Читать книгу Sklavenjagd - Tomàs de Torres - Страница 7
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Als Dolores erwachte, war es beinahe halb zehn, und der Duft von Kaffee und frischen Hörnchen schwebte in der Luft. Jorge hatte bereits eingekauft und erwartete sie in der Küche. Er winkte ihr fröhlich entgegen, als sie, noch im Nachthemd und mit verschlafenen Augen, aus dem Schlafzimmer stolperte.
Es wurde das harmonischste Frühstück seit Monaten. Jorge schien wie ausgewechselt, schien ein völlig anderer Mensch zu sein als der, der sie am vorangegangenen Abend so barsch empfangen hatte. Dolores bemühte sich, alles zu tun, um ihn in dieser selten gelösten Stimmung zu halten, denn so liebte sie ihn – solche Momente ließen sie allen Unwillen, alle seine Fehler vergessen. Ein Gefühl freudiger Erwartung durchströmte sie; sie fühlte sich beschwingt, beinahe glücklich. Vielleicht würde dieser Tag in einem romantischen Abend zu zweit ausklingen, nach einer erfolgreichen Premiere, in einem der gemütlichen kleinen Restaurants, von denen es so viele gab in diesem Städtchen. Bei diesem Gedanken fiel ihr ein, dass sie sich in der Nacht gar nicht nach dem Verlauf der Generalprobe erkundigt hatte, und sie holte dies nun nach, um ihm zu zeigen, dass seine Arbeit ihr nicht gleichgültig war.
Doch kaum hatte sie die Frage ausgesprochen, wünschte sie sich, sie hätte es nicht getan. Jorges Mundwinkel fielen herab, und sein Gesicht wurde düster.
»Geht so«, knurrte er.
Krampfhaft, beinahe verzweifelt suchte Dolores nach einem anderen Thema. »Bleibst du noch lange hier in Antequera?«, fragte sie schließlich.
Er zuckte mit den Schultern, ohne sie dabei anzusehen. »Zwei oder drei Wochen, wenn das Stück nicht vorher abgesetzt wird.« Endlich blickte er auf. »Wann fährst du nach Málaga zurück? Montag früh?«
Dolores überlegte fieberhaft. Darüber hatte sie sich noch keine Gedanken gemacht. Sie erinnerte sich an die verbeulte Front des Saxo; sie hatte immer noch keine Gelegenheit gehabt, sich den Schaden bei Tageslicht anzusehen. Nein, Montag früh herrschte für ihren Geschmack zu viel Verkehr. Am Sonntagmorgen hingegen war so gut wie nichts los, nicht einmal auf der Autobahn.
»Ich dachte an morgen früh«, antwortete sie schließlich zögernd, wohl wissend, dass Jorge darüber wahrscheinlich alles andere als glücklich sein würde.
Doch seine Reaktion übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen: Unvermittelt schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die leeren Teller und Tassen klirrten. Seine braunen Augen blitzten vor Wut, seine Lippen pressten sich zusammen, und Dolores erkannte plötzlich, dass dies sein wahres Gesicht war, dass all seine gute Laune an diesem Morgen, seine Aufmerksamkeiten und seine Liebenswürdigkeit, wieder einmal nichts weiter als eine Rolle gewesen waren, die der Schauspieler Jorge Clavo Delgado gegeben hatte. Sein Erfolg auf der Bühne mochte mäßig sein – sie hingegen fiel ständig auf ihn herein.
»Du denkst doch nur daran, so schnell wie möglich in die Sicherheit deiner vier Wände, in deine winzige kleine Welt zurückzukehren!«, fuhr er sie an.
Dolores war bleich geworden, noch bleicher als gewöhnlich, und in ihrem Stuhl zusammengesunken. Sein Ausbruch erschreckte sie, doch seine Worte schmerzten, weil sie selbst nur zu gut wusste, wie recht er hatte. Denn auch wenn der Wagen in Ordnung gewesen wäre, wenn dieser unfassbare Unfall, den sie ihrem Freund niemals erzählen konnte, nicht geschehen wäre, sehnte sie sich in ihr Zuhause zurück, in ihre »winzige kleine Welt«, die ihr Schutz und Sicherheit vor der »großen Welt« draußen bot.
Und Jorge setzte noch eins drauf: »Du bist eine absolute Niete! Du gehst nicht einmal auf Partys! Und alles nur wegen deiner eingebildeten Agoraphobie!«
Dolores kämpfte gegen die Tränen an. »Die ist nicht eingebildet, meine Agoraphobie!«, brachte sie schließlich hervor. »Sie ist genauso real wie … wie dieser Tisch hier!« Sie schlug auf die Glasplatte; Wut und Hilflosigkeit über sein völliges Unverständnis lagen in dieser Geste. »Auch wenn damals meine Therapie erfolgreich verlaufen ist, bedeutet das nicht, dass die Phobie verschwunden ist! Sie kann jederzeit wieder durchbrechen, in einer … bedrohlichen Situation …«
Oh ja, fügte sie in Gedanken hinzu, wenn du nur wüsstest, wie wahr das ist!
Abrupt sprang Jorge auf und wandte ihr den Rücken zu, sah durch das Küchenfenster hinunter auf die Straße. Aber sein Ausbruch war noch nicht beendet.
»Du pflegst deine Ängste, behütest und hätschelst sie! Du gibst ihnen nach, ergibst dich ihnen, anstatt dich ihnen zu stellen! Und wenn du das schon nicht kannst, wenn du nicht die Kraft und den Mut dazu aufbringst, dann versuche wenigstens, sie zu überspielen! So zu tun, als gebe es sie nicht – als seist du eine Frau wie jede andere!«
Dolores schüttelte den Kopf, unfähig zu antworten. Sie wusste, dass er recht hatte, zumindest von seiner Warte aus gesehen, doch wenn er ihre Probleme schon so klar erkannte, warum, zum Teufel, verstand er dann nicht, dass sie nicht anders konnte, dass sie diesen Teufelskreis von Angst und der Angst vor dieser Angst nicht durchbrechen konnte?
Sie wischte sich die Augen mit der Papierserviette ab, solange er noch zum Fenster hinausstarrte. Ihre Lippen zitterten, doch wenigstens konnte sie wieder sprechen, wenn auch stockend und abgehackt.
»Ich – ich bin keine Schauspielerin, die ihre wahren Gefühle verbergen kann.« So wie du. »Ich bin nun einmal so, wie ich bin; ich kenne meine Probleme und stehe zu ihnen«, ergänzte sie in einem Anflug von Trotz.
Er wirbelte herum und sein rechter Zeigefinger schoss auf sie zu, als sei sie eine Bühnenschauspielerin, die ihm soeben das Stichwort gegeben habe. »Das ist ja eben nicht der Fall! Du versuchst, jedes noch so kleine Problem zu vermeiden, flüchtest und verkriechst dich vor ihm, anstelle auch nur den Versuch zu unternehmen, dich ihm zu stellen und es zu lösen! Willst du endlos so weiterleben? Pah, du weißt ja gar nicht, was Leben heißt! Aber ich bin nicht so, ich will etwas von meinem Leben haben, es ist ja schließlich kurz genug!«
Wütend stapfte er davon und ließ eine zutiefst verunsicherte Dolores zurück.
Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!
Du bist eine absolute Niete! Du gehst nicht einmal auf Partys!
Das Geräusch der sich öffnenden Wohnungstür unterbrach den Teufelskreis ihrer Gedanken. Verwirrt schrak sie auf. Jorge hatte seine schwarze Jacke – er trug überhaupt meist Schwarz, was ihn in der Menge noch unauffälliger machte, als er ohnehin war – übergeworfen und war in die Schuhe geschlüpft.
»Du willst schon weg?«, fragte sie ungläubig. »Es ist noch nicht mal Mittag!«
Er zuckte mit den Schultern und stellte eine entschuldigende Miene zur Schau. »Du weißt ja, wie das ist mit einer Premiere – es gibt eine Menge vorzubereiten …«
Er war bereits zur Hälfte im Treppenhaus, als er sich noch einmal umwandte.
»Danach ist eine kleine Feier geplant, nur für das Ensemble und ein paar wichtige Leute – du brauchst also nicht im Theater auf mich zu warten! Ich weiß nicht, wann ich nach Hause komme!«
Die Tür schlug hinter ihm zu – neben demjenigen einer Totenglocke der bedrückendste Laut, den Dolores kannte.
Gegen halb zwei holte sie der Hunger wieder ein. Die Zwischenzeit – nicht weniger als drei Stunden, wie sie ohne große Überraschung feststellte, als sie sich erhob – hatte sie beinahe reglos zugebracht, zusammengesunken am Küchentisch, so, wie Jorge sie zurückgelassen hatte. Nur ihre Gedanken waren währenddessen umhergeschweift, waren durch jene endlose Landschaft von Zeit und Raum geglitten, manchmal auch gejagt, die sich im Geist eines Menschen auftat. Szenen aus ihrer frühesten Kindheit, des Glücks und der Geborgenheit, wechselten sich ab mit späteren, solchen des Schreckens und der Verzweiflung. Sie wusste, dass der Schlüssel – oder zumindest einer der Schlüssel – zu ihren Problemen in ihrer Kindheit zu suchen war; in einem Erlebnis, das so tief in ihrem Unterbewussten verschüttet war, dort verwahrt, behütet wurde, dass nicht einmal die Psychologen, die sich im Laufe der Jahre um sie bemüht hatten, imstande gewesen waren, es an die Oberfläche zu bringen und es damit zu entschärfen, wie ein Feuerwerker eine Fliegerbombe entschärft – sie ist dann zwar noch vorhanden, für jeden sichtbar, doch sie kann niemandem mehr schaden.
Und so war Dolores dankbar gewesen für den Weckruf ihres Magens. Sie zog ihre Schuhe an, steckte den Schlüsselbund in die Handtasche und machte sich zu Fuß auf den Weg.
Zu Beginn hielt sie sich ängstlich in der Deckung der Mauern der Häuser, wie sie es früher, vor ihrer Therapie, getan hatte, doch bald erkannte sie erleichtert, dass ihr das Überqueren von Straßen oder auch kleineren Plätzen keine Schwierigkeiten bereitete. Der Rückfall in der vergangenen Nacht – sie scheute sich, das Wort »Panikattacke« auch nur in Gedanken zu verwenden, als würde sein Gebrauch alle Dämonen der Vergangenheit wieder heraufbeschwören – schien ein einmaliger »Ausrutscher« gewesen zu sein, bedingt durch ihre im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Anspannung.
Schließlich aß sie in einem Restaurant, nur wenige Straßen weiter, das sie aus der Zeit kannte, als Teresa hier gewohnt hatte. Später streifte sie ein wenig durch die Stadt auf der Suche nach Zerstreuung. Die Zeit bis zum Abend, bis zum Beginn der Premiere, war lang, und Dolores fürchtete, dass der Abend selbst noch länger werden würde.
Irgendwann fand sie sich auf der Plaza vor der Kirche von Santa María la Mayor wieder, wo einige Mütter sich unterhielten, während sie Kinderwagen hin- und herschoben. Eine Handvoll Touristen fotografierte die eindrucksvolle Renaissance-Fassade des fünfhundert Jahre alten Gotteshauses. Dolores setzte sich auf eine Bank und sah dem Treiben eine Weile zu, bis sich ihr ein Paar näherte, eine Digitalkamera fragend ausgestreckt. Beide waren höchstens 25 Jahre alt, sie blond und hochgewachsen, ihre Finger mit mehreren Ringen geschmückt, die in der Nachmittagssonne glitzerten. Der Mann hatte dunkle, fast schwarze Haare und einen Kinnbart, der Dolores unwillkürlich an einen Ziegenbock erinnerte. Er redete sie in einer hart klingenden Sprache an, die sich irgendwie osteuropäisch anhörte. Dolores verstand die Worte nicht, jedoch das Lächeln und die Gesten, und sie lächelte zurück. Der Mann zeigte ihr, wie sie die Kamera auslöste, und sie schoss einige Bilder des Paares vor dem Hintergrund des dreigiebligen Frontispizes der Kirche sowie des auch aus der Ferne überaus eindrucksvollen Peña de los Enamorados, des »Felsens der Verliebten«, dessen doppelte, zur Seite geneigte Kuppe tatsächlich an ein Paar erinnerte, das im Begriff war, auf sein Liebeslager zu sinken.
Als sie den Fotoapparat zurückgab, bedankten sich die beiden mit freundlichem Lachen, und ehe Dolores das Vorhaben des Mannes erahnte, hatte dieser auch ein Bild von ihr gemacht. Dann schwenkte er zum Abschied immer noch lachend die Kamera, und beide wandten sich ab und zogen davon.
Dolores’ Lächeln war in dem Moment, als die elektronische Simulation eines Klickens ertönt war, eingefroren, denn dieser – wie sie es empfand – Einbruch in ihre Intimsphäre irritierte sie zutiefst. Sie hasste es, abgelichtet zu werden, nicht nur, weil sie sich für unansehnlich hielt. In gewisser Weise hatte jemand, der ihr Bild besaß, der damit tun konnte, was ihm beliebte, eine Art von Macht über sie, beinahe so, wie es einige Naturvölker glaubten. Es war wie eine – wenn auch schwache – Form des Missbrauchs ihres Körpers. Die Beziehung mit dem Freund vor Jorge war letztlich daran zerbrochen, dass dieser darauf bestanden hatte, sie nackt zu fotografieren, nicht nur ihre Brüste oder ihre Scham, wie Dolores schließlich widerstrebend als Kompromiss angeboten hatte, sondern in Verbindung mit ihrem Gesicht. Hätte sie zugestimmt, so hätte sich ein Teil ihres Selbst ihm hilflos ausgeliefert, seiner Willkür unterworfen.
Sie verließ den Kirchenvorplatz ebenfalls, plötzlich wieder von Unruhe geplagt, und beschloss nach einigem Herumwandern, in das Apartment zurückzukehren, vorher jedoch noch einige Einkäufe zu tätigen. Wenn sie am nächsten Morgen aufbrach, wollte sie den Kühlschrank nicht so leer hinterlassen, wie sie ihn vorgefunden hatte.
Das Teatro Municipal Torcal, in dem die Premiere stattfand, war ein in den Dreißigerjahren im Stil des Art déco errichteter Bau, der Parallelen, rechte Winkel und Symmetrien zum alleinigen Prinzip zu erheben schien. Dolores hasste diese kalte und leidenschaftslose, schier unmenschliche Form der Architektur, bei der sie stets nach etwas suchte, das sie nicht finden konnte. Sie bevorzugte barocke Verzierungen; Türmchen, Erker und Säulen mit geschmückten Kapitellen, die ihr eine beinahe menschliche Wärme vermittelten. Auch die maurische Architektur der Alhambra oder der Moscheen in Córdoba und Sevilla, die so verschwenderisch mit Stuck, Mosaiken und bemalten Fliesen prunkten, liebte sie, und wenn es etwas gab, das irgendwann zu sehen sie sich sehnte – nicht in der zweidimensionalen Scheinrealität des Fernsehapparats, sondern in der ganzen eindrucksvollen Majestät ihrer Wirklichkeit –, dann waren es diese beinahe magischen Orte. Doch wahrscheinlich würde sie niemals den Mut dazu aufbringen, ihre zu tief sitzenden Ängste niemals überwinden.
Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!
Dolores schüttelte unwillig den Kopf und betrat das Gebäude. Sie hatte ein Ticket für eine der letzten Reihen gekauft, im Schutz der Rückwand und in beruhigender Nähe des Ganges. Das Stück, das aufgeführt wurde, stammte von einem jungen spanischen Autor, dessen Name Dolores sofort, nachdem sie ihn auf dem Plakat gelesen hatte, wieder entfallen war. Es hieß »Dreisamkeit«, und dieser Titel gab auch gleichzeitig die Quintessenz des Inhalts wieder. Es ging um ein schwules Paar, dessen eine Hälfte von einer Frau verfolgt und schließlich verführt wurde, was zu Spannungen zwischen den beiden Männern und schlussendlich zu ihrer Trennung führte. Jorge mimte nicht etwa einen der beiden Homosexuellen; er spielte den Bruder der Frau, der nur ein paar wenige Auftritte hatte, die er sogar für Dolores’ ungeschliffenen Geschmack, was modernes Theater anbetraf, ein wenig zu pompös absolvierte. An einer Stelle erntete er sogar einige verhaltene, unfreiwillige Lacher, die ihn offensichtlich dazu verleiteten, seinen Abgang noch hastiger zu gestalten, als vom Regisseur ohnehin vorgesehen. In diesem Augenblick war Dolores froh, dass aus dem erträumten Abend zu zweit nichts geworden war, denn sie wusste, dass er die erlittene Schmach, das ihm zugefügte Unrecht, dann an ihr ausgelassen hätte.
Ansonsten glitt das Geschehen auf der Bühne mehr oder weniger an ihr vorbei bis zum Höhepunkt des Stücks, nämlich der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern. Derjenige, der sich in die Frau verliebt hatte – also der »männliche Part« des Paars –, ärgerte sich zunehmend über die Unfähigkeit seines Partners, Entscheidungen zu treffen, und hielt ihm deshalb eine regelrechte Standpauke. Bereits bei den ersten Worten dieses Monologs ruckte Dolores’ Kopf herum und ihr Blick fixierte das Geschehen auf der Bühne.
»Du versuchst, jedes noch so kleine Problem zu vermeiden!«, donnerte der Schauspieler seinen Kollegen an. »Du flüchtest und verkriechst dich vor ihm, anstelle auch nur den Versuch zu unternehmen, dich ihm zu stellen und es zu lösen! Willst du endlos so weiterleben? Pah, du weißt ja gar nicht, was Leben heißt! Aber ich bin nicht so, ich will etwas von meinem Leben haben, es ist ja schließlich kurz genug!«
Dolores war kalkweiß geworden. Ihre Nasenflügel zitterten, und ihre Zähne bissen auf die Unterlippe, bis es schmerzte. Abrupt stand sie auf. Für einen Moment bildeten sich rote Ringe vor ihren Augen, und sie musste sich an der Lehne des zum Glück leeren Sessels vor ihr festhalten. Sie murmelte eine unhörbare Entschuldigung und zwängte sich an dem neben ihr sitzenden Paar vorbei, erreichte den Gang und flüchtete geradezu aus dem Saal.
Draußen, in der Dunkelheit, blieb sie stehen und lehnte sich an die Wand des Theaters. Sie nahm die kühle Nachtluft in sich auf und wartete, bis sich ihr Atem und ihr Herzschlag wieder beruhigt hatten. Dann machte sie sich auf den Rückweg, zu Fuß, wie sie hergekommen war; die Entfernung betrug schließlich kaum mehr als einen Kilometer.
Zunächst, noch während der Schauspieler gesprochen hatte, war sie einfach wütend darüber gewesen, dass Jorge dessen Monolog praktisch wörtlich übernommen und auf sie angewandt hatte. Doch noch bevor der Mann auf der Bühne zum Ende gekommen war, erkannte sie die Ungeheuerlichkeit von Jorges Vorgehen: Er hatte gewusst, dass sie die Premiere besuchen würde, hatte sie selbst dazu eingeladen – »gezwungen«, überlegte sie, wäre ein passenderes Wort. Und dennoch hatte er sich ungeniert am Text bedient, was Dolores als völlige Missachtung ihrer Intelligenz empfand; so, als wäre sie in seinen Augen kein denkendes und fühlendes Wesen, sondern nicht mehr als ein Einrichtungsgegenstand oder bestenfalls ein niederes Tier, dessen geistige Fähigkeiten nur zum Fressen und Schlafen taugten – und zur Paarung.
Dass die Worte, die der Autor des Stücks dem Schauspieler in den Mund gelegt hatte, auf sie selbst ebenso passten, hatte mit ihrem Zorn nichts zu tun.
Zumindest redete sie sich das ein.
Als sie an dem Restaurant vorüberkam, in dem sie zu Mittag gegessen hatte, wurde sie sich der Tatsache bewusst, seither nichts mehr zu sich genommen zu haben, und so betrat sie es kurzerhand, obwohl darin gerade Hochbetrieb herrschte. Sie ließ sich am letzten freien Tisch nieder und nahm sich Zeit. Schließlich, lange nach Mitternacht, verließ sie die Gaststätte als eine der Letzten.
Jorge war noch nicht zurückgekehrt, und sie war dankbar dafür. Sie duschte, dann packte sie die wenigen Sachen, die sie mitgebracht hatte, nahm Handtasche und Koffer und machte sich auf den Weg zur Garage. Auch wenn sie diese Flucht nicht als endgültigen Bruch mit Jorge betrachtete – dazu war sie, trotz allem, noch nicht bereit –, war sie in Dolores’ eigenen Augen ein für sie bislang beispielloser Akt der Entschlossenheit und des Mutes.
Der Motor des Saxo startete problemlos; sein gewohntes Laufgeräusch hatte für Dolores etwas zutiefst Beruhigendes an sich. Doch als sie den Widerschein des einzelnen Abblendlichts an der Garagenwand sah, wurde ihr klar, dass sie etwas Entscheidendes übersehen hatte: Jeder Polizist zwischen Antequera und Málaga – und das waren auch nachts gewiss nicht wenige, gerade auf der Autobahn – würde ihren Wagen anhalten und sie auf den defekten Scheinwerfer aufmerksam machen. Und dann würde er die beschädigte Kühlerhaube entdecken und weiter nachforschen …
Sie sah auf die Uhr. Es war mittlerweile halb drei geworden; die dunkelste Stunde der Nacht. Zurück in das Apartment wollte sie unter keinen Umständen; sie fühlte sich völlig außerstande, eine Konfrontation mit einem wahrscheinlich angetrunkenen Jorge durchzustehen. Nein, sie hatte keine andere Wahl, als zu warten, und zwar hier im Wagen.
Sie löschte das Licht und schaltete Motor und Zündung wieder aus. Dann lehnte sie sich zurück, machte es sich so bequem, wie es unter diesen Umständen möglich war, und schloss die Augen. Sie wusste, dass sie in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde, dass sie sie sie allein mit ihren Gedanken würde zubringen müssen. Was schon unter normalen Umständen keine besonders angenehme Gesellschaft war. Nach diesem Tag jedoch und nach dem Grauen der vorangegangenen Nacht …
Endlich, beim ersten Morgengrauen, hielt sie den Geistern der Vergangenheit, der Gegenwart und der dunkelsten aller möglichen Zukünfte nicht mehr stand. Sie startete den Motor, rangierte aus der Garage und machte sich auf den Weg nach Hause.