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IV

Dolores erreichte Málaga in Rekordzeit und ohne von der Polizei aufgehalten zu werden. Sie fand einen Parkplatz in der Nähe ihrer Wohnung, in der Calle de Luchana im Stadtzentrum. Sie hoffte, dass die verbeulte Front des Kleinwagens hier, unter einer Legion von anderen, teils nicht weniger verbeulten Kleinwagen, nicht übermäßig auffiele. Endlich kam sie dazu, den Schaden zu untersuchen: Der Scheinwerfer war völlig geborsten, und Kühler und Motorhaube wiesen an der Stelle des Zusammenpralls eine tiefe Delle auf. Blutspuren waren keine zu sehen, wenigstens nicht mit bloßem Auge. Dolores versuchte gar nicht erst, die Motorhaube zu öffnen; sie war heilfroh, dass der Wagen überhaupt noch fuhr, und wollte alles vermeiden, was den Zustand des »Patienten« verschlimmern könnte.

Das Viertel war charakterisiert durch hohe Häuser und enge Gassen. Dolores’ Wohnung in der vierten Etage bestand aus einer Wohnküche, deren Fenster in einen engen Lichtschacht führte, zwei kleinen Schlafzimmern, von denen Jorge eines mit Beschlag belegt hatte, sowie einem Bad, das immerhin Platz für eine Badewanne bot. Die Größe der Wohnung war Dolores’ Einkommen angemessen, doch in Augenblicken, in denen sie ehrlich gegenüber sich selbst war, musste sie sich eingestehen, dass sie beides – Job und Wohnung – liebend gern gegen etwas Besseres eintauschen würde, wenn sie nur eine Gelegenheit dazu bekäme.

Und Jorge ebenfalls, wenn sie es recht bedachte.

In Bezug auf den Unfall war sie während der Fahrt zu einem Entschluss gekommen: »Ich werde nichts sagen!«, hatte sie sich selbst mit fester Stimme verkündet, als sie die Autobahn verlassen hatte und in das Gewirr der Straßen der Provinzhauptstadt eingetaucht war.

Und in Gedanken hatte sie hinzugefügt: Ich werde mich zu Hause und in meinem Büro verkriechen, wie ich es immer getan habe. Ich werde den Mund halten und hoffen, dass sich alles irgendwie auflöst – ebenfalls, wie ich es immer getan habe.

Wie ein fernes Echo wehte die Stimme Jorges an ihr inneres Ohr.

Du weißt ja gar nicht, was Leben heißt!

Den ganzen Sonntag über hörte sie nichts von Jorge und war froh darüber. Am Montagmorgen fuhr sie als Erstes den Saxo auf dem kürzesten Weg in die Werkstatt. Arturo, der Mechaniker, besah sich den Schaden mit undurchdringlicher Miene. Erst als Dolores mit niedergeschlagenen Augen – denn sie wusste, dass sie keine gute Lügnerin war – berichtete, sie habe beim Rangieren einen Baum übersehen, zeigte er einen für ihn seltenen Anflug von Humor.

»Na, da müssen Sie aber einen hübschen Zahn draufgehabt und beim Vorwärtsfahren angestrengt nach hinten gesehen haben«, grinste er. Aber er enthielt sich jedes weiteren Kommentars, auch als Dolores ihn bat, den Wagen nach der Reparatur gründlich zu waschen.

»Es wird ein paar Tage dauern«, informierte er sie schließlich. »Ich muss einige Teile bestellen.« Dann nannte er den voraussichtlichen Preis; einen Betrag, der Dolores schlucken ließ. Ihr »Notgroschen-Sparbuch« würde eine unfreiwillige Abmagerungskur erleiden. Doch schließlich hatte sie keine andere Wahl, als zustimmend zu nicken.

Sie ging zur nächsten Bushaltestelle, kaufte sich auf dem Weg eine Tageszeitung – »Málaga hoy« – und begann, noch während sie auf den Bus wartete, den Lokalteil zu lesen; eine Lektüre, die sie während der Fahrt zu ihrer Arbeitsstelle fortsetzte und die sie so in Bann schlug, dass sie fast das Aussteigen verpasste.

Unter den Artikeln, die sie angespannt verschlang, war einer über einen Autofahrer, der im Streit um einen Parkplatz eine Frau angefahren hatte; der Rückspiegel des Wagens hatte Verletzungen verursacht, die die Frau für vier Wochen arbeitsunfähig gemacht hatten. Die Staatsanwaltschaft von Málaga forderte dafür neun Monate Haft.

Wie lange, fragte sich Dolores erschrocken, werden sie wohl eine Frau einsperren, die einen Fußgänger auf einer Bergstraße angefahren, schwer – möglicherweise tödlich – verletzt und dann Fahrerflucht begangen hat?

Doch sie fand keine noch so kleine Schlagzeile, die sich auf einen Unfall mit Personenschaden in der Nacht zum Samstag auf der Straße zwischen Almogía und Antequera hätte beziehen können.

War dieser »Unfall« also tatsächlich vertuscht worden, wie es die Drohung, die der Polizist ihr gegenüber ausgestoßen hatte, nahelegte?

Ihr blieb nichts als diese Hoffnung.

Das Gebäude, in dem unter anderem das Büro der Exportfirma untergebracht war, in der Dolores als Buchhalterin arbeitete, lag im alten, noch nicht umgebauten Teil von »El Palo«, Málagas Hafenviertel. Auch diese Gegend war gekennzeichnet von mehrstöckigen, teils über hundert Jahre alten Häusern und engen Gassen, deren Grund die Sonne nur am Mittag und nur für kurze Zeit erhellte. Die Räumlichkeiten in den Häusern waren ebenso beengt. Als Dolores die Büros der Firma vor mehr als fünf Jahren, beinahe auf dem Höhepunkt ihrer Agoraphobie, zum ersten Mal betreten hatte, hatte sie sofort gewusst: Das ist es, hier will ich arbeiten! Und da sie als Berufsanfängerin mit zusätzlichem Handicap keine großen Gehaltsansprüche gestellt hatte, war sie mit Señor Juan Buitre Negro schnell einig geworden. Und zumindest Letzterer hatte niemals Grund gehabt, diese Entscheidung zu bedauern.

Doch mittlerweile hatte sich Dolores’ Einstellung gewandelt. Zum einen war ihre Agoraphobie weitgehend überwunden – nun ja, dachte sie, während sie das Bürogebäude betrat, von gewissen Extremsituationen einmal abgesehen –, und zum anderen ödete sie ihre Arbeit mittlerweile an. Ganz abgesehen davon, dass Señor Buitre sich seit Jahren schlichtweg weigerte, ihr Gehalt zu erhöhen, und sie ausnutzte, wo immer es ging. Die Überstunden am Freitag waren ja kein Einzelfall gewesen.

Überhaupt, stellte sie plötzlich fest, und die Erkenntnis ging einher mit einer Schockwelle hilfloser Wut, wäre das alles nicht passiert, wenn er mich am Nachmittag nach Hause hätte gehen lassen!

Nein, es führte kein Weg mehr an dem Eingeständnis vorbei, dass sie ihre Arbeit hasste und sie lieber heute als morgen gegen eine interessantere und besser bezahlte eintauschen würde. Was jedoch in der derzeitigen wirtschaftlichen Situation alles andere als einfach war. Es gab Augenblicke, in denen sich Dolores nach einem besseren Leben sehnte, einem anderen Leben, das in großen, lichten Räumen stattfand, mit einer interessanten Arbeit und ebenso interessanten und aufrichtigen Freunden.

Wirklichen Freunden.

Doch solchen Augenblicken folgte stets, mit der gnadenlosen Verlässlichkeit eines Uhrwerks, das Erschrecken über sich selbst, über die eigenen ungezügelten Gedanken, sowie die Einsicht, dass sie wohl niemals die Kraft und den Mut zu einem Bruch und einem völligen Neuanfang aufbringen würde.

Der Vormittag verlief eintönig wie stets; zum Glück war wenigstens Señor Buitre geschäftlich außer Haus. Während der dank der Abwesenheit des Chefs deutlich verlängerten Kaffeepause sprachen ihre Kolleginnen über ihre Wochenendaktivitäten und – natürlich – über Männer. Dolores, die an diesem Montag viel zu erzählen gehabt hätte, saß währenddessen wie stets schweigend im Hintergrund und nippte an ihrem Tee.

Die Mittagspause verbrachte sie, ebenfalls wie stets, in einem Bistro zwei Ecken weiter, das schnellen Service und niedrige Preise bot. Da sie später dran war als sonst, hatte es sich bereits zum größten Teil geleert, und so fiel ihr, während sie auf ihre bestellte Tomatensuppe mit Bauernbrot wartete, ein hagerer Mann mit einem eingefallenen Gesicht auf, das einem Totengräber alle Ehre gemacht hätte. Verstärkt wurde diese Assoziation durch einen tadellos sitzenden schwarzen Anzug, der nicht so recht in dieses Restaurant passen wollte, das fast ausschließlich von Angestellten und Arbeitern der umliegenden Firmen frequentiert wurde.

Eine Kellnerin brachte das Essen und ein Glas Mineralwasser, und kaum hatte Dolores zum ersten Mal den Löffel in den Suppenteller gesenkt, fiel ein Schatten über sie. Verwirrt sah sie auf. Der Mann mit dem schwarzen Anzug und der Trauermiene stand vor ihr.

»Sie gestatten? Ich nehme an, hier ist noch frei?«

Hastig senkte sie ihren Kopf wieder und machte mit der Linken eine Bewegung, die das halbe Restaurant einschloss.

»Alles – alles ist frei«, stotterte sie.

Was will der Typ von mir?

»Vielen Dank.« Der Fremde schien die Bedeutung ihrer Geste verkannt zu haben – oder er ignorierte sie absichtlich. »Mein Name ist übrigens Verdugo, Álvaro Verdugo.«

Seine Freundlichkeit zwang sie, ihm wieder ins Gesicht zu blicken, das zu einer Grimasse verzogen war, die wohl ein Lächeln darstellen sollte – das Lächeln eines Mannes, der nicht zu lächeln gewohnt war.

Erzählt er mir jetzt seine Lebensgeschichte?, erschrak sie unwillkürlich. Das hier ist doch keine Bar!

Die Kellnerin erschien, um die neue Bestellung aufzunehmen, doch eine herrische Handbewegung Verdugos verscheuchte sie augenblicklich.

»Señorita Muñoz«, sagte der Mann mit einer tiefen und kratzenden Stimme, die klang, als hätte er jahrzehntelang zwei oder drei Schachteln Zigaretten pro Tag geraucht.

Das Wort »Erschrecken« konnte das Gefühl, das Dolores bei der Nennung ihres Namens überfiel, nicht einmal annähernd beschreiben. Ein nie gekanntes Entsetzen erfasste sie, und für einen Moment fühlte sie sich wie jemand, um den herum ein Dutzend Polizeischeinwerfer aufflammte, während er gerade dabei war, eine Leiche zu vergraben. Das Blut wich ihr aus dem Gesicht, ihre Kehle fühlte sich plötzlich an, als habe sie einen 50-Kilometer-Marsch durch die Wüste hinter sich, und ihre Lippen und Hände zitterten. Rasch ließ sie den Löffel zurück in die Suppe sinken, bevor sie etwas verschüttete.

»Señorita Muñoz«, wiederholte der Fremde, und in seinen grauen Augen blitzte dabei etwas auf, das Dolores sagte, dass er das, was er gerade tat, genoss. »Ich habe die Ehre und auch das Vergnügen, Ihnen ein Angebot zu machen.« Dabei glitt sein Blick taxierend über ihren Körper, als sei sie ein Pferd, das er zu kaufen beabsichtigte – wenn die Musterung zu seiner Zufriedenheit ausfiel und jedes Haar, jeder Muskel und jede Rundung seinen Beifall fand.

Dolores fröstelte unwillkürlich. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte keinen ironischen Unterton in seiner rauen Stimme ausmachen. Einen Sinn in seinen Worten allerdings ebenso wenig.

Sie schluckte. »Ich – ich kaufe nichts, vielen Dank«, war alles, was sie hervorbrachte.

»Ich will Ihnen auch nichts verkaufen, ganz im Gegenteil«, beteuerte Señor Verdugo. »Ich will Ihnen einen Weg aufzeigen, wie Sie in nur zwölf Stunden – vielleicht sogar weniger, mit ein wenig Geschick und Glück – 100.000 Euro verdienen können. Bar auf die Hand und natürlich steuerfrei!«

Sie starrte ihn an und vergaß dabei sogar zu blinzeln. Gerade war sie noch überzeugt gewesen, dass das Auftauchen dieses seltsamen, Furcht einflößenden Mannes mit dem Unfall bei El Torcal und dem, was danach geschehen war, zusammenhing, aber nun wusste sie überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte.

Verdugos nächste Worte jedoch ließen Dolores erkennen, dass ihre ursprünglichen, schlimmsten Befürchtungen tatsächlich zutrafen.

»Sie wurden am Freitagabend unfreiwillig Zeugin eines, nun, sagen wir einmal: nicht alltäglichen Vorkommnisses, das Sie möglicherweise etwas verwirrt hat …«

Hastig senkte Dolores den Kopf und versteckte ihre zitternden Hände unter der Tischplatte.

»Ich – ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, murmelte sie. In ihren Gedanken tobte das Chaos, ein Wirbelsturm von Empfindungen durchtoste sie.

Was will er von mir? Mein Gott, was will er nur von mir?

»Oh.« Verdugos Stimme klang nun ehrlich erstaunt. »So ein kurzes Gedächtnis haben Sie?« Er machte eine kurze, aber offensichtlich wohlberechnete Pause, bevor er fortfuhr: »Aber ja doch, ich verstehe durchaus – es gab ja so viele andere Eindrücke für Sie an diesem Wochenende. Die Premiere von ›Dreisamkeit‹, der Krach mit Ihrem Freund, Ihr nächtlicher Aufbruch … Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen, das Ihnen das Vergessene vielleicht wieder in Erinnerung ruft.«

Er hatte Dolores, erkannte diese mit plötzlicher Klarheit, dort, wo er sie von Anfang an hatte haben wollen: Sie war degradiert zu einem bebenden Bündel, einem verängstigten Tier gleichend, das alles mit sich geschehen ließ und nur noch darauf hoffte, dass das Ende schnell und schmerzlos kommen möge.

Sie wagte weniger denn je, den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu blicken, doch aus den Augenwinkeln erhaschte sie eine Bewegung: Er zog ein Mobiltelefon aus der rechten Außentasche seines Anzugs und wandte es ihr zu. Es war eines dieser modernen Handys, das zum größten Teil aus einem Bildschirm bestand – einem Farbbildschirm, wie Dolores gleich darauf registrierte, denn nun erhellte er sich, und sie sah – sich selbst! Zumindest ihr Gesicht, das vom Schein einer Lampe erhellt wurde, die eine schattenhafte Figur, von der kaum mehr als ein dunkler Rücken zu sehen war, in der Hand hielt. Dolores erkannte die Szene sofort wieder.

Sie war in jener Nacht auf der Straße bei den Felsen gefilmt worden!

Dem Bildausschnitt nach musste sich die Kamera im Polizeiwagen befunden haben; entweder es handelte sich um eine automatische Aufnahme, oder es hatte sich ein zweiter Mann im Wagen befunden, den Dolores nicht bemerkt hatte. Wie auch immer – es spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass ihr vor Erregung gerötetes Gesicht trotz der Winzigkeit des Bildschirms klar zu erkennen war.

»Es gibt auch einen Ton dazu«, klang Verdugos kratzende Stimme wie aus weiter Ferne an ihr Ohr, »aber es dürfte kaum in Ihrem Interesse liegen, wenn ich ihn in dieser Umgebung zuschalte …«

Dolores hatte ein Schwindelgefühl ergriffen, etwa so, als ob sie zu viel getrunken hätte – oder als ob sie in der Irrealität eines Traums gefangen und sich dessen bewusst wäre, ihm aber dennoch nicht entkommen könnte. Zu keiner Regung fähig, starrte sie auf das Handy, wo ihr verkleinertes Abbild soeben in Tränen ausbrach. Alles Leid, alle Verzweiflung und alles Unrecht der Welt schienen in diesen Tränen zu liegen.

»Was – was verlangen Sie?«, brachte sie endlich hervor, als der Film zu Ende war und Verdugo das Mobiltelefon wieder in seiner Tasche verschwinden ließ.

Der Fremde hob abwehrend beide Hände. »Nichts, rein gar nichts!«, versicherte er im gütigen Tonfall eines freundlichen Onkels, zu dem nur sein Gesicht und die Stimme nicht passen wollten. »Sie brauchen keine Angst zu haben; ich bin kein Erpresser oder so etwas Ähnliches. Wie ich schon sagte: Ich will Ihnen lediglich ein Angebot machen.«

Er lehnte sich wie zufällig zurück und sah sich dabei nach allen Seiten um; der geübte, sichernde Blick eines Mannes, der solche Situationen gewohnt war und der kein Risiko einzugehen pflegte. Das Bistro war nun beinahe leer; die Kellnerin machte sich an der Kasse zu schaffen.

Verdugo beugte sich wieder vor, stützte beide Ellbogen auf die Tischplatte und sprach weiter, noch leiser als zuvor, in einem ruhigen, beinahe einschläfernden Tonfall.

»Lassen Sie mich folgendermaßen beginnen: Seit Jahrtausenden ist die Jagd der bevorzugte Sport des Menschen. In früheren Zeiten war sie überlebensnotwendig, später jedoch nicht mehr als eben ein Sport, wenn auch der gefährlichste – vorausgesetzt, die Chancen sind annähernd gleich verteilt – und damit auch der erregendste, für Jäger und Gejagte gleichermaßen. Und welches ist das gefährlichste Wild? Der Tiger, mit seiner Geschmeidigkeit, seinen scharfen Krallen und seinem Appetit auf Menschen? Der Elefant, aufgrund seiner Größe und seines sprichwörtlichen Gedächtnisses? Nein, das gefährlichste Wild war stets – und wird es immer bleiben – der Mensch! Der Mensch mit seiner Intelligenz und dem daraus resultierenden Einfallsreichtum! Auch ein nicht oder nur leicht bewaffneter Mensch kann einen besser ausgerüsteten Gegner besiegen, wenn er es klug anstellt. Ja, die Jagd ist ein Spiel mit hohem Risiko – und ebenso großen Chancen. Für beide Seiten.«

Dolores starrte ihr Gegenüber an. Wovon spricht er?, dachte sie hilflos. Doch dann blitzte etwas in ihrer Erinnerung auf, ein kurzer Satz nur, doch zweimal wiederholt.

Es war die dritte Jagd!

»Nun gibt es gewisse Leute«, fuhr Señor Verdugo fort, nicht ohne sich vorher noch einmal im Restaurant umzusehen, »die über genug Geld verfügen, um sich alles leisten zu können – wirklich alles! Dennoch sind sie nicht wunschlos glücklich, auch wenn die meisten Menschen sie wohl um ihr Problem beneiden würden. Und dieses Problem heißt: Langeweile! Um dieser abzuhelfen, haben sie ein Spiel erfunden, das sie ›Sklavenjagd‹ nennen. Es birgt, wie bereits erwähnt, für beide Seiten ein hohes Risiko, aber auch große Möglichkeiten. Die Regeln sind einfach und garantieren ein Höchstmaß an Chancengleichheit: Der Jäger verfügt als einzige Waffe über einen sogenannten ›TASER‹, ein Elektroschockgerät, das keinerlei bleibende physische Schäden hinterlässt. Dieses Gerät benötigt Körperkontakt; der Jäger muss dem Gejagten also mindestens auf Armlänge nahekommen. Ansonsten darf der Jäger keine Hilfsmittel verwenden, keine Fahrzeuge oder Reittiere, keine Hunde, keine menschlichen Helfer.

Der Gejagte ist ebenfalls bewaffnet und allein; er trägt zwischen seinen Handgelenken eine Kette, in deren Mitte eine schwere Eisenkugel befestigt ist. Auch er muss also nahe an den Jäger herankommen, wenn er ihn angreifen will. Doch das ist nicht immer nötig: Die Jagd beginnt stets bei Sonnenuntergang und endet bei Sonnenaufgang. Ist der Gejagte dann noch unbesiegt – weil er beispielsweise ein Versteck findet, das der Jäger nicht aufspüren kann, oder weil er seinerseits den Jäger bezwingt –, ist er der Sieger und kann seine Belohnung einstreichen.«

Wieder verzog Verdugo das Gesicht zu einem misslungenen Lächeln. »Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass es dabei um Geld geht – um viel Geld! Ein Gejagter kann diese Rolle maximal drei Mal spielen, drei Mal ›laufen‹: Gewinnt er die erste Jagd, bekommt er 100.000 Euro – bar auf die Hand! Gewinnt er die zweite – dabei spielt es keine Rolle, ob er die erste gewonnen oder verloren hat –, erhält er eine Million Euro. Gewinnt er gar die dritte Jagd, kann er sich über zehn Millionen Euro freuen. Bedenken Sie: Zehn Millionen Euro! Können Sie sich vorstellen, wie viel Geld das ist? Was man damit alles machen kann? Nein, ich glaube, es gibt nur sehr wenige Menschen, die das können.«

Endlich fand Dolores, die den Worten Verdugos wie gelähmt gelauscht hatte, die Kraft zu einem Einwand.

»Sie – Sie nennen das ein ›Spiel‹, aber dabei ist ein Mensch gestorben! Umgebracht worden! Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen!«

Ihr Gegenüber machte eine entschuldigende Geste. »Jagdunfälle hat es immer gegeben und wird es immer geben. Aber sie sind sehr, sehr selten. Und wenn doch einmal einer geschieht, kümmern wir uns darum, dass es wie ein Unfall aussieht – oder wie eine Entführung, die niemals aufgeklärt wird und bei der das Opfer nie wieder auftaucht. Bei keinem der wenigen Todesfälle, die es bisher gegeben hat, wurde der … hm … Verursacher des Todes belangt. Diese Sicherheit geben wir Jäger und Gejagten gleichermaßen.«

Ungläubig schüttelte Dolores den Kopf. Was dieser Mann da von sich gab, war in ihren Augen völliger Irrsinn. Er negierte schlichtweg Jahrtausende der Zivilisations- und Geistesgeschichte.

»Im alten Rom haben sich die Leute gegenseitig abgeschlachtet, zum Vergnügen der Zuschauer«, warf sie fassungslos ein. »Aber doch nicht heute!«

Abermals grinste Verdugo. »Als das Verbrennen von Christen verboten wurde, musste die Unterhaltungsindustrie notgedrungen auf andere Formate ausweichen. Denken Sie an Boxkämpfe, Autorennen, den Pferdesport oder den Stierkampf! Unfälle gibt es überall, und nichts begeistert die Massen mehr als eine malerische Rennkarambolage mit einer zünftigen Explosion und einem oder gar mehreren Toten! Tage- oder wochenlang sind die Schlagzeilen voll davon! Natürlich empört man sich darüber, weil das eben politisch korrekt ist, aber jeder will die Wiederholung sehen! In Zeitlupe und aus unterschiedlichen Kamerapositionen!«

Sein schrankenloser Zynismus schockierte Dolores, wenn sie auch das Körnchen Wahrheit in seinen Worten – ein sehr großes Körnchen – nicht wegleugnen konnte.

»Und die Opfer – die Gejagten – machen das wirklich freiwillig?«

Verdugo nickte bestimmt. »Natürlich. Hoher Einsatz – hoher Gewinn, jedenfalls mit etwas Geschick. Wie bei einer Geldanlage: Geringes oder kein Risiko bedeutet geringen oder keinen Gewinn; sogar Verlust, teilweise beträchtlichen, wenn Sie die Inflation und die Steuern hinzurechnen. Wer seinen Einsatz vervielfachen will, muss daher ein hohes Risiko eingehen. Er kann alles gewinnen – oder alles verlieren.«

»Und was«, fiel Dolores ein, »ist der Gewinn für den Jäger? Bislang sprachen Sie ja nur von seinem Risiko. Macht er es nur des Nervenkitzels wegen, oder springt auch für ihn etwas heraus, wenn er das … das ›Wild‹ erlegt?«

»Wenn der Jäger den Gejagten bei dessen erstem Lauf bezwingt – und ›bezwingen‹ bedeutet in der Regel, ihn mit dem TASER mehr oder weniger bewusstlos zu machen, woraufhin er ihm Fesseln anlegen kann –, dann kann er mit ihm 24 Stunden lang tun, was ihm beliebt. Er darf ihn natürlich nicht töten oder ihm bleibenden körperlichen Schaden zufügen. Gewinnt er die zweite Jagd, erhöht sich dieser Zeitraum auf eine Woche.«

»Und bei der dritten?«, hakte Dolores nach, als Verdugo nicht weitersprach.

»Wird das Opfer bei der dritten Jagd bezwungen, wobei es wiederum egal ist, ob es die ersten beiden gewonnen oder verloren hat, so wird es für den Rest seines Lebens zum Sklaven des Siegers.«

»Sie sind völlig verrückt!« Dolores hatte laut gesprochen, beinahe geschrien, so dass sich die Blicke der Kellnerin und der wenigen verbliebenen Gäste auf das ungleiche Paar hefteten. Dolores war nahe dran aufzuspringen, beherrschte sich jedoch im letzten Moment.

»Gehe ich recht in der Annahme«, presste sie schließlich wieder leiser hervor, »dass es sich bei den Jägern stets um Männer und bei den Gejagten stets um Frauen handelt?«

Verdugo wiegte den Kopf. »Meist trifft das zu, aber es gibt keine diesbezügliche Regel. Es gab einmal eine sehr erfolgreiche weibliche Jägerin, und manche der männlichen Jäger bevorzugen männliches ›Wild‹ … Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass es für die Jäger kein Limit gibt; sie können so oft jagen, wie es ihnen Spaß macht, schließlich sind sie es ja, die ihr Leben riskieren und im Falle einer Niederlage bezahlen müssen. Aber eine Gejagte – oder ein Gejagter – kann nur dreimal laufen. Die Belohnung – für Jäger und Gejagte – bemisst sich ausschließlich daran, die wievielte Jagd es für das Opfer ist. Und niemand zwingt ein Opfer, zum zweiten oder dritten Mal zu laufen; es kann jederzeit aussteigen.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Natürlich nicht während einer Jagd …«

Einige Zeit herrschte Schweigen. Dolores leerte ihr Wasserglas in einem Zug zur Hälfte; die Tomatensuppe stand unangetastet vor ihr. Wahrscheinlich war sie mittlerweile kalt.

»Was ich nicht verstehe, ist Folgendes«, sagte sie dann langsam. »Was hat das Ganze mit mir zu tun? Weshalb erzählen Sie mir das? Womit ich nicht sagen will, dass ich Ihnen überhaupt glaube«, fügte sie in einem Anflug von Trotz hinzu.

»Das verstehen Sie nicht?«, fragte Verdugo zweifelnd. »Dabei ist es doch so einfach: Ich mache Ihnen hiermit das Angebot, selbst einmal zu laufen! Mit etwas Glück sind Sie danach um 100.000 Euro reicher – bedenken Sie das! Und wenn Sie Pech haben … Nun, 24 Stunden gehen vorbei. Was riskieren Sie also?«

Einige Zeit saß Dolores nur reglos da und starrte den Fremden mit offenem Mund an. Obwohl es einem Teil ihres Bewusstseins klar gewesen war, worauf seine Rede letztlich abzielte, hatte sie sich geweigert, diese Erkenntnis zu akzeptieren.

Schließlich war es Verdugo, der die Stille durchbrach. Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Anzugstasche, in der das Mobiltelefon ruhte.

»Sie wissen, wir wären in einer Position, Sie zu einer Teilnahme – sagen wir: zu drängen. Aber das ist nicht unsere Art. Alle Teilnehmer, Gejagte ebenso wie Jäger, tun dies freiwillig. Wir möchten Sie hiermit einladen, Ihr Glück zu versuchen – und möglicherweise 100.000 Euro zu gewinnen! Nun, was sagen Sie?«

»Sie sind ja wirklich verrückt!«, antwortete Dolores tonlos. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass ausgerechnet ich …« Sie verstummte mitten im Satz, denn ihrer Verblüffung fehlte eine passende Ausdrucksmöglichkeit.

Verdugo zuckte mit den Schultern. Er schien von ihrer Weigerung nicht überrascht zu sein.

»Wenige sagen sofort zu«, erklärte er. »Aber die meisten tun es dann doch – irgendwann. Wenn sie lange genug darüber nachgedacht haben. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen. Das Angebot steht jedenfalls und wird auch nicht zurückgezogen. Ich gebe Ihnen meine Karte; rufen Sie mich einfach an, wenn Sie es sich anders überlegen sollten. Oder auch, wenn Sie noch Fragen haben. Ich stehe jederzeit zu Diensten!«

Im Aufstehen öffnete er zwei Knöpfe seiner schwarzen Anzugsjacke und zog eine Visitenkarte aus einer Innentasche. Dabei rutschte etwas anderes ebenfalls heraus, und obwohl Verdugo hastig danach griff, entglitt es seiner Hand und fiel zu Boden. Dolores erhaschte einen sekundenkurzen Blick darauf – und erstarrte.

Es handelte sich um eine Fotografie, die sie selbst zeigte, und zwar vor dem Hintergrund einer Kirchenfassade. Das Bild war nicht sehr gut, denn es war aus der Bewegung heraus aufgenommen worden und daher etwas verwackelt. Doch ihr Gesicht, das eine Mischung aus Überraschung und Unwillen offenbarte, war deutlich genug zu erkennen.

Es war das Bild, das der ausländische Tourist am Samstagmittag in Antequera von ihr gemacht hatte, auf der Plaza von Santa María la Mayor.

Während Verdugo das Bild wieder einschob und sich mit einer kurzen, aber formvollendeten Verbeugung verabschiedete, blieb Dolores bewegungsunfähig sitzen.

Am Samstagmittag!, schoss es ihr durch den Kopf. Kaum mehr als zwölf Stunden nach dem Unfall!

Wer auch immer hinter dieser unglaublichen Sache steckte, er schien exzellent organisiert zu sein.

Nein, überlegte sie, ein Verrückter war das gewiss nicht. Aber kann es so etwas wirklich geben? In der heutigen Zeit? In Europa?

Sie trank den Rest des Mineralwassers; die kalte Suppe ließ sie stehen. Sie war nicht mehr hungrig.

Als sie schließlich zahlte und aufstand, ließ sie Verdugos Visitenkarte unbeachtet auf dem Tisch liegen.

Sklavenjagd

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