. Der Herrschaftsanspruch des Papstes wurde nicht um seiner selbst willen erhoben, sondern seine stellvertretende Diktatur war Mittel und Weg zum Erlösungsziel, Übergangs-form vom heidnischen Staat zum himmlischen Reich. Sie haben diesen Lernenden hier von Bluttaten der Kirche, ihrer strafen-den Unduldsamkeit gesprochen, – höchst törichterweise, denn Gotteseifer kann selbstverständlich nicht pazifistisch sein, und Gregor hat das Wort gesprochen: "Verflucht sei der Mensch, der sein Schwert zurückhält vom Blute!' Daß die Macht böse ist, wissen wir. Aber der Dualismus von Gut und Böse, von Jenseits und Diesseits, Geist und Macht muß, wenn das Reich kommen soll, vorübergehend aufgehoben werden in einem Prinzip, das Askese und Herrschaft vereinigt. Das ist es, was ich die Not-wendigkeit des Terrors nenne."
"Der Träger! Der Träger!"
"Sie fragen? Sollte Ihrem Manchestertum die Existenz einer Gesellschaftslehre entgangen sein, die die. menschliche Über-windung des Ökonomismus bedeutet, und deren Grundsätze und Ziele mit denen des christlichen Gottesstaates genau zu-sammenfallen? Die Väter der Kirche haben Mein und Dein ver-derbliche Worte und das Privateigentum Usurpation und Dieb-stahl genannt. Sie haben den Güterbesitz verworfen, weil nach dem göttlichen Naturrecht die Erde allen Menschen gemeinsam sei und daher auch ihre Früchte für den gemeinschaftlichen Ge-brauch aller hervorbringe. Sie lehrten, daß nur die Habgier, eine Folge des Sündenfalls, die Besitzrechte vertritt und das Sonder-eigentum geschaffen habe. Sie waren human genug, antihändle-risch genug, wirtschaftliche Tätigkeit überhaupt eine Gefahr für das Seelenheil, das heißt: für die Menschlichkeit zu nennen. Sie haben das Geld und die Geldgeschäfte gehaßt und den kapitali-stischen Reichtum den Brennstoff des höllischen Feuers genannt. Das ökonomische Grundgesetz, daß der Preis das Ergeb-nis des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage ist, haben sie von ganzem Herzen verachtet und das Ausnutzen der Konjunk-tur als zynische Ausbeutung einer Notlage des Nächsten ver-dammt. Es gab eine noch frevelhaftere Ausbeutung in ihren Au-gen: die der Zeit, das Unwesen, sich für den bloßen Zeitverlauf eine Prämie zahlen zu lassen, nämlich den Zins, und auf diese Weise eine allgemein göttliche Einrichtung, die Zeit, zum Vor-teil des einen und Schaden des anderen zu mißbrauchen."
"Benissimo!" rief Hans Castorp, indem er sich vor Eifer der Zustimmungsformel Herrn Settembrinis bediente. "Die Zeit … Eine allgemein göttliche Einrichtung … Das ist hochwich-tig …!"
"Allerdings", fuhr Naphta fort. "Diese menschlichen Geister haben den Gedanken einer selbsttätigen Vermehrung des Gel-des als ekelhaft empfunden, alle Zins – und Spekulationsgeschäfte unter den Begriff des Wuchers fallen lassen und erklärt, daß jeder Reiche entweder ein Dieb oder eines Diebes Erbe sei. Sie sind weiter gegangen. Sie betrachteten, wie Thomas von Aquino, den Handel überhaupt, das reine Handelsgeschäft, das Kau-fen und Verkaufen unter Einziehung eines Nutzens, aber ohne Bearbeitung, Verbesserung des wirtschaftlichen Gutes, als ein schimpfliches Gewerbe. Sie waren nicht geneigt, die Arbeit an und für sich sehr hoch zu schätzen, denn sie ist nur eine ethische Angelegenheit, keine religiöse, sie geschieht im Dienste des Le-bens, nicht Gottes. Und wenn es sich denn bloß um das Leben handeln sollte und um Wirtschaft, so verlangten sie, daß pro-duktive Werktätigkeit als Bedingung wirtschaftlichen Vorteils und als Maßstab der Achtbarkeit gelte. Ehrenwert war ihnen der Ackerbauer, der Handwerker, nicht der Händler, nicht der Indu-strielle. Denn sie wollten, daß die Produktion sich nach dem Bedürfnis richte, und verabscheuten die Massengütererzeugung. Nun denn, – alle diese wirtschaftlichen Grundsätze und Maß-stäbe halten nach jahrhundertelanger Verschüttung ihre Aufer-stehung in der modernen Bewegung des Kommunismus. Die Übereinstimmung ist vollkommen bis hinein in den Sinn des Herrschaftsanspruchs, den die internationale Arbeit gegen das internationale Händler – und Spekulantentum erhebt, das Welt-proletariat, das heute die Humanität und die Kriterien des Gottesstaates der bürgerlich-kapitalistischen Verrottung entgegen-stellt. Die Diktatur des Proletariats, diese politisch-wirtschaftliche Heilsforderung der Zeit, hat nicht den Sinn der Herrschaft um ihrer selbst willen und in Ewigkeit, sondern den einer zeit-weiligen Aufhebung des Gegensatzes von Geist und Macht im Zeichen des Kreuzes, den Sinn der Weltüberwindung durch das Mittel der Weltherrschaft, den Sinn des Überganges, der Trans-zendenz, den Sinn des Reiches. Das Proletariat hat das Werk Gregors aufgenommen, sein Gotteseifer ist in ihm, und so we-nig wie er wird es seine Hand zurückhalten dürfen vom Blute. Seine Aufgabe ist der Schrecken zum Heile der Welt und zur Gewinnung des Erlösungsziels, der Staats – und klassenlosen Gotteskindscha ft."
So Naphtas scharfe Rede. Die kleine Versammlung schwieg. Die jungen Leute blickten Herrn Settembrini an. An ihm war es, sich irgendwie zu verhalten. Er sagte:
"Erstaunlich. Gewiß, ich gestehe meine Erschütterung, ich hätte das nicht erwartet. Roma locuta. Und wie, – und wie hat es gesprochen! Vor unseren Augen hat er ein hieratisches Salto-mortale vollführt, – wenn das ein Widerspruch im Beiwort ist, so hat er ihn zeitweilig aufgehoben', ah, ja! Ich wiederhole: es ist erstaunlich. Halten Sie Einwendungen für denkbar, Professor, – Einwendungen lediglich vom Standpunkt der Konse-quenz? Sie bemühten sich vorhin, uns einen christlichen, auf der Zweiheit von Gott und Welt beruhenden Individualismus begreiflich zu machen und uns seinen Vorrang vor aller poli-tisch bestimmten Sittlichkeit zu beweisen. Wenige Minuten später treiben Sie den Sozialismus bis zur Diktatur und zum Schrecken. Wie reimt sich das?"
"Gegensätze", sagte Naphta, "mögen sich reimen. Ungereimt ist nur das Halbe und Mediokre. Ihr Individualismus, wie ich mir schon anzumerken erlaubte, ist eine Halbheit, ein Zuge-ständnis. Er korrigiert Ihre heidnische Staatssittlichkeit durch ein wenig Christentum, ein wenig 'Recht des Individuums', ein wenig sogenannte Freiheit, das ist alles. Ein Individualismus da-gegen, der von der kosmischen, der astrologischen Wichtigkeit der Einzelseele ausgeht, ein nicht sozialer, sondern religiöser Individualismus, der das Menschliche nicht als Widerstreit von Ich und Gesellschaft, sondern als den von Ich und Gott, von Fleisch und Geist erlebt, – ein solcher eigentlicher Individualismus verträgt sich mit bindungsvollster Gemeinschaft recht wohl …"
"Anonym und gemeinsam ist er", sagte Hans Castorp.
Settembrini sah ihn mit großen Augen an.
"Schweigen Sie, Ingenieur!" befahl er mit einer Strenge, die auf Rechnung seiner Nervosität und Anspannung zu setzen war.. "Unterrichten Sie sich, aber produzieren Sie nicht! – Das ist eine Antwort", sagte er, wieder zu Naphta gewandt. "Sie tröstet mich wenig, aber es ist eine. Blicken wir allen Konsequenzen ins Auge … Mit der Industrie verneint der christliche Kommu-nismus die Technik, die Maschine, den Fortschritt. Mit dem, was Sie Händlertum nennen, dem Gelde und Geldgeschäft, das der Antike weit höher als Landwirtschaft und Handwerk galt, verneint er die Freiheit. Denn es ist ja klar, es beißt in die Augen, daß dadurch, wie im Mittelalter, alle privaten und öffentli-chen Verhältnisse an den Grund und Boden gebunden werden, auch die – es fällt mir nicht eben ganz leicht, es auszusprechen – auch die Persönlichkeit. Kann nur der Boden ernähren, so ist er es allein, der Freiheit verleiht. Handwerker und Bauern, als so ehrenwert sie immer gelten mögen, – besitzen sie keinen Boden, so sind sie Hörige dessen, der welchen besitzt. Tatsächlich bestand bis tief ins Mittelalter hinein die große Menge selbst der Städte aus Hörigen. Sie haben im Gange des Gesprächs dies und das von menschlicher Würde verlauten lassen. Unterdessen verfechten Sie eine Wirtschaftsmoral, an der die Unfreiheit und Würdelosigkeit der menschlichen Persönlichkeit hängt."
"Über Würde und Würdelosigkeit", erwiderte Naphta, "ließe sich reden. Vorderhand wäre es mir eine Genugtuung, wenn diese Zusammenhänge Ihnen Veranlassung gäben, die Freiheit nicht so sehr als schöne Geste, denn als ein Problem zu begrei-fen. Sie stellen fest, daß die christliche Wirtschaftsmoral in ihrer Schönheit und Menschlichkeit Unfreie schafft. Ich stelle dage-gen, daß die Sache der Freiheit, die Sache der Städte, wie man konkreter sagen darf, – daß diese Sache, höchst sittlich, wie sie immer sei, historisch verbunden ist mit der unmenschlichsten Entartung der Wirtschaftsmoral, mit allen Greueln des moder-nen Händler – und Spekulantentums, mit der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäftes."
"Ich muß darauf bestehen, daß Sie sich nicht hinter Zweifel und Antinomien zurückziehen, sondern sich klar und unzweideutig zur schwärzesten Reaktion bekennen!"
"Der erste Schritt zu wahrer Freiheit und Humanität wäre, sich der schlotternden Furcht vor dem Begriff 'Reaktion' zu entschlagen."
"Nun, es ist genug", erklärte Herr Settembrini mit leicht be-bender Stimme, indem er Tasse und Teller von sich schob, die übrigens leer waren, und sich vom seidenen Sofa erhob. "Es ist genug für heute, genug für einen Tag, wie mir scheint. Professor, wir danken für die schmackhafte Bewirtung, für das sehr spirituelle Gespräch. Meine Freunde vom Berghof hier ruft die Kur, und ich habe den Wunsch, ihnen, bevor sie gehen, meine Klause droben zu zeigen. Kommen Sie, meine Herren! Addio, Padre!"
Jetzt hatte er Naphta gar "Padre" genannt! Hans Castorp ver-merkte es mit hohen Augenbrauen. Man ließ es geschehen, daß Settembrini den Aufbruch leitete, über die Vettern verfügte und nicht in Frage kommen ließ, ob Naphta vielleicht sich anzu-schließen wünsche. Die jungen Leute verabschiedeten sich, ebenfalls dankend, und wurden wiederzukommen ermutigt. Sie gingen mit dem Italiener, nicht ohne daß Hans Castorp das Buch "De miseria humanae conditionis", einen morschen Papp-band, leihweise mit auf den Weg bekam. Noch immer saß der sauerbärtige Lukaçek auf seinem Tisch, das Ärmelkleid für die Alte fertigend, als sie an seiner offenen Tür vorüberschritten, um die fast leiterartige Stiege zum Dachgeschoß zu gewinnen. Das war übrigens, klar geschaut, gar kein Geschoß. Es war ein-fach der Dachstuhl, mit nacktem Gebälk unter der Innenseite der Schindeln und mit der sommerlichen Atmosphäre des Spei-chers, dem Geruch warmen Holzes. Aber der Dachstuhl enthielt zwei Kammern, und diese bewohnte der republikanische Kapi-talist, sie dienten dem schöngeistigen Mitarbeiter an der "So-ziologie der Leiden" als Studio und Schlafkabinett. Mit Heiter-keit zeigte er sie den jungen Freunden, nannte das Komparti-ment separiert und traulich, um ihnen die richtigen Worte ah die Hand zu geben, deren sie sich zum Lobe bedienen mochten, – was sie denn einstimmig taten. Es sei ganz reizend, fanden sie beide, separiert und traulich, genau wie er sage. Sie taten einen Blick ins Schlafzimmerchen, wo vor der schmalen und kurzen Bettstatt im Mansardenwinkel ein kleiner Flickenteppich lag, und wandten sich dann dem Arbeitsraum wieder zu, der nicht weniger notdürftig ausgestattet war, dabei aber eine gewisse pa-rademäßige und sogar frostige Ordnung aufwies. Plumpe und altmodische Stühle, vier an der Zahl, mit Sitzflächen aus Stroh, waren symmetrisch zu Seiten der Türen aufgestellt, und auch der Diwan war an die Wand gerückt, so daß der grüngedeckte Rundtisch, auf dem zum Schmuck oder zur Erquickung und je-denfalls nüchternerweise eine Wasserflasche mit über den Hals gestülptem Glase stand, einsam die Mitte des Zimmers hielt.
Bücher, gebunden und broschiert, lehnten auf einem kleinen Wandbord schräg aneinander, und bei dem offenen Fensterchen ragte hochbeinig ein leichtgezimmertes Klapp-Pult mit einem kleinen, dicken Bodenbelag aus Filz davor, eben groß genug, um darauf stehen zu können. Hans Castorp nahm einen Augen-blick probeweise hier Aufstellung, – an Herrn Settembrinis Ar-beitsstätte, wo er die schöne Literatur zu enzyklopädischen Zwecken unter dem Gesichtspunkt der menschlichen Leiden behandelte, – stützte die Ellbogen auf die schräge Platte und ur-teilte, daß es sich hier separiert und traulich stehe. So, meinte er, mochte Lodovicos Vater einst zu Padua an seinem Pulte gestan-den haben, mit seiner Nase so lang und fein, – und erfuhr, daß es wirklich das Arbeitspult des verstorbenen Gelehrten sei, vor dem er stehe, ja, auch die Strohstühle, der Tisch und selbst die Wasserflasche stammten aus dessen Besitz, und mehr noch: die Strohstühle hatten sogar schon dem Großvater Carbonaro ge-hört, zu Mailand hatten sie die Wände seines Advokatenbureaus geschmückt. Das war eindrucksvoll. Die Physiognomie der Stühle gewann etwas politisch Wühlerisches in den Augen der jungen Leute, und Joachim verließ den seinen, auf dem er nichtsahnend mit übergeschlagenem Beine gesessen hatte, be-trachtete ihn mißtrauisch und nahm ihn nicht wieder ein. Hans Castorp aber, am Stehpult Settembrinis des Älteren, bedachte, wie nun der Sohn daran wirke, indem er die Politik des Groß-vaters mit dem Humanismus des Vaters zur schönen Literatur vereinige. Dann gingen sie alle drei. Der Schriftsteller hatte sich erboten, die Vettern heimzugeleiten.
Sie schwiegen ein Stück Weges, aber ihr Schweigen handelte von Naphta, und Hans Castorp konnte warten: er war gewiß, daß Herr Settembrini auf seinen Hausgenossen zu sprechen kommen werde, ja, daß er zu diesem Zweck mit ihnen gegan-gen sei. Er täuschte sich nicht. Nach einem Aufatmen, das einem Anlauf gleichkam, begann der Italiener:
"Meine Herren – ich möchte Sie warnen."
Da er eine Pause eintreten ließ, so fragte Hans Castorp natür-lich mit falscher Verwunderung: "Wovor?" Er hätte wenigstens fragen können: "Vor wem?" aber er faßte sich unpersönlich, um seine ganze Unschuld zu bekunden, während doch sogar Joachim genau Bescheid wußte.
"Vor der Persönlichkeit, deren Gäste wir soeben waren", antwortete Settembrini, "und deren Bekanntschaft ich Ihnen gegen Wunsch und Absicht vermittelt habe. Sie wissen, der Zufall wollte es, und ich konnte nicht umhin; aber ich trage die Ver-antwortung und trage schwer daran. Es ist meine Pflicht, Ihre Jugend wenigstens auf die geistigen Gefahren hinzuweisen, die sie im Umgang mit diesem Manne läuft, und Sie übrigens zu bitten, den Verkehr mit ihm in weisen Grenzen zu halten. Seine Form ist Logik, aber sein Wesen ist Verwirrung."
Na, allerdings, meinte Hans Castorp, so ganz geheuer sei es ja wohl gerade nicht mit Naphta, ein bißchen sonderbar muteten seine Reden wohl manchmal an; es hätte ja geradezu geklungen, als wollte er wahrhaben, daß die Sonne sich um die Erde drehe. Doch schließlich, wie hätten sie, die Vettern, auf den Gedanken kommen sollen, es könne unratsam sein, mit einem Freunde von ihm, Settembrini, in gesellschaftlichen Verkehr zu treten? Er sage es selbst: durch ihn hätten sie Naphta kennengelernt, mit ihm hätten sie ihn getroffen, er gehe mit ihm spazieren, er komme zwanglos zu ihm zum Tee herunter, das beweise doch – .
"Gewiß, Ingenieur, gewiß." Herrn Settembrinis Stimme klang sanft, resigniert und enthielt doch ein leises Beben. "Dies läßt sich mir erwidern, und darum erwidern Sie es mir. Gut, ich verantworte mich bereitwillig. Ich lebe mit diesem Herrn unter einem Dach, Begegnungen sind unvermeidlich, ein Wort gibt das andere, man macht Bekanntschaft. Herr Naphta ist ein Mann von Kopf – das ist selten. Er ist eine diskursive Natur – ich bin es auch. Verurteile mich, wer will, aber ich mache Gebrauch von der Möglichkeit, mit einem immerhin ebenbürtigen Gegner die Klinge der Idee zu kreuzen. Ich habe niemanden weit und breit … Kurz, es ist wahr, ich komme zu ihm, er kommt zu mir, wir promenieren auch miteinander. Wir streiten. Wir streiten uns aufs Blut, fast jeden Tag, aber ich gestehe, die Gegensätz-lichkeit und Feindseligkeit seiner Gedanken bildet einen Reiz mehr für mich, mit ihm zusammenzutreffen. Ich brauche die Friktion. Gesinnungen leben nicht, wenn sie keine Gelegenheit haben, zu kämpfen, und – ich bin in den meinen gefestigt. Wie könnten Sie von sich dasselbe behaupten – Sie, Leutnant, oder auch Sie, Ingenieur? Sie sind ungewappnet gegen intellektuelles Blendwerk, Sie sind der Gefahr ausgesetzt, unter den Einwirkungen dieser halb fanatischen und halb boshaften Rabulistik Schaden zu nehmen an Geist und Seele."
Ja, ja, sagte Hans Castorp, wohl wahr, sein Vetter und er, sie seien wohl mehr oder weniger bedrohte Naturen. Es sei die Ge-schichte mit den Sorgenkindern des Lebens, er verstehe. Aber demgegenüber könne man ja Petrarca anführen mit seinem Wahlspruch, Herr Settembrini wisse schon, und hörenswert sei es doch unter allen Umständen, was Naphta so vorbringe: man müsse gerecht sein, das mit der kommunistischen Zeit, für deren Ablauf niemand eine Prämie bekommen dürfe, sei vorzüg-lich gewesen, und dann habe es ihn auch sehr interessiert, eini-ges über Pädagogik zu hören, was er ohne Naphta wohl nie zu hören bekommen hätte …
Herr Settembrini preßte die Lippen zusammen, und so beeil-te sich Hans Castorp hinzuzufügen, daß er selbst sich natürlich jeder Partei – und Stellungnahme enthalte, nur eben hörenswert habe er es gefunden, was Naphta über die Lust der Jugend ge-sagt habe.
"Erklären Sie mir aber nun erst einmal eines!" fuhr er fort. "Da hat nun dieser Herr Naphta – ich sage 'dieser Herr', um an-zudeuten, daß ich durchaus nicht unbedingt mit ihm sympathisiere, sondern mich im Gegenteil innerlich höchst reserviert verhalte –"
"Woran Sie wohltun!" rief Settembrini dankbar.
" – Da hat er nun also eine Menge gegen das Geld geredet, die Seele des Staates, wie er sich ausdrückt, und gegen das Ei-gentum, weil es Diebstahl sei, kurz, gegen den kapitalistischen Reichtum, von dem er, glaube ich, sagte, er sei der Brennstoff des höllischen Feuers – so drückte er sich annähernd einmal aus, wenn ich nicht irre, und lobte das mittelalterliche Zinsverbot in allen Tönen. Und dabei, er selbst… Entschuldigen Sie, aber er muß doch … Es ist ja eine Überraschung sondergleichen, wenn man so bei ihm eintritt. All die Seide …"
"Ei, ja", lächelte Settembrini, "das ist eine charakteristische Geschmacksrichtung."
" … die schönen alten Meubles", erinnerte sich Hans Castorp weiter, "die Pietà aus dem vierzehnten Jahrhundert… Der venezianische Kronleuchter… der kleine Heiduck in Livree … und beliebig viel Schokoladebaumkuchen gab es auch … Er muß doch für seine Person –"
"Herr Naphta", antwortete Settembrini, "ist für seine Person so wenig Kapitalist wie ich."
"Aber?" fragte Hans Castorp … "Es ist nun ein Aber fällig in Ihrer Rede, Herr Settembrini."
"Nun, die dort lassen keinen darben, der zu ihnen gehört."
"Wer, "die dort'?"
"Jene Vater."
"Väter? Vater?"
"Aber, Ingenieur, ich meine die Jesuiten!"
Das gab eine Pause. Die Vettern zeigten größte Betroffenheit. Hans Castorp rief: "Was, Himmel, Kreuz, verflucht nochmal – der Mann ist ein Jesuit?!"
"Sie haben es erraten", sprach Herr Settembrini fein.
"Nein, nie im Leben hätte ich … Wer kommt denn auf so was! Darum also haben Sie ihn Padre tituliert?"
"Das war eine kleine Höflichkeitsübertreibung", entgegnete Settembrini. "Herr Naphta ist nicht Pater. Die Krankheit ist schuld daran, daß er es vorderhand nicht soweit gebracht hat. Aber er hat das Noviziat absolviert und die ersten Gelübde ge-tan. Die Krankheit zwang ihn, seine theologischen Studien zu unterbrechen. Er hat dann noch einige Jahre als Präfekt in ei-nem Ordensinstitut Dienst verrichtet, das heißt: als Aufseher, Präceptor, Gouverneur der jungen Zöglinge. Das kam seinen pädagogischen Neigungen entgegen. Hier kann er ihnen weiter nachhängen, indem er am Fridericianum Lateinisch lehrt. Er ist seit fünf Jahren hier. Es ist unsicher geworden, ob und wann er diesen Ort wird verlassen dürfen. Aber er ist Angehöriger des Ordens, und wäre er ihm selbst lockerer verbunden, es könnte ihm nirgends fehlen. Ich sagte Ihnen, daß er für seine Person arm, will sagen: besitzlos ist. Natürlich, das ist Vorschrift. Aber der Orden verfügt über ungemessene Reichtümer, und er sorgt für die Seinen, wie Sie sahen."
"Donner-keil", murmelte Hans Castorp. "Und ich habe überhaupt nicht gewußt und gedacht, daß es sowas in allem Ernste noch gäbe! Ein Jesuit. Ja so! … Aber sagen Sie mir eins: Wenn er nun also von dorther so wohl versorgt und versehen ist – warum in aller Welt wohnt er dann … Ich will gewiß Ih-rem Logis nicht zu nahe treten, Herr Settembrini, Sie haben es reizend bei Lukaçek, so angenehm separiert und außerdem be-sonders traulich. Ich meine aber: wenn Naphta es nun doch so dicke hat, um mich gewöhnlich auszudrücken – warum nimmt er sich nicht eine andere Wohnung, statiöser, mit ordentlichem Aufgang und großen Zimmern, in einem feinen Haus? Es hat ja direkt was Verstecktes und Abenteuerliches, wie er da in dem Loch mit all seiner Seide …"
Settembrini zuckte die Achseln.
"Es müssen wohl Takt – und Geschmacksgründe sein", sagte er, "die ihn dazu bestimmen. Ich nehme an, er verbessert sein antikapitalistisches Gewissen, indem er die Zimmer eines Ar-men bewohnt, und sich schadlos hält durch die Art, wie er sie bewohnt. Auch Diskretion wird im Spiele sein. Man bindet es den Leuten nicht auf die Nase, wie gut einen der Teufel von hinten versorgt. Man schützt eine recht unscheinbare Fassade vor und entfaltet dahinter seinen seidenen Priestergeschmack …"
"Hochmerkwürdig!" sagte Hans Castorp. "Absolut neu und geradezu aufregend für mich, wie ich gestehe. Nein, wir sind Ihnen wirklich zu Dank verbunden, Herr Settembrini, für diese Bekanntschaft. Wollen Sie glauben, daß wir noch manches liebe Mal hingehen werden und ihn besuchen? Das ist ausgemacht. So ein Umgang erweitert ja den Horizont in ganz unverhoff-tem Grade und gibt Einblick in eine Welt, von deren Existenz man keine blasse Ahnung hatte. Ein richtiger Jesuit! Und wenn ich sage: 'richtig', so gebe ich mir selbst das Stichwort, für das, was mir durch den Kopf geht, und was ich denn doch noch be-merken muß. Ich frage: Ist er denn richtig? Ich weiß wohl, Sie meinen, daß es überhaupt nicht richtig ist mit einem, den der Teufel von hinten versorgt. Was ich aber meine, läuft auf die Fragestellung hinaus: Ist er richtig als Jesuit – das geht mir im Kopf herum. Er hat da Dinge geäußert – Sie wissen, welche ich meine – über den modernen Kommunismus und über den Got-teseifer des Proletariats, das seine Hand nicht zurückhalten soll vom Blute – kurzum, Dinge, ich sage nichts weiter darüber, aber Ihr Großvater mit seiner Bürgerpike war ja das reine Lämmlein dagegen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Geht denn das? Hat das die Zustimmung seiner Vorgesetzten? Verträgt es sich mit der römischen Lehre, für die doch der Orden in aller Welt intrigieren soll, soviel ich weiß? Ist es nicht – wie heißt das Wort – häretisch, abweichend, inkorrekt? Das überlege ich mir bezüglich Naphtas und hörte gern, was Sie denken."
Settembrini lächelte.
"Sehr einfach. Herr Naphta ist allerdings in erster Linie Jesuit, ist es recht und ganz. Zum zweiten aber ist er ein Mann von Geist – ich würde sonst nicht seine Gesellschaft suchen –, und als solcher trachtet er nach neuen Kombinationen, Anpassungen, Anknüpfungen, zeitgemäßen Abwandlungen. Sie sahen mich selbst überrascht durch seine Theorien. Er hatte sich mir so weitgehend noch nicht offenbart. Ich benutzte die Anregung, die ihm sichtlich Ihre Gegenwart gewährte, um ihn zu reizen, in gewisser Beziehung sein letztes Wort zu sagen. Es lautete schnurrig genug, gräßlich genug …"
"Ja, ja; aber warum ist er nicht Pater geworden? Er hätte doch wohl das Alter dazu."
"Ich sagte Ihnen ja, daß die Krankheit es war, die ihn vorläufig daran gehindert hat."
"Gut, aber meinen Sie nicht: wenn er erstens Jesuit ist und zweitens ein Mann von Geist, mit Kombinationen – daß dies zweite, Hinzukommende, mit der Krankheit zu tun hat?"
"Was wollen Sie damit sagen?"
"Nein, nein, Herr Settembrini. Ich meine nur: er hat eine feuchte Stelle, und die hindert ihn, Pater zu werden. Aber seine Kombinationen hätten ihn auch wohl daran gehindert, und in-sofern – gewissermaßen, gehören die Kombinationen und die feuchte Stelle zusammen. Er ist auf seine Art auch so was wie ein Sorgenkind des Lebens, ein joli jésuite mit einer petite tache humide."
Sie hatten das Sanatorium erreicht. Auf der Plattform vorm Hause blieben sie noch etwas stehen, bevor sie sich trennten, traten zu einer kleinen Gruppe zusammen, während ein paar Pa-tienten, die am Portal herumlungerten, ihrem Gespräche zusa-hen. Herr Settembrini sagte:
"Um es zu wiederholen, meine jungen Freunde, ich warne Sie. Ich kann Ihnen nicht verwehren, die einmal gemachte Be-kanntschaft zu kultivieren, wenn die Neugier Sie dazu treibt. Aber wappnen Sie Herz und Geist dabei mit Mißtrauen, lassen Sie es niemals fehlen an kritischem Widerstand. Ich werde Ihnen diesen Mann mit einem Worte kennzeichnen. Er ist ein Wollüstiger."
Die Gesichter der Vettern verzogen sich. Dann fragte Hans Castorp:
"Ein … wie? Erlauben Sie, er ist doch Ordensmann. Da sind ja bestimmte Gelübde zu leisten, soviel ich weiß, und außerdem ist er so miekerig und leibarm …"
"Sie reden töricht, Ingenieur", erwiderte Herr Settembrini. "Das hat mit Leibarmut gar nichts zu tun, und was die Gelübde betrifft, so gibt es da Vorbehalte. Ich sprach jedoch in einem weiteren und geistigeren Sinn, für den ich nachgerade Verständ-nis bei Ihnen sollte voraussetzen dürfen. Erinnern Sie sich wohl noch, wie ich Sie eines Tages auf Ihrem Zimmer besuchte – es ist lange her, furchtbar lange – , Sie absolvierten eben die Bett-ruhe nach erfolgter Aufnahme …"
"Selbstverständlich! Sie traten in der Dämmerung ein und machten Licht, ich weiß es wie heute …"
"Gut, damals kamen wir im Plaudern, wie es gottlob des öf-teren geschieht, auf höhere Gegenstände. Ich glaube gar, wir sprachen von Tod und Leben, von den Würden des Todes, inso-fern er Bedingung und Zubehör des Lebens ist, und von der Fratzenhaftigkeit, der er verfällt, wenn der Geist ihn abscheulicherweise als Prinzip isoliert. Meine Herren!" fuhr Herr Settembrini fort, indem er dicht vor die beiden jungen Leute hin-trat, Daumen und Mittelfinger der Linken gabelförmig gegen sie spreizte, gleichsam, um sie zur Aufmerksamkeit zusammen-zufassen, und den Zeigefinger der Rechten mahnend erhob … "Prägen Sie sich ein, daß der Geist souverän ist, sein Wille ist frei, er bestimmt die sittliche Welt. Isoliert er dualistisch den Tod, so wird derselbe durch diesen geistigen Willen wirklich und in der Tat, actu, Sie verstehen mich, zur eigenen, dem Leben entgegengesetzten Macht, zum widersacherischen Prinzip, zur großen Verführung, und sein Reich ist das der Wollust. Sie fragen mich, warum der Wollust? Ich antworte Ihnen: weil er löst und erlöst, weil er die Erlösung ist, aber nicht die Erlösung vom Übel, sondern die üble Erlösung. Er löst Sitte und Sittlich-keit, er erlöst von Zucht und Haltung, er macht frei zur Wollust. Wenn ich Sie warne vor dem Manne, dessen Bekanntschaft ich Ihnen ungern vermittelte, wenn ich Sie auffordere, im Verkehr und Diskurs mit ihm Ihre Herzen dreimal mit Kritik zu umgürten, so geschieht es, weil alle seine Gedanken wollüstiger Art sind, denn sie stehen unter dem Schutze des Todes, – einer höchst liederlichen Macht, wie ich Ihnen damals sagte, Inge-nieur, – ich erinnere mich wohl meines Ausdrucks, ich behalte tüchtige und treffliche Äußerungen, die zu tun ich Gelegenheit fand, stets im Gedächtnis – , einer gegen Gesittung, Fortschritt, Arbeit und Leben gerichteten Macht, vor deren mephitischem Hauch junge Seelen zu. schützen des Erziehers vornehmste Pflicht ist."
Man konnte nicht besser sprechen als Herr Settembrini, nicht klarer und gerundeter. Hans Castorp und Joachim Ziemßen be-dankten sich recht schön bei ihm für das Gehörte, empfahlen sich und erstiegen das Berghofportal, während Herr Settembrini, eine Treppe über Naphtas seidene Zelle hinaus, an sein Hu-manistenpult zurückkehrte.
Es war der erste Besuch der Vettern bei Naphta, dessen Verwir hier festhielten. Seither waren demselben zwei oder drei weitere gefolgt, einer sogar in Abwesenheit Herrn Settembrinis; und auch sie lieferten dem jungen Hans Castorp Stoff zur Betrachtung, wenn er, indes das Hochgebild, genannt Homo Dei, seinem inneren Auge vorschwebte, an dem blaublühenden Ort seiner Zurückgezogenheit saß und "regierte".