Читать книгу S & M Dreams Inc. - Tomàs de Torres - Страница 10
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Der Wärter führte Julie mit klirrender Fußkette durch einen kahlen Gang in einen anderen Raum. Er war groß und nüchtern eingerichtet: weiß gestrichene Schränke, Arbeitstische und medizinische Geräte an den Wänden. In der Mitte eine niedrige, leicht geneigte Liege, auf die eine Frau mit brauner Lockenfrisur geschnallt war, nicht viel älter als Julie selbst. Sie trug ebenfalls Knebel und Halsband sowie eine rote Marke am rechten Ohr: 4278. Die Frau war nackt, und ihre Schamhaare mussten genauso wie die von Julie frisch rasiert sein, denn die Haut zwischen den leicht gespreizten Beinen war noch gerötet. Von ihrem Kopf und ihren Brüsten führten mehrere Drähte zu einem aktenkoffergroßen Gerät, das neben der Liege auf einem fahrbaren Tischchen stand. Ein Mann in einem weißen Kittel schaltete an dem Gerät herum.
Es gibt also nicht nur Schwarzuniformierte hier, dachte Julie, und irgendwie erleichterte sie diese Erkenntnis. Vielleicht ist er ein richtiger Arzt! Vielleicht kann man mit ihm reden …
Doch dazu musste sie erst einmal den schrecklichen Knebel loswerden.
Bei ihrem Eintreten hatte der Mann den Kopf gewandt. Er war an die sechzig Jahre alt, hatte kurzgeschnittene, weiße Haare und ein fleckiges, eingefallen wirkendes Gesicht. Er sah müde aus.
»Was denn, noch eines?«, fragte er stirnrunzelnd Julies Wärter. »Wissen Sie, wie spät es ist?«
Er deutete auf eine Uhr an der Wand. Julies Blick folgte der Geste: Es war kurz vor neun Uhr abends. Plötzlich spürte sie ihren leeren Magen. Sie hatte seit dem Mittag nichts gegessen, und dieses Mittagessen war wegen ihrer Aufregung ziemlich spärlich ausgefallen.
Der Narbige zuckte mit den Schultern. »Ist bestimmt das Letzte für heute.«
Der Arzt – Julie beschloss, ihn Arzt zu nennen, weil sie dieser Gedanke ein wenig beruhigte – seufzte. »Na gut. Stecken Sie es in den Käfig dort, bis ich mit diesem hier fertig bin.«
An der linken Seitenwand stand ein Käfig, der viel zu klein für einen erwachsenen Menschen schien. Dennoch zog der Wärter Julie dorthin. »Auf die Knie!«, herrschte er sie an. Julie gehorchte verängstigt. Der Mann kniete ebenfalls nieder, öffnete die Käfigtür und streckte sich. An der Rückwand des Käfigs befand sich eine Walze, auf der eine Kette aufgerollt war. Der Wärter nahm das Ende der Kette, das in einen Karabinerhaken mündete, und zog daran. Die Kette rollte ab. Als sie lang genug war, klinkte er den Haken in die Öse an der Vorderseite von Julies Halsband. Dann drückte er einen Knopf neben der Walze, die sofort zu rotieren begann. Die Kette spannte sich und Julie wurde in den Käfig gezogen wie ein ungehorsamer Hund, der von seinem Herrchen an der Leine mitgeschleift wird.
Es war nicht leicht für Julie, mit den auf dem Rücken gefesselten Händen und den durch eine kurze Kette verbundenen Füßen dem raschen Zug der Kette zu folgen. Sie schürfte ihre Knie auf, und Tränen traten in ihre Augen. Immer tiefer robbte sie in den kleinen Käfig hinein. Erst als ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von der Rückwand entfernt war, hielt die Walze inne. Kaltes Metall schlug gegen Julies rechte Fußsohle. Erschrocken zog sie den Fuß nach, die Käfigtür fiel zu.
Sie war gefangen wie ein wildes Tier.
Sie versuchte, eine einigermaßen bequeme Stellung zu finden, doch das war wegen der kurzen Kette, durch die ihr Halsband mit der Walze verbunden war, kaum möglich. Schließlich kauerte sie mit angezogenen Knien und verrenktem Hals in einer Ecke. Von dem, was in dem Raum vorging, sah sie nur einen kleinen Ausschnitt.
Plötzlich ertönte ein Knattern, wie von einer elektrischen Entladung, gefolgt von einem erstickten Aufschrei. Eine Gänsehaut zog sich über Julies nackten Körper, und ihre Nackenhaare richteten sich auf.
Strom! Er foltert sie mit elektrischem Strom!
Noch zweimal hörte sie eine Entladung und durch den Knebel erstickte Schmerzensschreie, dann das Quietschen eines Sessels. Der Mann war aufgestanden, Julie konnte seine Beine sehen.
»Du hast es gut«, sagte der Arzt seufzend, offensichtlich zu der Frau auf der Liege, »du bist fertig für heute! Ich dagegen …«
Papiere raschelten. Eine Weile hörte Julie gar nichts, der Arzt schien zu schreiben. Dann ertönte ein lautes Summen. Julie fuhr unwillkürlich zusammen, doch diesmal wurde es nicht von einem Aufschrei begleitet. Schritte näherten sich, und eine männliche Stimme aus Richtung Tür sagte: »Ja?«
»Sie können es mitnehmen«, antwortete der Arzt. »Und kommen Sie bitte in einer Viertelstunde zurück, dann ist das andere auch fertig.«
»Ist gut. Brauchen Sie Hilfe?«
»So weit kommt’s noch, dass ich nicht mehr allein mit so einem Spezimen fertigwerde!«
Ein nacktes Paar weiblicher Beine erschien in Julies Blickfeld: Die andere Frau war aufgestanden. Gemeinsam mit dem Arzt wankte sie zur Tür.
Kurz darauf näherten sich Schritte. Der Arzt bückte sich und löste durch die Stäbe hindurch den Karabinerhaken der Kette. Er öffnete die Käfigtür.
»Raus mit dir!«
Folgsam, aber vor Angst am ganzen Leib zitternd, robbte Julie rückwärts aus dem Käfig.
»Auf die Liege, mit dem Kopf dorthin.«
Julie drehte sich zur Seite und hielt ihm ihre auf den Rücken gefesselten Hände hin. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er einen Schlüsselbund aus der Tasche zog. Gleich darauf war ihre rechte Hand frei, jedoch nicht für lange. Sein fester Griff zwang sie auf die Liege, wo sie in Sekundenschnelle mit Riemen festgeschnallt wurde, die über ihre Füße und unter ihren Brüsten verliefen. Julies Hände befestigte der Arzt an den Seiten der Liege, so dass sie völlig hilflos auf das warten musste, was er mit ihr vorhatte – und das bestimmt nichts Gutes war, wie ihr die Schreie ihrer Vorgängerin drastisch vor Ohren geführt hatten.
Julie wandte den Kopf nach links und erhaschte einen Blick auf das Gerät auf dem fahrbaren Tischchen. Es enthielt Skalen und einen kleinen Monitor. Drähte und Kabel gingen von ihm aus, und an einem davon hing ein stiftgroßes Ding, das der Mann nun in die Hand nahm. Er strich damit über die rote Marke an Julies rechtem Ohrläppchen. Ein bestätigendes Piepsen ertönte, dann erschien ein Text auf dem Monitor, den Julie von ihrer Position aus jedoch nicht lesen konnte.
Er hat den Chip ausgelesen, der in die Marke eingearbeitet ist!, begriff sie und schauderte. Man hat mich markiert wie ein Haustier!
Noch während sie versuchte, diese Erkenntnis zu verarbeiten, näherte sich der Arzt erneut, diesmal mit zwei Scheibchen in den Händen, die jeweils durch einen Draht mit dem Apparat verbunden waren. Panik überfiel Julie. Sie rüttelte an ihren Fesseln, die sich jedoch als unnachgiebig erwiesen.
»Davor brauchst du keine Angst zu haben«, sagte der Arzt. »Die sind nur zum Messen.«
Julie gab ihr Sträuben auf und schloss die Augen. Sie spürte, wie der Mann die beiden selbstklebenden Plättchen in der Nähe ihrer Schläfen befestigte.
»Wir beginnen mit einem simplen mechanischen Schmerztest.«
Julie riss die Augen wieder auf. Der Arzt hielt ein etwa zwanzig Zentimeter langes Kettchen in der Hand, an dessen Enden mit scharfen Zähnen versehene Klammern befestigt waren. Julie kannte diese Vorrichtung von Bildern, aber nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, sie selbst auszuprobieren. Julies Phantasien beschränkten sich auf Fesselungen, denn sie konnte keine Schmerzen ertragen.
Brustklammern! Er will tatsächlich …
Die erste Klammer schnappte um ihre linke Brustwarze. Der Schmerz war unbeschreiblich, als würde jemand mit einem stumpfen Messer versuchen, die Warze abzuschneiden. Julie bäumte sich auf, soweit ihre Fesseln dies zuließen, und heulte in den Knebel. Der Arzt ließ die zweite Klammer um die rechte Warze schnappen.
Tränen traten in Julies Augen. Ihre Umgebung zerfloss. Sie atmete stoßweise. Ihre malträtierten Brüste hoben und senkten sich. Langsam – sehr langsam – fiel die Woge des Schmerzes in sich zusammen und hinterließ ein dumpfes Brodeln in ihren Brustwarzen, das in alle Richtungen ausstrahlte. Sie zwinkerte die Tränen aus den Augen.
»Tz, tz, tz«, hörte sie die Stimme des Arztes. Sein Blick war auf die Skalen vor ihm gerichtet. »Stark erhöhte Empfindlichkeit! Mal sehen …«
Mit der linken Hand griff er nach der Verbindungskette der Klammern und hob sie, ohne hinzusehen, so lange an, bis sie sich spannte. Julies Brüste wurden nach oben gezogen. Der Schmerz, den sie beim Anlegen der Klammern verspürt hatte, brach erneut in voller Stärke aus und intensivierte sich sogar, als der Mann probeweise die Kette nach links und rechts bewegte. Julies durch den Knebel erstickte Wehlaute ignorierte er.
Endlich ließ er ab von ihr, und der Schmerz reduzierte sich auf ein halbwegs erträgliches Maß. Der Arzt machte Notizen. Sein Gesicht zeigte dabei den Ausdruck eines Forschers, der das Ergebnis eines hochinteressanten Experiments niederschrieb.
Dann war er wieder über ihr, seine Hände griffen nach ihren Brüsten und lösten beide Klammern gleichzeitig. Als das Blut zurück in die Warzen schoss, fühlte Julie sich einer Ohnmacht nahe. Tränen liefen über ihre Wangen und vermischten sich mit dem Speichel, der unter dem Knebel hervortropfte.
Sie betete, dass der »simple Schmerztest« nun abgeschlossen sei. Doch der Arzt griff erneut nach Plättchen, die an schwarzen und roten Drähten hingen. Sie wimmerte, als er sie auf ihre Warzenhöfe klebte, die sich von den Klammern noch nicht wieder erholt hatten. Kurz begegneten sich ihre Blicke, und der Arzt schien ihre stumme Frage – Ist das auch nur zum Messen? – verstanden zu haben. Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Vor diesen musst du dich fürchten!«
Julie schloss die Augen und erwartete das gleiche Knattern, das sie vorhin gehört hatte. Doch noch kam es nicht. Stattdessen machte der Arzt sich zwischen ihren Beinen zu schaffen. Sie riss die Augen wieder auf: Er war dabei, identische Plättchen mit identischen Drähten an ihren kahlgeschorenen Schamlippen zu befestigen. Julie begann, am ganzen Körper zu zittern. Der Arzt musterte sie interessiert und wandte sich wieder dem Apparat zu.
Im nächsten Augenblick kam die Entladung, auf die Julie so angsterfüllt gewartet hatte. Eine Schicht ihres Bewusstseins, die vom Rest ihres Gehirns auf eine seltsame Weise abgetrennt zu sein schien, wunderte sich über deren geringe Lautstärke, eher ein statisches Knistern als das Krachen, das sie in Erinnerung hatte.
Dann erreichte sie der Schmerz.
Ein sengender Blitz fraß sich, ausgehend von ihren Brüsten und ihren äußeren Schamlippen, in Nullzeit durch ihren Körper. Sie spürte ihn an den Fußsohlen, in den Finger- und Zehenspitzen, den Haarwurzeln, den Pobacken, überall. Ihre Muskeln – jeder einzelne Muskel, jede einzelne Faser – kontrahierten wie Froschschenkel in einem medizinischen Experiment. Und sie glühten.
Äonen später, als sie wieder sehen konnte, schwebte das verschwommene Gesicht des Arztes über ihr.
»Faszinierend. Und das war erst Stufe eins! Ich bin mal gespannt …«
Erneut ein Knistern …
… und viel, viel später ein weiteres.
Julie musste zwischendurch das Bewusstsein verloren haben, denn mit einem Mal fühlte sie sich frei von allen Fesseln. Der Arzt half ihr, sich aufzurichten. Eine Unterhaltung zwischen ihm und dem Wärter drang an ihre Ohren; sie hörte die Worte und Sätze, ohne ihren Sinn zu verstehen. Julies Welt bestand aus Schmerzen, vor allem im Kopf, und einem Gefühl der Desorientierung, der Irrealität, als stünde sie unter Drogen.
»Ein hochinteressantes Spezimen. Stark überhöhtes Schmerzempfinden. Es wird keine größeren Probleme mit ihm geben.«
Die Antwort des Schwarzuniformierten verstand Julie nicht.
»Wie auch immer, ich mache Schluss für heute. Den Papierkram erledige ich morgen früh. Ich habe meiner Frau versprochen, nicht wieder so spät nach Hause zu kommen. Mein Enkel hat morgen Geburtstag und …«
Der Rest verschwand in einem Murmeln. Julie fühlte sich hochgezogen, spürte, wie ihre Hände wieder hinter ihrem Rücken gefesselt wurden, hörte das Klirren der Fußkette, als sie erste zaghafte Schritte machte. Hätte sie der Wärter nicht gestützt, wäre sie gefallen.
Das Nächste, woran sie sich später erinnerte, war ein winziger und niedriger Raum, umschlossen von kahlen Betonwänden: Julies Nachtquartier für die folgenden Wochen. Eine wenige Watt schwache Birne über der eisernen Tür ließ sie das Innere der Zelle mehr erahnen als sehen. Der Betonboden war größtenteils mit Streu bedeckt, wie in einem Stall. Ihr Halsband war durch eine Kette mit der Wand verbunden. Immerhin hatte man ihr die Hand-, wenn auch nicht die Fußfesseln abgenommen, so dass sie halbwegs bequem liegen konnte. Auch von dem schrecklichen Knebel hatte man sie befreit. Ganz am Rande ihrer Reichweite stand ein Blechnapf mit Wasser und ein weiterer, der einen zähflüssigen und geruchlosen Brei enthielt. In einer Ecke war ein quadratischer Gitterrost in den Boden eingelassen, aus dem schrecklicher Gestank drang. Sollte das etwa die Toilette sein?
Julie trank zunächst etwas Wasser, dann tauchte sie einen Finger in den Brei und schleckte ihn ab. Im nächsten Moment zog sich ihr Magen zusammen und hob sich. Sie konnte sich gerade noch abwenden, bevor sie sich erbrach.
Die Nachwirkungen der Elektroschocks! Ich muss warten, bis sich mein Körper wieder erholt hat.
Immerhin konnte sie trinken, ohne dass ihr Körper sich gegen sie wandte.
Sie legte sich in Fötalstellung auf den Boden und schloss die Augen. Langsam ließ die geistige Lähmung, die sie irgendwann im Laufe dieses endlosen Abends befallen hatte, ebenso nach wie die Schmerzen in ihrem Kopf und in ihren Brüsten. Endlich war sie wieder in der Lage, halbwegs klare Gedanken zu fassen, die nicht von Schrecken und Panik diktiert waren.
Was war geschehen? Eine Verwechslung mit einer anderen Urlauberin?
Sie schüttelte den Kopf, was die Kopfschmerzen sofort wieder aus ihrem leichten Schlummer weckte. Nein, die Verwechslungstheorie war gestorben. Julie musste sich der Tatsache stellen, dass sie regelrecht »einkassiert« worden war und dazu ausersehen, an den Meistbietenden verkauft zu werden, allerdings erst nach einer »umfassenden Konditionierung«. Julie wusste nicht einmal genau, was dieses Wort bedeutete. Sicherlich nichts Gutes.
»Es wird nicht vielen abgehen«, hatte der Wärter im Untersuchungszimmer gesagt. Es: Damit war sie gemeint, Julie Hurt! Sie war nur noch eine Sache, ein Ding, das jemandem gehörte und mit dem dieser machen konnte, was er wollte. Auch es verkaufen.
Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Diesmal waren es Tränen eines inneren Schmerzes, Tränen der Trauer und der Hoffnungslosigkeit. Nein, es gab wirklich nicht viele Menschen, die sie vermissen würden. Ihre Kollegen im Restaurant würden denken, sie hätte von der Arbeit genug gehabt und »auf dem kurzen Weg gekündigt«, was in dieser Branche nicht selten vorkam. Keiner würde Julies Verschwinden für wichtig genug halten, um es der Polizei zu melden. Und wenn doch, was würden die tun? Was konnten sie tun? Wie sollte man Julie jemals finden?
Dabei hatte doch alles so gut geklungen. »S & M Dreams Inc. macht Ihre geheimsten Träume wahr!«, hatte es im Internet geheißen, jener Zuflucht einsamer Herzen und gequälter Seelen. Stattdessen war sie mitten in einem Albtraum gelandet. Wie hatte sie sich nur blindlings dieser seltsamen Firma anvertrauen können?
Julie war stets ein unruhiges Kind gewesen – zu unruhig nach der Meinung ihrer besorgten Eltern. Abends, wenn sie dachten, ihre Tochter schliefe bereits, stand Julie oft wieder auf, wanderte durch das dunkle Haus, blieb an den Fenstern stehen und starrte in die Nacht. Beobachtete das Spiel der Lichter auf dem fernen Highway oder einfach nur die Bewegung der Blätter in den Bäumen. Einmal kletterte sie vom Fenster des Gästezimmers auf das flache Dach der Garage, wo ihr Vater sie entdeckte, der gerade nach Hause kam.
Ihre Mutter geriet regelrecht in Panik, als sie von Julies »Ausflug« erfuhr, und von der folgenden Nacht an wurde Julie mithilfe eines alten Laufgeschirrs aus einem Kinderwagen, das man ihr über die Pyjamajacke streifte, im Bett »gesichert«. Es bot ihr genug Bewegungsfreiheit, um auf dem Rücken oder der Seite liegen zu können, aber das Bett zu verlassen war unmöglich. Sich von dem Geschirr befreien konnte sie ebenfalls nicht; dies scheiterte an einem Schloss im Rücken, wo die Gurte zusammenliefen. Wenn Julie während der Nacht auf die Toilette musste, was glücklicherweise nicht allzu oft vorkam, rief sie ihre Mutter, damit diese sie vorübergehend befreite.
Sie gewöhnte sich rasch an das Geschirr. Im Laufe der Jahre wurde es einige Male gegen ein größeres ausgetauscht, und irgendwann nahm ihre Mutter es nicht mehr so genau mit dem abendlichen »Anschnallen«. Dennoch streifte Julie es sich stets über und musste mehr als einmal ihrer überraschten Mutter am Morgen erklären, wie sie da hineingekommen war. Dass ihre Tochter in dem Geschirr so etwas wie Geborgenheit empfand – eine Geborgenheit, die Julie in ihrer materiell sorglosen, aber von der zerrütteten Ehe ihrer Eltern geprägten Kindheit schmerzlich vermisste –, auf diesen Gedanken wäre sie niemals gekommen.
Und eines Tages war das Geschirr verschwunden. Auf Julies Frage antwortete ihre Mutter: »Du bist jetzt ein großes Mädchen und brauchst so etwas nicht mehr.«
Damals musste sie etwa zehn Jahre alt gewesen sein.
Viel später, nach dem Tod ihrer Eltern, hatte sie im Internet ein Riemensystem ersteigert, wie es noch manchmal in medizinischen Institutionen verwendet wurde. Von Magnetschlössern bewachte Schlaufen umfassten Julies Hand- und Fußgelenke sowie ihren Leib und fesselten sie so ans Bett, dass sie nur noch ihren Kopf bewegen konnte. Natürlich, die Schlaufe um ihre linke Hand war etwas weiter als die um ihre rechte, damit sie die Hand herausziehen und sich befreien konnte. In diesen Fesseln gewann Julie für einige Stunden die Geborgenheit ihrer Kindheit zurück, und sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn sie sich nicht selbst befreien könnte, wenn sie auf die Gnade oder Ungnade eines anderen Menschen angewiesen wäre, vielleicht eines völlig Fremden, der sich von ihrem Flehen nicht beeindrucken ließ. Wie es wäre, stunden- oder gar tagelang hilflos gefesselt zu sein, sich um nichts kümmern zu müssen als um die grundlegendsten Bedürfnisse ihres Körpers. Keine Sorgen zu haben. Keine Angst vor dem Leben draußen.
In einer anderen Phantasie – einer, die sie nicht allein realisieren konnte – hockte Julie in einer Gummizelle und trug eine Zwangsjacke, die ihre Arme bewegungsunfähig unter ihren Brüsten verschränkte. Zwei- oder dreimal täglich bekam sie Wasser und etwas zu essen in einem Napf. Da sie ihre Hände nicht gebrauchen konnte, musste sie auf dem Boden robben und aus dem Napf fressen wie ein Hund. Und doch war sie glücklich, denn die weichen, aber letztlich doch unnachgiebigen Wände der Gummizelle schützten sie vor der Welt und den Problemen, die das Leben mit sich brachte.
Aber es wäre Julie niemals eingefallen, sich dabei Schmerzen zuzufügen. Im Gegenteil: Julie hatte panische Angst vor Schmerzen. Wenn sie sich wieder einmal in der Küche die Finger verbrannte, kamen ihr stets die Tränen wie einem kleinen Kind, was dazu führte, dass anfängliches Mitleid ihrer Arbeitskollegen rasch in Verachtung umschlug. »Führ dich doch nicht so auf!«, hieß es dann.
Ja, der Urlaub, den sie bei S & M Dreams Inc. gebucht hatte, hätte so schön sein können … Sie hatte sich gewünscht, eine Woche lang in einer Gummizelle eingesperrt zu sein, bekleidet lediglich mit einer Zwangsjacke. Dreimal am Tag würde man ihr zu essen und zu trinken bringen, man würde sie füttern und ihr ein Fläschchen geben wie einem Baby – einem Baby, das sich um nichts zu kümmern brauchte, das keine Sorgen kannte. Und am Abend würde man sie aus der Gummizelle holen und ihr die Zwangsjacke abnehmen. Man würde sie nackt zu einem Bett führen. Dann würde man ein Geschirr aus Lederriemen um sie legen und so befestigen, dass sie sich nicht aus eigener Kraft davon befreien konnte. Sie hatte zwar eine gewisse Bewegungsfreiheit, konnte das Bett jedoch nicht verlassen. So würde sie die Nacht verbringen: in Geborgenheit.
Man würde …
Sie könnte …
Mitten in diesen Gedanken schlief sie ein oder verlor das Bewusstsein.