Читать книгу Der Mörder bringt das Alibi Berlin 1968 Kriminalroman Band 62 - Tomos Forrest - Страница 8
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Karsten Jansen erreichte die dritte Etage. Er hatte Gummisohlen unter den Schuhen und bewegte sich nahezu lautlos. Den Revolver hielt er in seiner behandschuhten Rechten. Ein Schalldämpfer ließ die Waffe ungewöhnlich groß und klobig erscheinen.
Jansen bezweifelte, ob der Schalldämpfer in dieser Umgebung sinnvoll war, aber das Ding konnte auf keinen Fall schaden, in dem leeren Haus musste jeder Schuss für ein schallendes Echo sorgen.
Die meisten Wohnungen waren ohne Türen. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde längst herausgeschleppt.
Jansen befand sich im Hause Nr. 27. Die Zahl löste eine Gedankenverbindung in ihm aus. Sein erstes und einziges Mordopfer war 27 gewesen. Der schöne Mario!
Um ein Haar hätte Mario ihn mit ins Grab gerissen, zumindest war er, Karsten Jansen, im Gefängnis gelandet. Lebenslang war ihm so gut wie sicher gewesen, aber dann war eines Tages dieser superclevere Noah Franzen aufgetaucht und hatte sein Angebot gemacht - Franzen, der Retter.
So hatte es ausgesehen, so hatte es sich auch bestätigt. Erst sehr viel später war klargeworden, dass Noah Franzens Fantasie und Vielseitigkeit noch eine weitere, ganz besondere Facette aufwiesen - Franzen, der Erpresser.
Karsten Jansen stoppte, als er Stimmen hörte. Er näherte sich auf Zehenspitzen einer der wenigen Türen, die sich noch in ihrem Rahmen befanden. Behutsam presste er sein Ohr gegen die von abblätternder Farbe bedeckte Füllung. Er vernahm Franzens Stimme.
„Du musst dich entscheiden, Junge! Entweder du handelst egozentrisch und versinkst in Selbstmitleid, entweder du fährst als Penner zur Hölle - oder du trittst als großer Held ab.“
Karsten Jansen begriff sofort, worum es ging. Noah Franzen war wieder einmal unterwegs, um sich als Top-Mann seines höchst ungewöhnlichen Berufs zu bewähren. Er war nicht nur ein Retter für jene, die in ihrer Bedrängnis jeden geforderten Preis zahlten. Er war nicht bloß ein gemeiner Erpresser, er war hauptsächlich ein Mörder-Macher.
Karsten Jansen glaubte jedenfalls zu wissen, dass sich hinter Franzen eine Organisation verbarg. Sie war möglicherweise nicht groß, ein Team von Spezialisten - aber Franzen war ihr Kopf, ohne ihn würde sie zusammenbrechen.
„Geben Sie mir Zeit“, bat die zittrige Stimme von Franzens Gesprächspartner.
„Wir haben keine“, erklärte Franzen. „Wir müssen an deinen Zustand denken. Wie viele Monate bleiben dir noch? Zwei oder drei? Ich brauche mindestens eine Woche, um dich wieder menschlich aussehen zu lassen, eine weitere Woche, um dich für die zu erwartenden Verhöre zu präparieren.“
„Ich bin kein Krimineller! Mit einem Vorschlag dieses Kalibers muss ich mich gründlich auseinandersetzen, und zwar in Ruhe. Wie steht es übrigens mit Garantien für das versprochene Geld? Wer sind Sie? Wer sagt mir, dass Sie nicht vorhaben, mich aufs Kreuz zu legen?“
„Du kriegst deine Garantien. Und das Geld. Aber vorher musst du wissen, was du willst. Ich gebe dir vierundzwanzig Stunden Zeit, nicht mehr und nicht weniger“, sagte Franzen.
Karsten Jansen zuckte herum und huschte zur Treppe, eilte ein paar Stufen höher. Die Tür wurde aufgestoßen. Noah Franzen verließ die Wohnung und blieb nach einigen Schritten stehen. Er schien etwas vergessen zu haben und noch einmal umkehren zu wollen, aber dann setzte er seinen Weg fort.
Karsten Jansen hielt die Luft an, sein Herzschlag beschleunigte sich. Er fühlte sich fabelhaft, wie in alten Zeiten. Es tat ihm gut, die innere Spannung zu kontrollieren und zu wissen, was ihn erwartete.
Franzen hatte die Treppe erreicht und stieg sie hinab. Er pfiff leise vor sich hin und glaubte, mit sich zufrieden sein zu dürfen. Mannig würde mitziehen, er hatte keine Wahl.
Plötzlich stoppte Franzen. Er spürte, dass jemand hinter ihm war. Ein merkwürdiges Gefühl kroch ihm über die Haut, es zog sich bis unter das Nackenhaar. Er wandte den Kopf und blickte über seine Schulter geradewegs in die auf ihn gerichtete Schalldämpfermündung.
„Hallo, Mörder-Macher!“, begrüßte Jansen ihn leise.
„Jansen, Menschenskind!“, stieß Franzen hervor und drehte sich um. „Ich habe Sie seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Was, zum Teufel, bedeutet das Ganze?“
„Keine falsche Bewegung“, warnte Jansen. Sein Finger lag am Druckpunkt des Abzugs.
Franzens Sakko war geschlossen, aber unter dem dünnen, dunkelblauen Stoff zeichneten sich klar die Konturen des im Hosenbund steckenden Revolvers ab.
Jansen grinste. Er war nur durch vier Stufen von Noah Franzen getrennt, aber er fühlte sich ihm turmhoch überlegen.
„Du hast eine Million von mir kassiert, Franzen“, sagte er leise. „Eine ganze Million! Ich denke, das war mehr als genug für die von dir erbrachte Leistung. Was mich betrifft, so hat mir das Geld niemals leidgetan. Es war die beste und klügste Investition meines Lebens. Warum konntest du mit diesem Superhonorar nicht zufrieden sein?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Jansen“, sagte Franzen. „Habe ich jemals mehr von Ihnen verlangt, als abgesprochen war?“
„Oh nein, das besorgt dein Strohmann. Er hat versucht, mir eine weitere Million abzuknöpfen. Wenn er sie bekäme, ginge es endlos so weiter. Die Detailkenntnisse des Erpressers zeigen deine Handschrift. Ganz klar! Du kannst es dir nicht leisten, in vorderster Linie zu kämpfen, aber du bist und bleibst der Drahtzieher des Geschehens.“
„Wir setzen uns zusammen und besprechen das Ganze in aller Ruhe“, schlug Franzen vor. „Da muss es ein Sicherheitsleck geben. Ich bin doch nicht verrückt! Ich habe es nicht nötig, meine eigenen Klienten zu erpressen.“
„Drehe dich mit der Visage zur Wand und lege deine schmutzigen Pfoten dagegen!“, befahl Jansen.
Noah Franzen gehorchte. Er hatte nicht vor, seinen Gegner auszutricksen oder gar über den Haufen zu schießen. Wer schlachtete schon eine Milchkuh? Von einem toten Jansen wäre nichts zu holen gewesen.
Irgendetwas war schiefgelaufen, aber Noah Franzen traute sich zu, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Jansen klopfte nur mal auf den Busch, beweisen konnte er nichts.
Situationen wie diese waren ganz nach Noah Franzens Geschmack. Sie boten ihm die Möglichkeit, mit seinem Können, seiner Cleverness und seiner Argumentationstechnik zu brillieren.
Karsten Jansen trat hinter Franzen, rammte ihm den Schalldämpfer in den Rücken und holte mit der Linken den Revolver aus dem Hosenbund.
„Gehen wir“, sagte Jansen.
Sie erreichten die Straße, kletterten in Franzens Citroen und fuhren los. Franzen lenkte den Wagen, Jansen saß im Fond. Er deckte die Waffe mit seinem Sporthütchen ab.
„Ich schwöre Ihnen, dass ich mit der Sache nichts zu tun habe“, sagte Noah Franzen. „Wenn es stimmt, dass Sie erpresst werden, müssen wir etwas dagegen unternehmen. Gemeinsam! Ich habe ein natürliches Interesse daran, dass die Hintermänner ermittelt und zur Rechenschaft gezogen werden - schließlich steht dabei auch meine Sicherheit auf dem Spiel.“
Karsten Jansen schwieg und blickte auf die vorüberziehende Umgebung.
„Wohin fahren wir?“, erkundigte sich Franzen. „Zu Ihnen oder zu mir?“
Jansen blickte auf Franzens massiven Nacken. Die Muskelstränge waren von markanter Beschaffenheit und signalisierten Franzens wachsame Spannung. Zwischen Haaransatz und Kragen befand sich ein daumenbreiter Hautstreifen.
Jansen hob die Waffe. Er war ganz ruhig.
„Ich fahre nach Hause“, erklärte er, „und du fährst in die Hölle.“
Er zielte und drückte ab. Karsten Jansen ließ im Hochspringen die Waffe fallen, er beugte sich über den Vordersitz und den zur Seite rutschenden Fahrer hinweg und brachte den Citroen zum Stehen, noch ehe der Wagen außer Kontrolle geraten konnte. Karsten Jansen ließ sich zurück in den Sitz fallen. Er hob den Revolver auf, stülpte sein Hütchen über die Glatze und spürte eine seltsame Schwäche in seinen Knien. Sie bereitete ihm keinen Kummer.
Im Gegenteil.
Er hatte sein Ziel erreicht. Noah Franzen war tot.
Jansen legte die Waffe seines Opfers in den Handschuhkasten und wartete, bis der Schalldämpfer seines Revolvers abgekühlt war, dann zog er ihn vom Lauf und ließ ihn in seiner Jackentasche verschwinden. Den Revolver schob er in sein Schulterhalfter.
Jansen stieg aus und ging zurück zu dem Wagen, mit dem er gekommen war, kletterte hinein, startete die Maschine und hatte erneut das beklemmende Gefühl, beobachtet zu werden.
Er fuhr in Richtung Innenstadt und stellte den gestohlenen Wagen auf dem Parkplatz eines Supermarktes ab. Dann ging er hinein, kaufte wahllos ein paar Kleinigkeiten und begab sich mit der gefüllten Einkaufstüte zur Toilette. Dort verstaute er Schalldämpfer und Revolver unter dem Erworbenen. Die auffälligen Handschuhe hatte er bereits nach dem Verlassen des Wagens abgestreift. Zehn Minuten später saß er in einem Taxi, das ihn nach Hause brachte.
Er atmete auf, als er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss drückte, dann ging er in die Küche und verstaute den Revolver hinter der Bodenleiste der Geschirrspülmaschine. Den Schalldämpfer legte er dazu. Er befestigte die Leiste wieder in ihrer Verankerung, richtete sich auf und ging ins Wohnzimmer. Dort genehmigte er sich ein Bier, das er kalt aus dem Kühlschrank nahm und gleich aus der Flasche trank.
Er setzte sich in einen Sessel, stellte den Polizeifunk ein, legte die Beine hoch und wartete gutgelaunt auf die offizielle Nachricht vom Tod Noah Franzens.