Читать книгу Sklavenjagd - Tomàs de Torres - Страница 9

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V

Die Woche verlief beinahe gespenstisch ereignislos für Dolores, die sich dadurch jedoch keineswegs beruhigt fühlte – nicht nach der Begegnung mit dem schrecklichen Álvaro Verdugo, die sich in allen Details in ihr Gehirn eingebrannt hatte. Sie wagte sich in der Mittagspause nicht mehr aus dem Büro, aus Angst, dem Mann mit dem Aussehen eines Totengräbers wieder zu begegnen. Ihre Kolleginnen, denen die stets freundliche und hilfsbereite, dabei jedoch schweigsame und in sich selbst zurückgezogene Dolores ohnehin ein Rätsel war, hänselten sie deshalb bereits am ersten Tag, denn sie wussten, dass Dolores eine Frau mit festen Gewohnheiten war, von denen sie unter normalen Umständen niemals abwich.

Am Donnerstagnachmittag holte sie ihren Wagen von der Werkstatt ab, und in zwei Jahren mühsam vom Gehalt abgespartes Geld wechselte in ebenso vielen Sekunden den Besitzer. Sie hatte es so eilig, von Arturo und eventuellen unangenehmen Fragen wegzukommen, dass sie die Front des Saxo erst zu Hause inspizierte. Es war tatsächlich nichts mehr von dem Unfall zu sehen, und überdies war der Wagen so blitzblank wie an jenem Tag, an dem er die Fabrik verlassen hatte.

Sie kaufte weiterhin jeden Morgen auf dem Weg zur Bushaltestelle eine Zeitung und las sie ebenso konzentriert wie am ersten Tag. Sie erfuhr dabei einiges über den Alltag einer Provinzhauptstadt, das ihr bislang verborgen geblieben war, doch sie fand niemals auch nur eine Zeile über ihren Unfall noch über einen jungen Mann mit weißblonden Haaren, möglicherweise ein Ausländer, der unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden worden war – oder der zumindest vermisst wurde.

Hatte Verdugo also die Wahrheit gesprochen, als er behauptet hatte, Jäger und Gejagte könnten sicher sein, im Falle eines »Jagdunfalls« nicht belangt zu werden? Und bezog sich das auch auf eigentlich unbeteiligte Dritte wie sie selbst? Davon, erkannte Dolores, hatte Verdugo nichts gesagt. Aber immerhin hatte er ihr den Eindruck vermittelt, dass sie sich um diesen Punkt keine Sorgen zu machen brauche.

Doch anstatt sich zu legen, stieg ihre Unruhe mit jedem verstreichenden weiteren Tag. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Verdugo – oder wer auch immer hinter ihm steckte – sich so einfach mit ihrer Ablehnung zufriedengab. Dafür hatte er ihr zu viel erzählt – sie wusste nun einfach zu viel! Was, wenn sie mit diesem Wissen zur Polizei ginge?

Wahrscheinlich, überlegte Dolores zum hundertsten Mal, würde man sie erst einmal für überspannt halten, um nicht gar das Wort »verrückt« zu gebrauchen. Und auch wenn man sie ernst nähme – wo sollten etwaige Ermittlungen ansetzen? Alles, was die Polizei dann als Ausgangspunkt hätte, wäre sie selbst; sie, die nach einem möglicherweise tödlichen Unfall Fahrerflucht begangen hatte.

Kein ermutigender Gedanke.

Und dann würde Verdugo sie zu finden wissen, wie er sie bereits einmal gefunden hatte, daran bestand kein Zweifel. Und möglicherweise gäbe es dann einen zweiten bedauerlichen Unfall, diesmal mit ihr als Opfer …

Also unternahm sie nichts.

Am Freitagabend rief Teresa an, zum ersten Mal seit Wochen. Sie plauderten eine Viertelstunde über die üblichen Belanglosigkeiten. Dabei musste Teresa aufgrund Dolores’ Tonfall oder vielleicht auch an sekundenlangem Zögern bei ihren Antworten bemerkt haben, dass etwas nicht stimmte. Naturgemäß gingen daraufhin ihre Vermutungen in die falsche Richtung. Sie beschwor Dolores wieder einmal, mit Jorge Schluss zu machen, »besser gestern als heute«. Dolores versicherte, in Bezug auf Jorge sei alles in Ordnung, schließlich bliebe er noch ein paar Wochen in Antequera – eine Antwort, die mehr über ihre Gefühle ihrem Freund gegenüber verriet, als Dolores eigentlich beabsichtigt hatte.

Schließlich, als sie bereits drauf und dran waren, das Gespräch zu beenden, konnte sich Teresa doch nicht verkneifen, Dolores einen guten Rat mitzugeben.

»Du solltest wirklich mal ausgehen«, beschwor sie ihre Freundin. »Wie wäre es mit einer Party? Du kommst auf andere Gedanken, lernst neue Leute kennen …«

Dolores stöhnte auf. »Nun fang du nicht auch noch damit an!«

»Nein, im Ernst! Wusstest du, dass es Leute gibt, die fast jeden Abend auf einer anderen Party tanzen? Mädchen, du bist hier an der Costa del Sol! Wo andere Leute Urlaub machen, auch und gerade die Reichen und Mächtigen dieser Erde! Na ja, jedenfalls die, die sich nicht gerade in Monte Carlo oder im Gefängnis aufhalten … Hier zu wohnen bedeutet, dass dir alle Möglichkeiten der Welt offen stehen! Doch was machst du? Du verkriechst dich in deinen vier Wänden und …«

Dolores hörte nicht mehr zu. Teresas Stimme schien sich während des Sprechens wie durch schwarze Magie in diejenige Jorges verwandelt zu haben.

Du bist eine absolute Niete! Du gehst nicht einmal auf Partys!

Plötzlich hatte sie es sehr eilig aufzulegen.

Doch ihr Ärger auf Teresa verflog rasch wieder. Schließlich wusste sie, dass die Worte ihrer Freundin aus dem ehrlichen Wunsch resultierten, ihr zu helfen, auch wenn sie denjenigen Jorges so ähnlich klangen. Doch dieser hatte damit einen völlig anderen Zweck verfolgt: Er hatte sie mit voller Absicht verletzen wollen.

Und es war ihm gelungen.

Als sie am Samstag vom Einkauf zurückkehrte und routinemäßig ihren Briefkasten kontrollierte, fand sie darin einen weißen Umschlag ohne Adressat oder Absender – und ohne Freimachung.

Sofort begann ihr Herz zu rasen, und sie spürte, wie ihr vor Aufregung das Blut ins Gesicht schoss. Vor ihrer Wohnungstür angekommen, benötigte sie drei Anläufe, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen, so stark zitterten ihre Hände. Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, als sie den Umschlag mit bloßen Fingern aufriss. Heraus fiel ein einzelnes weißes Blatt; dickes Büttenpapier, stellte sie fest, als sie es aufhob. Als sie mit geweiteten Augen und angehaltenem Atem die ersten Worte des in azurblauer Farbe und eleganter Schrift gehaltenen Aufdrucks gelesen hatte, brach sie in beinahe hysterisches Gelächter aus.

»Die gute Teresa!«, stieß sie endlich hervor, als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Die hat es aber eilig!«

Am Küchentisch studierte sie den Brief. Es handelte sich um eine nicht nur edel gedruckte, sondern auch sehr förmliche und ausdrücklich auf »Dolores Muñoz Carrasco« ausgestellte Einladung zu einer Party am nächsten Samstag, dem 12. Juni. Die darunter angegebene Adresse lag in Puerto Banús bei Marbella. Teresa musste den Brief noch gestern Abend in den Kasten geworfen haben. Sie hatte es offensichtlich so eilig gehabt, dass sie weder ihren oder Dolores’ Namen auf den Umschlag gesetzt noch geklingelt hatte.

Ihr erster Impuls nach der Lektüre war, die Einladung in den Papierkorb zu werfen. Puerto Banús!, dachte sie mit einer Mischung aus Amüsement und Beklemmung. Wenn es einen Ort auf der Welt gibt, wo ich nicht hinpasse, dann ist es dieser!

Obwohl, regte sich ein leises Stimmchen im hintersten Winkel ihres Denkens, es wäre einmal etwas anderes – etwas wirklich Außergewöhnliches! Puerto Banús! Es kommen bestimmt viele reiche Leute; die Männer tragen Anzüge und Krawatten, und die Frauen traumhafte Kleider …

Doch im nächsten Moment bereits schalt sie sich eine dumme kleine Närrin. Sie besaß kein einziges »traumhaftes Kleid« und war auch nicht in der Lage, eines zu kaufen – nicht nach den Reparaturkosten für den Wagen. Überdies: Nie und nimmer würde sie in so eine Gesellschaft hineinpassen; sie wüsste sich gewiss nicht einmal korrekt zu benehmen.

Nein, so gut Teresa es auch gemeint haben mochte – so eine Party war nichts für Dolores Muñoz Carrasco.

Am Montag ging sie in der Mittagspause wieder zum Essen; zum ersten Mal seit einer Woche. Doch sie vermied ihr altes Bistro; stattdessen schlug sie die entgegengesetzte Richtung ein, in der nach Auskunft einer Kollegin ein Schnellrestaurant liegen sollte. Auf dem ihr bislang unbekannten Weg, höchstens 200 Meter vom Büro entfernt, entdeckte sie einen kleinen Kleiderladen, dessen Auslage sie unwillkürlich innehalten ließ.

An exponierter Stelle, in der Mitte des Schaufensters, prangte eines der entzückendsten Kleider, die Dolores jemals gesehen hatte. Es war ganz in Samtblau gehalten, ihrer Lieblingsfarbe, und etwa knielang. Die Träger entsprangen in der Mitte, am Brustansatz, und liefen beiderseits des Halses nach hinten. Schultern und Arme blieben frei. Zwischen den Brüsten gab es ein kleines, ovales »Fenster«, das jedoch erheblich mehr der Phantasie des Betrachters überließ, als es tatsächlich zeigte, und das Kleid so – zumindest in Dolores’ Augen – zu einem echten »Hingucker« machte. Es war kein »Traumkleid« und auch kein »superelegantes« Kleid, aber Dolores fand es schlichtweg bezaubernd. Genau das richtige für eine kleine Party …

Und es kostete nur 99 Euro.

Plötzlich entstand eine Bewegung hinter dem Schaufenster, und Dolores wandte sich rasch ab und ging weiter. Sie fand das Restaurant, aß so hastig, als ob sie auf der Flucht wäre, und brach dann ebenso hastig wieder auf. Neben dem Eingang zum Restaurant befand sich ein Unicaja-Geldautomat, den sie zuvor nicht bemerkt hatte. Doch nun schien er sie plötzlich magisch anzuziehen. Nach kurzem Zögern fingerte sie ihre EC-Karte aus der Handtasche und hob hundert Euro ab. Immer noch unentschlossen, ob sie das Kleid wirklich kaufen sollte, ging sie weiter.

Vor dem Schaufenster blieb sie abermals stehen. Es schien, als blicke das Kleid sie an, und nicht umgekehrt. Als sehne es sich danach, sich um Dolores’ Körper schließen zu dürfen, sie mit seinem samtblauen Stoff zu streicheln wie ein sanfter Abendwind …

Endlich gab sie sich einen Ruck und betrat das Geschäft.

Als sie fünf Minuten später mit einer Plastiktasche in der Linken auf dem Rückweg ins Büro war, kam sie nicht umhin, sich zu fragen, was für ein Kleid sie wohl gekauft hätte, wenn sie über 100.000 Euro verfügte. Überhaupt dachte sie in diesen Augenblicken zum ersten Mal seit dem Treffen mit Verdugo an das Geld, mit dem er sie zu locken versucht hatte. 100.000 Euro! Das war eine für sie gerade noch vorstellbare Summe, wenn sie diese auch niemals würde ansparen können. Eine Million hingegen war nur eine abstrakte Zahl, eine Eins mit sechs Nullen, mehr nicht. Von hunderttausend Euro könnte sie, vorsichtig geschätzt, sechs bis sieben Jahre leben – wenn die Zinsen stiegen und sie einen Teil längerfristig anlegte, vielleicht sogar zehn Jahre. Schließlich war sie ein sparsamer Mensch. Und sie könnte die geschenkte Zeit nutzen, sich eine neue Arbeit zu suchen, sich vielleicht auch besser zu qualifizieren, denn dazu war sie mit ihren 27 Jahren noch nicht zu alt.

Und sie könnte sich – möglicherweise! – von Jorge lösen …

Unfug!, schalt sie sich. Träume sind Schäume!

Sklavenjagd

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