Читать книгу Totenwache 2.Teil - Tonda Knorr - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеNervös trommelte Sarah mit ihren Fingern auf dem brusthohen Tresen am Empfang herum.
„Warum dauert das so lange?“
„Weil der Herr Polizeidirektor nicht immer kann, wie er will. Außerdem sind Sie zu früh.“
Verunsichert schaute Sarah in das Gesicht der netten Empfangsdame.
„Sie wollen mich ja nur beruhigen.“
„Ja das will ich. Außerdem, wenn ich ehrlich bin, nervt ein wenig ihr Getrommel.“
Sarah hielt inne. Ein kurzer Blick zu Frank, der nicht unweit neben ihr stand, ein kurzes Nicken seinerseits und ein skeptischer Blick von ihm, bestätigte ihr, dass die junge Frau wohl Recht zu haben schien. Sarah blickte hoch zu der Uhr an der Wand. Noch 12 Minuten, viel zu früh. Die Dame am Empfang folgte Sarahs Blick mit einem verschmitzten Lächeln.
„Ganz genau, wenn beide Zeiger ganz oben stehen, dann spätestens kommt der…“
„Ja, ja, ja…“, unterbrach Sarah die Frau. „…ich hab‘s ja verstanden.“
„Sarah?“
Eine leise Stimme, ließ Sarah zusammenzucken. Ihr lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter. „Fender, mach kein Quatsch“, waren die letzten Worte die sie von dieser Stimmlage vernahm. Dem ersten Schreck folgte unbeschreibliche Wut. Ihr geschultes Polizeigehör konnte sofort ermessen, wie weit sich derjenige zu dem die Stimme gehörte, von ihr entfernt befinden musste. Sie war sich sicher, dass das genau der richtige Abstand sei um gleich auszuholen.
Noch während Sarah sich mit dem Gedanken befasste, war ihr der Körper schon voraus. Aus einer kurzen Körperdrehung heraus streckte sich unter dem entsetzten Blick von Frank ihr Arm zu voller Länge aus und Sarahs geballte Faust landete in dem Gesicht, das zu dem hünenhaften Kerl gehörte, der Sarah vorsichtig angesprochen hatte. Im Nu war es mucksmäuschenstill. Kein Gerede, kein Telefongeklingel, kein Nichts. Ruhe im ganzen Foyer und alle starrten sie an. Keiner hatte einen Blick für den Kerl, der gerade von einer fast um einen Kopf kleineren Frau mit einem einzigen Fausthieb dahingestreckt wurde. Ruhe. Sarah hasste Ruhe. Schon mal, weil sie das laute Klicken der Zeiger vernahm, welche ihr Wissen ließen, dass es gleich 12.00 Uhr sein musste und der Polizeidirektor jeden Augenblick erscheinen konnte. Bernhard war immer pünktlich.
„Büttner.“
Der Kerl, der eben noch einen Meter von ihr weg auf dem Fußboden lag, erhob sich langsam. Frank hatte sich mittlerweile vorsorglich zwischen die beiden postiert. Mit ausgestrecktem Arm deutete er Büttner an, sich zurückzuhalten.
„Mach jetzt kein Quatsch.“
„Nein, nein, keine Angst. Ist schon okay.“
Frank nahm langsam seinen Arm herunter und wandte sich Sarah zu. Sie zitterte am ganzen Leib und hielt sich schmerzverzerrt die rechte Hand.
„Scheiße Büttner, geh mir aus den Augen. Jetzt habe ich mir an deiner Visage fast noch die Hand gebrochen.“
„Sarah…“
„Man, halt deine…“
„…es tut mir leid.“
Sarah hielt inne. „Was tut dir leid, dass mit meiner Hand? Ich habe noch eine und die kommt auch gleich angeflogen.“
„Ich will mich bei dir entschuldigen. Ich kann mit dir mitfühlen. Seit dem Abend geht’s mir…“
„Was?“
„Was?“
Fast im Einklang reagierten Frank und Sarah überrascht auf das, was sie da gerade von Büttner zu hören bekamen. Keiner der Beteiligten merkte, dass mittlerweile Bernhard Kuntz im Foyer angekommen war. Während er dem herangeeilten Sicherheitsbeamten andeutete nicht eingreifen zu müssen, verfolgte er aufmerksam den Disput.
„Ich mach mir seitdem Vorwürfe…“
„Vorwürfe? Zwei Jahre lang machst du dir Vorwürfe?“, wurde Büttner erneut von Sarah unterbrochen.
Frank merkte wie Sarah begann, an seinem ausgestreckten, schützend vor ihr gehaltenen Arm zappelig zu werden. Sie schäumte vor Wut und es schien als würde sie dem Kerl gleich an die Kehle springen. Behutsam aber wirkungsvoll drückte er sie zurück, während er Büttner vorwurfsvoll anschaute.
„Sag mal, hast du noch alle Latten am Zaun? Wovon redest du?“
„Ich weiß nicht wie ich es sagen soll, aber…, es tut mir so…, ich mach mir solche Vorwürfe.“
„Vorwürfe?“ Frank stand Büttner jetzt Visasvis gegenüber. „Man du stotterst hier rum, wie so eine kleine Rotzgöre. Was hättest du jetzt im Einsatz gemacht, wenn das keine Faust gewesen wäre, die da in dein Gesicht gedonnert kam. Genau so dämlich habt ihr euch auch damals angestellt, ihr Schisser. Egal was passiert, man lässt seinen Kollegen nicht im Stich. Schon gar nicht wenn es eine Frau ist und ihr in so einen Laden wollt.“
„Aber…, aber die Vorschriften…“, stotterte Büttner vor sich hin. Kreidebleich und das Gesicht mit Schweißperlen übersät stand er vor Frank wie ein Häufchen Elend.
„Vorschriften! Du kannst dir die Vorschriften und deine Selbstvorwürfe in den Arsch stecken, und selbst dann kannst du immer noch nicht mitfühlen wie es Sarah an diesem Abend ergangen ist.“
„Schluss jetzt!“, wurden sie von Kuntz unterbrochen. Die Argumentation mit den Vorschriften ging dem Polizeidirektor jetzt doch zu weit. Frank ließ sich aber nicht beirren. Mit versteinerter Miene starrte er Büttner an.
„Weißt du, es ist nicht nur der körperliche Schmerz. Es ist die Enttäuschung, dass einen die eigenen Kollegen im Stich gelassen haben. Die, auf die man sich in so einem Einsatz hundertprozentig verlässt, oder verlassen müsste. So ein Einsatz ist Teamarbeit und ihr habt euch die Ärsche breit gesessen, bis ihr Schutz vom SEK hattet. Ihr Lappen, ihr habt einfach kein Kreuz gehabt.“
Auch Kuntz ließ, wie alle anderen, das Gesagte kurz wirken, eh er sich mit einem kraftvollen „Schluss jetzt!“, wiederholend zu Wort meldete.
„Büttner, Sie verschwinden hier. Frank, du wartest da und Sarah, du kommst bitte mit. Für euch beide ist das ein Befehl und für dich Sarah, eine ernstgemeinte Bitte. Und für alle anderen hier…, haben Sie nichts zu tun?“
Während er Sarah an den Arm nahm, unterstrich er mit seiner anderen Hand eindringlich gestikulierend seine Anweisungen. Er machte sich, Sarah neben herführend, auf den Weg nach draußen. Auf der Eingangstreppe ließ er Sarahs Arm los. Ohne ein Wort zu wechseln lehnten sie sich gegen das Geländer. Sarah, immer noch auf 180, umklammerte frontal das Geländer während Kuntz sich mit einer störrischen Ruhe rücklings dagegen lehnte. Sein Blick über den Hof streifend machte er sich gelassen eine Zigarette an. Er fühlte förmlich wie es neben ihm in Sarah brodelte. Genussvoll zog er zwei drei Züge bevor er Sarah die Zigarette hinhielt.
Verstört sah Sarah ihn an. „Ich denk du hast aufgehört?“
„Offiziell ja, inoffiziell…, in meinem Alter…? Das lohnt sich nicht mehr.“
„Aber hier kann dich doch jeder sehen.“
„Na und! Schließlich bin ich hier Direktor. Da traut sich doch keiner was zu sagen. Nun nimm schon.“
Sarah schüttelte mit dem Kopf.
„Nee, hab auch aufgehört.“
„Wegen Frank?“
„Auch! Soll ungesund sein.“
Noch während sie redete nahm sie Kuntz unter dessen belustigter Beobachtung die Zigarette aus der Hand und zog dran. Langsam drehte sie sich um. Sie schien sich zu beruhigen.
Kuntz sinnierte „Davon redet immer keiner.“
„Wovon?“
„Immer heißt es, achtet auf eure Gesundheit. Die Lunge, der Krebs, der Gestank, die Mitmenschen die passiv mitrauchen. Aber keiner erwähnt, wie beruhigend so eine Zigarette sein kann.“
Während Bernhard für sich eine zweite Zigarette anmachte, legte Sarah ihren Kopf auf seine Schulter. Beide schwiegen für die Länge der Zigarette vor sich hin.
„Und? Geht’s wieder?“
„Ich glaub schon. Tut mir leid. Ich habe nicht damit gerechnet.“
„Womit? Büttner hier zu treffen?“
„Nein. Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich nach fast zwei Jahren noch so darauf reagiere. Ich dachte ich bin auf dem richtigen Weg.“
Kuntz drehte sich zu Sarah.
„Bist du Kleine, bist du. Das ist doch gerade das, was dich ausmacht. Das Emotionale. Aber Gewalt ist nun mal keine Lösung.“
„Das sehe ich anders, und die Geschichtsbücher sind schließlich voll damit.“
Er hielt inne. Ließ das Gesagte kurz wirken.
„Wie geht’s eigentlich Herbert und Marianne?“
„Sie fahren heute an die Nordsee. Die wollen es ganz in Ruhe angehen lassen. Erst mal abschalten und vielleicht ein bisschen planen, wie es weitergehen soll.“
„Abschalten.“ Nachdenklich kehrte Kuntz in sich.
„Als ob das so einfach geht. Ist wie ne Vollbremsung. Du läufst dein Leben lang auf Hochtouren und dann, von heute auf morgen…, naja, die werden das schon hinkriegen. Ist bloß schade.“
„Schade?“
„Schade für Berlin. Ich habe Herbert immer bewundert. Er hat‘s echt draufgehabt. Der ist manchmal rumgesprungen wie ein HB-Männchen. Termin hier, Termin da, Telefon an einem Ohr, Handy am anderen. Aber das was er gemacht hat…, seine Entscheidungen…, immer im richtigen Augenblick, immer durchdacht und sehr professionell!“
„Also ein bisschen wie du?“
„Oh nein! Meine Entscheidungen sind an Gesetze und Vorschriften gebunden. Da ist meistens wenig Spielraum. Oder denkst du, ich hätte dich einfach so gehen lassen? Glaub mir mal, das ist mir sehr schwer gefallen. Da hast du es als Unternehmer erheblich einfacher. Du musst zwar mehr ins Risiko gehen, aber dafür bist du dann auch mit dem Ergebnis zufrieden. Meistens jedenfalls.“
Während Sarah Bernhard zwar noch zuhörte, waren ihre Gedanken aber bei dem hängen geblieben, was er zu ihrer Versetzung in den Ruhestand sagte. Sie musste sich eingestehen, dass sie noch nie darüber nachgedacht hatte, ob es Bernhards persönliche Entscheidung war oder ob er gar keine andere Wahl hatte, sie für immer aufs Abstellgleis zu schieben. Aber schließlich war sie heute hier, weil er sie brauchte. Trotzdem passte das alles irgendwie nicht recht zusammen.
„Warum bin ich heute hier?“
Kuntz ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er konzentrierte sich darauf, seine Zigarette auszudrücken. Vielleicht wollte er auch noch nicht antworten.
„Sag schon, warum bin ich heute hier?“
Kuntz wandte sich Sarah zu. Während sie ihn erwartungsvoll, von Neugierde besessen anschaute, zeichnete sich in seinem Gesicht ein wenig Ratlosigkeit ab.
„Ich brauche dich. Wirklich. Wir stehen unter Zeitdruck. Es ist auch gut, dass du heute gleich gekommen bist. Nicht gut für Büttner, aber für mich.“
„Na dann leg los.“
„Gleich. Habe noch einen Augenblick Geduld. Ich will euch erst mal was zeigen.“
Behutsam nahm er Sarah wieder an den Arm um mit ihr zurück ins Foyer zu gehen, hielt aber vorher kurz noch mal inne.
„Sarah…, wenn Büttner da jetzt noch irgendwo rumsteht, dann gehen wir da ganz ruhig vorbei.“
„Mal sehen.“
„Nicht mal sehen. Vielleicht sollte ich dir mal klarmachen, dass du gerade einen Polizeibeamten umgehauen hast.“
„Vielleicht bekomme ich ja mildernde Umstände?“
„Warum? Bloß weil der Büttner größer als zwei Meter ist?“
Mürrisch blickte Sarah drein, während sie dem Polizeidirektor folgte.
Keine Spur von Büttner. Frank gesellte sich ohne ein Wort zu verlieren zu den beiden. Auch ein Sicherheitsbeamter, der von Kuntz herbeigewinkt wurde, folgte den Dreien. An der Sicherheitsschleuse vorbei ging es, zu Sarahs Überraschung, nicht zum Fahrstuhl.
„Wo gehen wir hin?“
„Wart’s ab.“
Neugierig blickte sie sich um. Sie musterte die Schilder an den Wänden. Auch an jeder Glastür, die sie bis dato durchschritten, standen Begriffe, die sie nicht einordnen konnte. Ihr fiel nur auf, dass der Sicherheitsbeamte unter der akribischen Beobachtung von Kuntz von Tür zu Tür immer längere Codes auf den angebrachten Sicherheitspaneelen einhämmerte.
„Technischer Bereich? Hauswirtschaft? Tiefgarage? Wo sind wir hier? Gehen wir zur Besenkammer? Willst du mir einen Job als Hausmeister anbieten?“
„Keine Angst“, antwortete Kuntz beiläufig.
„Ha…, ich hätte nur Angst, wenn in der Besenkammer ein alter Tennisspieler lauert.“
Mit einem schlichten Lächeln quittierte Kuntz Sarahs Bemerkung.
„Na wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren.“
Die Gänge zwischen den Türen wurden immer länger und immer eintöniger. Ein wenig Beklemmung machte sich bei Sarah breit. Sie näherten sich einer Fahrstuhltür. Während sie geduldig auf den Fahrstuhl warteten rutschte Frank ein leises „also doch“ heraus.
Kuntz konnte mit der Bemerkung nichts anfangen.
„Also doch?“
„Es gibt es also doch, das Pentagon.“
„Na klar gibt es das Pentagon.“
„Hier.“
„Hier?“
„Man munkelte, dass es hier im Haus noch ein paar Etagen nach unten geht. Eine Art unterirdischer Bunker, für den Fall der Fälle. Naja…, und wie das so ist hier in Berlin. Alles bekommt einen Namen, man nennt es das Pentagon.“
„Pentagon?“
„Genauso.“
„Da soll mir mal noch einer sagen, dass unsere Polizei keinen Intellekt hat.“
Die sich öffnende Fahrstuhltür lenkte Kuntz davon ab, weiter über das Gesagte nachzudenken. Ab hier ging es nur noch zu dritt weiter. Der Sicherheitsbeamte blieb zurück. Die leuchtende Anzeige über der Tür bestätigte Sarah darin, dass es sich hier mit allem anderen, aber nicht im entferntesten mit der Größe des Pentagon vergleichen ließ. Keine zwei Etagen ging es runter. Wieder so ein endloser Flur. Keine Fenster, keine Stühle, Nichts. Kuntz öffnete eine Tür zu einem kleinen Raum, der auf einer Seite zur Hälfte verglast war. Ähnlich so, wie sie es aus den Verhörraumen kannte. Bloß das es hier zusätzlich noch eine Glastür in eben dieser Wand gab. Hinter den Scheiben schien es dunkel zu sein.
„So. Ihr seid die ersten und vielleicht letzten Außenstehenden, die das so zu Gesicht bekommen.“
Ohne seinen Blick von der dunklen Scheibe zu nehmen, betätigte Kuntz einen Schalter, der den Raum dahinter nach und nach in hellem flackerndem Neonlicht erstrahlen ließ.
Sprachlos starrten Frank und Sarah durch die Scheibe. Dem Leuchten in ihren Augen und den offenen Mund entnahm Bernhard die Wirkung, die dieser Anblick bei den beiden verursachte.
„Das ist euer Fund. Das sind die Kunstgegenstände, die jahrzehntelang in Glostelitz eingemauert waren.“
Sorgsam aufgetischt, aneinandergereiht, offenbar stundenlang poliert und aufgemotzt standen die Sachen im ganzen Raum verteilt. Hier und da ließen die unterschiedlichsten Utensilien auf eine bereits in Angriff genommene Restaurierung schließen. Für einen Augenblick herrschte bei den Dreien absolute Ruhe. Das lauteste im Raum war das Surren der Neonlampen. Sarah und Frank waren fasziniert von dem Anblick. Keine Spur mehr von den über die Jahre in alten Stofffetzen und vergammelten alten Holzkisten gelagerten Sachen.
Während Sarah schon die Türklinke in der Hand hielt drehte sie sich zu Kuntz.
„Darf ich?“, fragte sie in leisem Flüsterton.
Mit einem kurzen Nicken bewahrte Kuntz die andächtige Ruhe. Vorsichtig, gefolgt von Frank und dem Polizeidirektor, betrat Sarah den Raum. Behutsam berührte sie den Kerzenständer, den Frank damals als erstes aus einer der Kisten rausgewühlt hatte. Es waren drei der gleichen Art. Sie sahen heute und hier ganz anders aus. Der mattglänzende Bronzeton wirkte sauberer, ordentlicher, fast wie neu.
Das einzige, was sie unterschied, waren die kunstvollen Verzierungen und vor allem ein mitten im Davidstern angebrachtes, kaum zu erkennendes Zeichen. Vielleicht ein hebräischer Buchstabe oder eine Ziffer. War Sarah damals gar nicht aufgefallen. Auch die tellergroße Platte am unteren Ende hatte ähnliche Verzierungen, die vielleicht in der jüdischen Kultur irgendeine Bedeutung darstellten.
„Kandelaber“, kommentierte Kuntz Sarahs aufmerksame Begutachtung.
„Ich dachte, Kandelaber sind Straßenlaternen?“
„Dachte ich auch. Die Kunstfritzen haben mich aber eines Besseren belehrt.“
„Das alles war da drin?“
Frank war sichtlich überrascht von der Masse an Gegenständen. Sarah, die jedes Stück mit einer vorsichtigen Berührung begutachtete wandte sich an Kuntz.
„Warum steht das hier und ist nicht in irgendeinem Museum? Die müssen dir doch die Bude eingerannt sein?“
„Tja Sarah, dazu kommen wir gleich.“
„Was ist das wert?“
Nachdenklich, als müsse er nach einer Antwort suchen, schüttelte Bernhard den Kopf.
„Du hattest damals nicht ganz Unrecht. So wie es hier steht, ohne Bezug auf jegliche individuelle Interessen…, ich glaube so um die fünf bis sechs Millionen.“
Sprachlos, den Mund vor Erstaunen geöffnet, starrten die Beiden Kuntz an.
„Ja, ja, ihr habt richtig gehört. Das ist schon ein mächtiges Ding. Und du hast noch mal Recht. Sie sind uns die Bude eingerannt. Es gab Augenblicke, da war ich mir nicht mal mehr sicher, ob ich Museumsverwalter oder Polizeidirektor bin.“
„Wenn die das in Glostelitz erfahren, flippen die aus.“
Kuntz unterbrach Sarah mit einem kurzen: „Erfahren sie ja nicht. Jedenfalls nicht von euch.“
„Aber…, warte…, du hast gesagt, wir sind vielleicht die letzten Außenstehenden, die das sehen? Und was meinst du mit ideellen Interessen?“
„Kommt. Lasst uns nach nebenan gehen.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren verließ Kuntz die Räumlichkeiten. Immer noch überwältigt von dem Anblick folgten Sarah und Frank dem Direktor den Flur entlang in einen Art Konferenzraum. Die drei nahmen Platz. Vor ihnen lagen verschiedene Akten, Dossiers wie es schien. Ein Haufen Papierkram jedenfalls.
„Nehmt Platz.“
Während sich Kuntz die Brille auf die Hälfte der Nase schob, wühlte er in einer der Akten. Mit skeptischem Blick zog er behutsam ein Schreiben hervor. Das Papier unterschied sich von der Qualität der anderen erheblich. Edles Büttenpapier, fein marmoriert mit einem, trotz der Schrift, gut zu erkennenden Wasserzeichen. Anscheinend irgendein Wappen. Die Zeilen schienen per Hand geschrieben. Auf alle Fälle sah das Schreiben vornehm aus, fast wie ein königliches Papier, in Wichtigkeit wohl kaum zu überbieten.
„Es wurden Ansprüche gestellt. Besitzansprüche.“
Während Kuntz, fast schon ein wenig hoffnungslos zu Gehör brachte, was ihm seit Tagen auf der Seele brannte, verteilte er Kopien von dem Schreiben. So konzentriert Frank das Schreiben las, so oberflächlich überflog Sarah es. Ab und an blickte sie zu Kuntz. Eigentlich erwartete sie von ihm, etwas ganz Anderes zu hören, als dass irgendwer jetzt Ansprüche stellt. Sie rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her.
„Banque pour l’art- schon mal was von gehört?“, fragte Kuntz in den Raum hinein ohne seinen Blick von dem Schreiben zu nehmen. Jetzt schaute auch Sarah kurzeitig konzentrierter auf das Schreiben.
„Bank für Kunst?“
„Eine Schweizer Bank. Sitz in Bern, gegründet irgendwann mal in Lausanne.“
Während Sarah das Schreiben durchblätterte, blickte sie ab und an erwartungsvoll zu Kuntz. Der ließ sich aber nicht beirren.
„Also. Ich versuche es mal kurzzufassen. Diese Banque pour l’art vertritt die Ansprüche einer sogenannten Ruben Compagnie. Sie sind der Meinung, nachweisen zu können, dass die gefundenen Kunstgegenstände Teil eines größeren Privatvermögens sind und damit ihnen gehören.“
„Der Bank?“
„Nein. Dieser Compagnie. Die Bank verwaltet deren Vermögen und vertritt mit einer Armada von Anwälten, selbstredend mit Vollmacht, die Ansprüche von denen. Die haben natürlich ein Interesse daran, den Rest auch noch unter ihre Fittiche zu bekommen. Verständlich.“
Frank schien irritiert. „Eine Bank die nur Kunstgegenstände verwaltet?“
„Tja, so lernt man immer mal wieder was dazu. Ich habe so was auch noch nicht gewusst.“
„Gibt es Informationen über diese Bank oder dieser Ruben Compagnie?“
Kuntz verneinte die Frage mit einem eindringlichen Kopfschütteln. Frank hakte nach. „Google, Wikipedia, Nichts?“
„Nichts! Nicht die kleinste Information. Ein kaum zu erkennendes Bild von dem Gebäude in Bern, nichts Spektakuläres.“
„Ist das Rechtens…, und woher wissen die überhaupt davon?“
Kuntz nahm seine Brille ab und lehnte sich zurück.
„Wenn man so was findet, musst du nachforschen wem es gehören könnte. Außerdem gibt es ein sogenanntes Art-Loss-Register.“
„Art-Loss-Register?“
„Eine weltweite Datenbank über verlorene Kunstgegenstände. Da werden alle gestohlenen oder vermissten Kunstgegenstände aufgelistet.“
„Alle?“
„Ein Großteil jedenfalls. Mit Kunstgegenständen ist das so eine Sache. Manche sucht man, manche werden gefunden, andere werden gestohlen, wieder andere sollen gar nicht gefunden werden usw., usw. Auf alle Fälle können wir uns das nicht einfach in die Vitrine stellen. Auch wenn wir das gerne wollen, wir müssen erst mal klären, wem das gehören könnte.“
„Die Russen machen es aber nicht so kompliziert.“
„Oh, das ist ein anderes Kapitel. Hier aber scheinen die Besitzverhältnisse klar auf der Hand zu liegen. Es gibt internationale Abkommen, die besagen in solchen Fällen zu prüfen, inwiefern es sich tatsächlich um Beutekunst oder etwas Ähnliches handelt. Offiziell nennt man das ja Restitutionsansprüche. Und glaube mir eins, die es darauf anlegen, die kriegen das auch mit. Für die hat das oberste Priorität. Die haben ihre Augen und Ohren überall. Dieses Art-Loss-Register ist auf dem Computer bei solchen Leuten in der Favoritenliste ganz oben. Bei jedem neuen Eintrag klingeln bei denen die Alarmglocken. Diese Ruben Compagnie hat Unterlagen, Besitzurkunden bzw. Kaufverträge die angeblich zweifelsfrei belegen, dass diese Kunstgegenstände aus jüdisch-russischem Besitz ihnen gehören.“
Während Frank in den Schreiben blätterte, wandte Kuntz sich an Sarah, die auffällig ruhig geblieben war.
„Was sagst du dazu?“
Sarah machte den Eindruck mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein, sie schien gar nicht zuzuhören. Langsam drehte sie sich zu Kuntz.
„Bevor du dir meine Meinung anhörst, willst du mir nicht erst mal was sagen?“
Kuntz nickte bedächtig, als würde es ihm gerade wieder einfallen.
„Du hast Recht. Ich hätte dich erst mal fragen sollen. Dass ich dabei deine Hilfe brauche, habe ich ja schon gesagt. Diese komische Bank wünscht, und das müssen wir wohl auch tun, dass ihr ihnen sämtliche Unterlagen die uns zur Verfügung stehen, zukommen lasst. Die prüfen dann, ob es sich auch wirklich um die gesuchten Kunstgegenstände handelt und ihr müsst prüfen, ob diese Ansprüche berechtigt sind. Soll heißen, ihr seid vor Ort, natürlich in direkter Verbindung mit meiner Kommission.“
Frank schien irritiert.
„Aber wir leben doch im 21.Jahrhundert. Warum mailen oder faxen sie denen die Listen nicht einfach runter.“
„Das darfst du mich nicht fragen. Vermutlich, weil alleine die Listen und Unterlagen die wir haben schon ein Vermögen wert sind. Abgesehen davon haben wir das schon getan, deshalb ja die konkreten Ansprüche und nun müssen wir die ihnen im Original vorlegen. Wie sollen die sonst ihre Echtheit prüfen?“
„Aber man kann das doch schicken? UPS oder so.“
Skeptisch wackelte Kuntz mit seiner Hand.
„Nein, nein. Die wünschen, dass ihnen das persönlich übergeben wird. Die übernehmen auch die Kosten. Flug, Leihwagen, Hotel usw., das ganze Programm.“
Frank lehnte sich zurück. Sein Blick richtete sich zu Sarah. Auch Kuntz drehte sich ihr zu.
„Was sagst du Sarah? Wenn es nicht so ernst wäre, würde ich es euch als kleinen Erholungstrip verkaufen. Ich habe aber so ein mulmiges Gefühl. Ich muss euch nicht sagen, dass wir das nicht gerne wieder rausgeben. Aber wenn es denen gehört, werden wir das wohl machen müssen. Also? Bist du dabei?“
Mit einem vorsichtigen Lächeln schaute Sarah ihn an.
„Heißt das, ich bin wieder im Dienst?“
„Was?“
Ratlos schaute Kuntz zu Frank. Der vergrub sein Gesicht vorsichtig hinter seiner Hand. Er ahnte was jetzt kommen sollte.
„Wovon redest du?“
„Von mir. Du willst doch, dass ich euch helfe. Demzufolge gehe ich davon aus, dass ich wieder…“
Sarah stockte. Sie merkte, dass Kuntz nicht mal ansatzweise wusste wovon sie redete. Ihr dämmerte Ungemach.
„Was? Was meinst du?“, ließ Kuntz nicht locker.
„Bin ich nun wieder im Polizeidienst oder nicht?“
„Kindchen, wie kommst du darauf?“
„Nenn mich nicht Kindchen. Ich habe mir 15 Jahre für deinen Laden den Arsch aufgerissen und ich denke mal, dass ich dir bewiesen habe, dass ich das noch kann. Ich bin kein Kindchen.“
„Du meinst, so wie vorhin oben im Foyer.“
Sarah zuckte zusammen.
„Warte…, warte…, du hast gedacht, dass du wieder in den Polizeidienst kannst? Jetzt verstehe ich. Man, da hätte ich ja auch selber draufkommen können. Tut mir leid, ich hätte mich wohl gleich klipp und klar ausdrücken sollen.“
Genervt, enttäuscht, ratlos schaute Sarah hilfesuchend zu Frank. Wie ein Stich ins Herz empfand sie seinen leeren Blick. Von ihm schien keine Hilfe zu kommen. Sie drehte sich wieder zu Kuntz.
„Aber warum bin ich dann hier?“
„Du sollst da nicht als Polizistin hinfahren. Du fährst da im Auftrag der Sonderkommission hin.“
„Und warum nicht als Polizistin? Warum die ganzen neuen Gutachten, die ganzen Gespräche mit den Gehirnklempnern…?“
„Gut! Reden wir über die Gutachten. Die Gehirnklempner, wie du so schön sagst, sind der Meinung, dass sich zwar geringe Verbesserungen an deiner Psyche feststellen ließen, du aber noch weit davon entfernt bist, den Anforderungen…“
„Hör auf!“, wurde er von Sarah unterbrochen. „Das kann doch nicht dein Ernst sein? Du kennst mich doch. Bist du derselben Meinung?“
„Sarah! Ich habe dir das schon mal gesagt. Es geht hier nicht um meine Meinung. Verflucht nochmal, ich bin Polizeidirektor. Wir sind hier nicht in einem Kleingartenverein, wo man manche Sachen beim Kaffeeklatsch beschließt. Ich muss die Leute ohne persönliche Sympathien alle gleich behandeln. Ich kann denen nur Empfehlungen geben, aber entscheiden tun die das. Dafür sind solche ärztlichen Gutachten doch da. Man ist immer noch der Meinung, dass du in Extremsituationen nicht so reagierst, wie es sein sollte.“
„Das ist doch Schwachsinn.“
„Schwachsinn? Was ist mit deinen Schwindelanfällen? Was ist mit deinen Gefühlsausbrüchen? Wie nennst du das, was da oben mit Büttner…“
„Hör endlich auf!“
Während Sarah den Direktor erneut unterbrach, sprang sie auf. Ihr Blick wandte sich zu Frank.
„Hast du das gewusst?“
Sie wartete erst gar keine Antwort ab.
„Na klar hast du das gewusst. Und nichts gesagt.“
Enttäuscht schob Sarah die Unterlagen in die Mitte des Tisches.
„Macht euren Scheiß alleine. Wer mich nicht haben will, der kriegt mich auch nicht.“
Sarah machte sich daran, den Raum zu verlassen. Kuntz blickte ratlos zu Frank, der wie es schien darüber nachdachte, wie er mit der Situation umgehen sollte. Jetzt und vor allem später. Beschwichtigend wandte sich Kuntz nochmal an Sarah.
„Sarah! Setz dich wieder hin. Ich brauche deine Hilfe. Die Sonderkommission braucht deine Hilfe. Es geht hier um wichtigere Sachen. Du wirst auch genauso bezahlt…“
Sarah hob ihre Hand. Sie wollte nichts mehr hören.
„Das ist mir egal. Dein Geld kannst du dir sonst wohin stecken. Ich will hier nur raus.“
Ohne Frank noch eines Blickes zu würdigen, verließ sie den Raum. Die beiden Männer starrten sich an.
„Hol sie zurück.“
„Auf gar keinen Fall. Sie haben sie doch gehört. Sie würde mich alleine dafür umbringen, dass ich mit dem Gedanken spiele sie zurückzuholen.“
„Frank! Ich habe nicht so viel Zeit für so einen Mist. Ich muss heute noch nach Schwerin. Übermorgen musst du dahin, mit ihr oder ohne sie. Ich habe keinen anderen, der da mit hin kann. Und du brauchst sie da, das weißt du genau. Du weißt doch wie wichtig sie für den Fall war und ist. Außerdem kommt sie alleine hier gar nicht wieder raus.“
„Na dann stellen Sie sie wieder ein.“
Entnervt lehnte sich Kuntz, ohne auf die Bemerkung einzugehen, in seinem Sessel zurück. Seine Brille landete im hohen Bogen auf dem Tisch und schlitterte erst mal über selbigen. Sein Blick wanderte über die umherliegenden Akten.
„Das kann ich nicht…, ich kann nicht.“ Sein Blick bohrte sich förmlich in Franks Gesicht.
„Ich kann einfach nicht.“
*
Sarah blickte sich suchend um. Sie war sich nicht sicher, ob sie explodieren, ihre Wut rausschreien oder in sich zusammensacken wollte. Nichts auf diesem endlos langen, trostlosen Flur bot sich an, woran sie sich hätte abreagieren können. Kein Stuhl, kein vergammelter Standaschenbecher, rein gar nichts bot sich ihr an, um ihren Frust loszuwerden. Wie konnte sie nur wieder so blauäugig gewesen sein. Sie wollte einfach nur raus. Raus aus diesem stickigen Mief. Dem bedrückenden Gefühl dieses fensterlosen unterirdischen Betonwirrwarrs entfliehen. Das grün leuchtende Display an der Tür am Ende des Flurs nahm ihr die Hoffnung, hier ohne fremde Hilfe rauszukommen. Sie war keine, die schnell in Panik gerät, aber hier und jetzt überkam sie ein beklemmendes Gefühl. Sie fühlte sich allein, trotz Franks Nähe, der unweit von ihr, vermutlich nicht wusste, wie er mit der Situation umgehen soll. Sie rutschte langsam, mit dem Rücken die Wand entlang, runter auf den Fußboden.
Sie schloss die Augen und vergrub ihr Gesicht hinter ihren Händen. Wie ein kleines Mädchen kauerte sie auf der Erde und verstand die Welt nicht mehr. Sie suchte verzweifelt nach einer Erklärung, nach einem Schuldigen. Sie versank in Hoffnungslosigkeit und nahm nichts um sich herum mehr war, nicht einmal, dass sich vorsichtig die Tür öffnete, die sie aus dieser Beklemmung befreien könnte und Boris Waschkow, der alte russische Bataillonskommandeur, den Flur betrat. Mühsam setzte sich der alte Mann neben sie auf den Boden. Normalerweise passiert so etwas nicht unbemerkt, aber Sarah, immer noch ihr Gesicht hinter ihren Händen vergraben, wollte scheinbar nichts um sich herum wahrnehmen. Was sollte ihr hier im Polizeipräsidium schon passieren? Für einen Augenblick herrschte vollkommene Ruhe. Waschkow spürte förmlich, dass Sarah mit sich allein sein wollte. Trotzdem wandte er sich ihr zu, während er seine Hand behutsam auf ihren Arm legte. Leise begann er zu sprechen:
„Das Leben ist wie eine Achterbahnfahrt. Erst geht es langsam nach oben und dann geht es rasant weiter. Mal runter, wieder hoch, man wird durchgeschüttelt, dann wird’s wieder langsam, und eh man sich an irgendein Tempo gewöhnt hat, geht es schon wieder irgendwie anders weiter. Man weiß nie was hinter der nächsten Kurve kommt. Man wird ein aufs andere Mal überrascht und ist jedesmal froh, dass man es doch überstanden hat. Und wenn man dann aussteigt, die Fahrt Revue passieren lässt, überwiegt meistens der positive Eindruck und man will es gleich noch einmal machen.“
Sarah hatte mittlerweile die Hände runtergenommen und sah Waschkow aus den Augenwinkeln an.
„Aber es gibt auch welche, die kotzen dann erstmal den halben Rummelplatz voll, und steigen nie wieder in so ein Ding.“
Waschkow musste lachen.
„Genau das ist der springende Punkt. Man muss sich im Klaren sein, zu welchen Menschen man gehören will. Steigt man wieder ein und tut sich das ganze Hin- und Hergeschaukle noch einmal an, oder setzt man sich irgendwo hin und lässt das Leben an sich vorbeiziehen?“
„Und? Sind Sie wieder eingestiegen?“
Waschkow überlegte kurz.
„Nach dem Krieg…, ja, da wollte ich eine ganze Weile sitzen bleiben. Das war aber auch, wenn man das so sagen kann, eine ganz heftige Achterbahnfahrt. Was in Glostelitz passiert war, ist ja ein Beleg dafür, was mit Menschen geschehen kann, die so etwas durchmachen. Aber irgendwann wollte ich wieder einsteigen. Musste ich wieder einsteigen. Es ist immer auch ein bisschen die Neugierde, was einem der nächste Tag so bringt.“
„Soll heißen?“
„Der Krieg war eine Ausnahmesituation. So etwas passiert hoffentlich nicht jedem und schon gar nicht mehrmals in einem Leben. Aber man kommt mit dem Leben nur zurecht, wenn man daran teilnimmt. Was auch passiert, das Leben ist nicht auf eine einzelne Person zugeschnitten. Das Leben ist eine Aneinanderreihung von verschiedenen Situationen und man hat auch mit verschiedenen Charakteren zu tun. Mit manchen will man zu tun haben, mit anderen nicht. Mal kann man sich das aussuchen und manchmal nicht. Bernhard zum Beispiel, persönlich hätte er Sie nie gehen lassen, aber die Dienstvorschriften verlangen eine Gleichstellung aller. Wir haben oft über das gesprochen, was, wie es scheint, eben da drin passiert ist. Er kann Sie nicht wieder in den Polizeidienst nehmen, aber er kann Sie für die Sonderkommission arbeiten lassen. Und nun müssen Sie entscheiden, ob Sie diesen Kompromiss eingehen wollen, ob Sie mitmachen oder nur zusehen wollen.“
Sarah ließ das Gesagte wirken, während sie Waschkow weiter musterte. Halfen ihr nun seine Worte oder hatte er als Hintergedanken nur die Interessen dieser Sonderkommission im Kopf. Langsam drehte er sich ihr zu.
„Ja. Natürlich.“
„Was?“
„Sie fragen sich doch jetzt bestimmt, ob das ein Rat eines alten lebenserfahrenen Mannes war oder ob ich im Interesse dieser Sonderkommission rede?“
„Steht mir das auf der Stirn?“
„Ich würde mich das fragen, wenn ich an Ihrer Stelle wäre. Sie haben vor einem Jahr hervorragende Arbeit geleistet. Was Sie nicht wussten war, dass dieser unscheinbare Fall - wenn man das bei elf Toten überhaupt so sagen kann - eine Reise durch die deutsche Vergangenheit wird. Damals zu Kriegszeiten, mussten viele Wertgegenstände unter Repressalien der Machthabenden verkauft werden. Oder aber, sie wurden den rechtmäßigen Besitzern einfach weggenommen. Das war bei den Nazis so, bei uns Russen war das so, obwohl wir das teilweise mit fadenscheinigen Erklärungen begründet haben, und das war auch später bei der Stasi so. Dieses Unrecht muss ein Ende haben. Bei dem Wert dieser Kunstgegenstände muss man höllisch aufpassen, ob wahre Interessen dahinterstehen, oder ob die menschliche Gier der Beweggrund ist. Es wäre schade, wenn diese Sachen in einem geheimen Safe zur Befriedigung einzelner wieder verschwinden würden, als dass sie vielleicht in einem Museum, für alle zum Begreifen der menschlichen Kultur zur Verfügung stehen.“
Verzweifelt schüttelte Sarah den Kopf. Was geht sie das an? Ihr Beitrag an der Gesellschaft war geleistet. Sie hatte sich auf die Fahne geschrieben, für Recht und Ordnung zu sorgen. Irgendwann ist Schluss. Ob gewollt oder nicht. Sie fühlte sich leer. Zu leer um sich dieser Kunstgegenstände anzunehmen.
„Ich kann das nicht und ich will auch nicht. Ich war Polizistin. Das konnte ich und das kann ich auch immer noch. Ich habe das Bernhard schon gesagt, wer mich nicht will, der kriegt mich auch nicht.“
„Aber wir wollen Sie doch!“
„Aber nicht zu meinen Bedingungen.“
Waschkow wirkte ein wenig ratlos.
„Ich glaube Ihnen das nicht. Sie wollen das. So wie Sie sich vor einem Jahr da reingekniet haben, wollen Sie das. Sie sollten sich nicht von Ihrer Verbitterung lähmen lassen. Sie sollten versuchen, aus den negativen Momenten das Beste zu machen. Sie sind Jemand, der Sachen zu Ende bringt. Und können…, Sie können das allemal. Vielleicht sollten Sie versuchen, Ihr momentanes persönliches Empfinden zurückzustellen. Kommen Sie mit rein und hören Sie sich an, was Bernhard Ihnen zu dem Fall sagen kann. Und dann können Sie sich immer noch entscheiden. Bitte! Wir, und ich schließe auch Kommissar Wagner da mit ein, wir brauchen jemanden wie Sie.“
Sarah erhob sich. Ihr Blick galt Waschkows bittendem Gesichtsausdruck. Trotzdem zögerte sie. Ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Ihr Deutsch ist besser geworden. Kommen Sie. Ich tue Ihnen den Gefallen, nicht für Bernhard und auch nicht für Frank. Ich will nicht, dass Ihre Bemühungen umsonst waren. Aber ich höre mir das nur an. Mehr nicht.“
Zufrieden nickte der alte Mann ihr zu. „Ich muss Sie aber um noch einen Gefallen bitten?“
Erwartungsvoll schaute Sarah zu Waschkow herunter.
„Mich hier neben Sie zu setzen, war ganz schön leichtsinnig. In meinem Alter läuft man Gefahr, nicht wieder hochzukommen. Würden Sie mir helfen?“
Sarah streckte ihm mit einem freundlichen Kopfnicken die Hände entgegen.
„Aber nur, wenn Sie mich Sarah nennen. Ich mag das Förmliche nicht.
*
Sarah schlich ohne ein Wort zu verlieren hinter Waschkow zurück in den Konferenzraum. Sie setzte sich, schaute kurz zu Frank um sich dann an Kuntz zu wenden.
„Mach dir keine Hoffnungen, ich höre mir das nur an, weil ich hier eh nicht alleine rauskomme und in diesem beschissenen Flur nicht mal ein Stuhl steht.“
Bernhard nickte ihr beiläufig zu, wandte sich dann aber an Waschkow um ihn zu begrüßen. Auch Frank erhob sich kurz, versuchte dabei aber, Sarah nicht aus den Augen zu lassen.
„Schön, dass du kommen konntest, Boris.“
Herzlich begrüßten sich die beiden alten Männer, bevor sich Kuntz wieder ganz seinen Akten zuwandte.
„Also, wie gesagt, diese Bank ist der Meinung, dass ihre Klienten- diese Ruben Compagnie- Unterlagen, Besitzurkunden bzw. Kaufverträge vorlegen kann, die angeblich zweifelsfrei belegen, dass diese Kunstgegenstände aus jüdisch-russischem Besitz ihnen gehören. Wir müssen denen alles zukommen lassen, was wir an Unterlagen haben. Im Gegenzug müssen wir prüfen, inwiefern ihre Unterlagen ihren Besitzanspruch untermauern. Ich weiß, dass das nicht ganz einfach ist. Das wäre eigentlich etwas für einen Anwalt oder Notar, aber wir müssen da jetzt erstmal irgendwie durch. Wenn ihr…“
Bernhard stockte. Sein Blick wandte sich kurz an Sarah, die aber wie versteinert mit starrem Blick den Aktenberg vor ihr nicht aus ihren Augen ließ.
„…naja, wer auch immer. Also wenn ihr der Meinung seid, dass diese Ansprüche berechtigt sind, dann werden wir das natürlich in der Endkonsequenz noch genauer prüfen lassen. Mehr kann ich dazu erstmal nicht sagen. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie wir das am besten durchziehen. Ich will denen auch nicht unterstellen, dass es ein linkes Ding ist. Aber Ansprüche stellen heißt nicht, Ansprüche zu haben. Man soll nie den Menschen vertrauen, die am Ende profitieren. Und diese Bank profitiert davon, wenn wir das aus der Hand geben. Auf alle Fälle müssen wir uns erst einen genaueren Eindruck verschaffen und sehen, mit wem wir es zu tun haben. Findet das offene Fenster, den Schlüssel unter der Fußmatte. Jeder hat seinen Schwachpunkt. Wenn wir schon die Hosen runterlassen müssen, dann sollten wir auch dafür sorgen, dass uns jemand den Arsch küsst.“
Kuntz schien fertig. Er lehnte sich zurück und musterte der Reihe nach seinen russischen Freund, Frank und Sarah. Waschkow war vertieft in das Schreiben der Bank, obwohl er es ja eigentlich schon kannte. Frank ließ Sarah nicht aus den Augen und Sarah starrte immer noch geistesabwesend vor sich hin. Ein kurzes Räuspern von Waschkow unterbrach die Ruhe.
„Es gibt eine ganze Menge solcher Gruppierungen wie diese Ruben Compagnie. Während des Krieges und auch danach wurden unzählige bekannte und unbekannte Kunstgegenstände hin und hertransportiert, verschachert oder versteckt. Es ist wie ein riesiges Puzzle im Nachhinein rauszubekommen, was eigentlich wem gehört. Die Ami’s hatten dafür nach ihrer Landung eine eigene Abteilung. Man nannte sie die Monuments Men, richtig hießen sie Monuments, Fine Arts and Archives Section.“
„Ein Mythos?“, unterbrach ihn Frank.
„Kein Mythos, es gab sie. Wie gesagt, vor und während des Krieges gab es bei den Juden Anlaufstellen, wo sie versucht haben, ihre Wertgegenstände vor den Nazis zu verstecken. Wie so eine Art Schutzfond. Ähnlich wie es jetzt diese Banque pour l‘art wohl handhabt, bloß dass die Beweggründe heute andere sind. Man sollte davon ausgehen, dass es dann in den Nachkriegswirren nicht immer nachvollziehbar war, wer die rechtmäßigen Besitzer sind oder waren. Bei diesen Kunstgegenständen waren zwar Unterlagen dabei, aber die sind unvollständig und geben keinen genauen Aufschluss darüber, wer die rechtmäßigen Besitzer sind. Es sind nur Auflistungen der Gegenstände, keine Angaben zu den eigentlichen Eigentümern.
Davon abgesehen, Unterlagen die die Besitzer identifizierten könnten, konnte man auch damals schon manipulieren oder sogar verschwinden lassen. Ein gefundenes Fressen für die, welche ihren eigenen Nutzen daraus ziehen wollten.“
Während Kuntz mit einem nachdenklichen Kopfnicken den Ausführungen Waschkows zustimmte, klappte er die vor ihm liegende Akte zu, schob sie zu Frank rüber, verschränkte seine Arme und wandte sich kurz an ihn, ohne Sarah noch eines Blickes zu würdigen:
„Donnerstag früh, 8.45 Uhr geht der Flieger von Tempelhof. In der Akte steht alles drin. Wie gesagt, alle Kosten und das Organisatorische vor Ort übernimmt diese Bank. Letztendlich aber seid ihr, oder auch nur du, da ganz auf dich allein gestellt.“
Jetzt drehte er sich dann doch zu Sarah. Seine Stimme wurde etwas leiser:
„Es sind zwei Flugtickets in der Akte. Ich kann dir nicht mehr sagen, was du zu tun oder zu lassen hast. Ich muss heute noch nach Schwerin, versuche aber Donnerstag früh da zu sein. Ob du da bist, musst du entscheiden.“
Sarah hob langsam ihr Gesicht und wandte sich Bernhard zu. Sie erhob sich.
„Es wäre schön, wenn mich hier jemand rauslassen würde. Ich habe alles gesagt. Für mich ist der Fall erledigt.“
Kuntz versuchte erst gar nicht Sarah umzustimmen. Schließlich kannte er sie lange genug. Er drehte sich wieder zu Frank.
„Dann musst du da alleine durch. Einen zweiten Polizisten kann ich im Moment dazu nicht abstellen.“
Die Männer erhoben sich. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt. Waschkows Enttäuschung war ihm ins Gesicht geschrieben, er schwieg aber. Kuntz schien sachlich gleichgültig, hatte aber innerlich nicht weniger mit Sarahs Abfuhr zu kämpfen, als er. Und Frank machte den Eindruck, als wolle er Sarah doch noch irgendwie überzeugen, hielt sich aber zurück, weil er allein damit zu tun hatte, dass sie ihn seit ihrer Rückkehr keines Blickes würdigte.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren durchschritten die Vier die endlosen Flure. Jeder schien mit seinen Gedanken beschäftigt. Auch die Verabschiedung im Foyer fiel ohne viele Worte aus. Kuntz und Waschkow schauten Frank und Sarah noch einen Augenblick hinterher und selbst als sie nicht mehr zu sehen waren, verharrten sie noch für den Moment.
„Schade“, erhob Waschkow leise seine Stimme. „Wir hätten sie gebraucht.“
„Sie wird da sein.“
„Meinst du? Meinst du, dass er sie überzeugen kann?“
„Frank? Auf keinen Fall!“
Waschkow schien von Bernhards Bemerkung irritiert, hakte aber nicht nach. Während er ihn musterte, schien es ihm, als bemerkte er den festen Glauben an das, was er sagte, in dessen Gesicht. Der Polizeidirektor starrte immer noch auf die Ausgangstür.
„Ich kenn das Mädchen schon eine Ewigkeit und ich kann mich nicht erinnern, dass man sie je überzeugen musste.“
„Du irritierst mich.“
Kuntz drehte sich zu Waschkow. Ein sicheres Lächeln verbreitete sich in seinem Gesicht.
„Sie hat ein fast einmalig ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Das ist nicht immer leicht für ihr Umfeld, aber von der Sache her ja nichts Schlechtes. Die musst du nicht überzeugen, die überzeugt sich selbst“.
Skeptisch wackelte Waschkow mit dem Kopf. „Meinst du?“
„Ich hoffe. Ich hoffe, dass ich mich nicht irre. Ohne sie ist Frank in Bern aufgeschmissen. Ich kann nur hoffen, ihre Liebe ist schon so stark, dass sie das weiß. Aber in seiner Haut will ich jetzt nicht stecken. Der Arme kann sich bestimmt erstmal was anhören. Wenn Frauen schmollen...“
*
Frank spürte, während sie einander herliefen, dass der seelische Abstand zwischen ihm und Sarah weit größer war als der räumliche. Sein zögerlicher Versuch ihre Hand zu berühren, scheiterte an Sarahs unmissverständlicher Geste, ihre Hand so tief es ging in der Hosentasche zu vergraben. Sie benutzte sonst nie ihre Hosentaschen. Ab und zu steckte sie mal die Hälfte ihrer Finger in die Gesäßtaschen, das war‘s dann aber auch schon. Jetzt und hier, wie sie so neben ihm herlief, war er sich bewusst, dass es eine ganz klare Ansage war, nicht angefasst werden zu wollen. Während er an der offenen Autotür vor sich hin grübelte, beobachtete er, wie sie ihre Jacke und ihre Tasche von der Rückbank nahm.
„Wo willst du hin?“
Sarah erhob sich, legte ihre Sachen aufs Autodach und wandte sich Frank zu.
„Ich treffe mich mit Lisa. Du brauchst nicht warten. Ich komm schon irgendwie nach Hause.“
Frank bemerkte die gereizte Stimmlage in Sarahs Stimme.
„Sarah…, wollen wir nicht darüber reden?“
„Es gibt nichts zu reden. Vielleicht hätten wir vorher reden sollen, dann hätte ich mir das sparen können. Außerdem solltest du die Akten durchlesen, und packen musst du auch noch.“
„Soll das heißen, dass wir uns nicht mehr sehen, bevor ich dahinfliege? War es das jetzt mit uns oder ist das nur für diesen Moment? Kommt jetzt die wir nehmen uns eine Auszeit-Phase? Ich hasse sowas nämlich. Mir wäre lieber, wenn wir darüber reden.“
Sarah drehte sich ab. Sie schien genau zu überlegen, was sie jetzt sagen sollte. Mehr noch, wie sie es sagen wollte. Sie wandte sich ihm wieder zu.
„Ich will aber nicht reden und nein, das war es nicht mit uns. Ich liebe dich nämlich. Ich liebe dich, wie ich noch nie geliebt habe. Und umso mehr tut es mir weh. Ich will meine Wunden lecken und das geht am besten bei Lisa.“
„Ich liebe dich auch und obwohl ich schon mal so geliebt habe…“
Sarah unterbrach Frank mit einem kurzen Fingerzeig.
„Nein! Man kann eine Liebe nicht mit einer anderen Liebe vergleichen. Ich will auch nichts von deinen Erfahrungen mit der Liebe hören. Für mich ist das neu, und genau so neu ist für mich diese Situation. Also lass mich in Ruhe. Lass mir den Freiraum, gib mir den Abstand.“
„Für mich ist das auch neu, aber du sollst wissen, dass…“
Wieder unterbrach Sarah ihn mit einem kurzen Fingerzeig.
„Wenn du mich wirklich liebst, dann darfst du mich nicht belügen.“
„Ich habe dich nicht belogen. Ich habe dir bloß nicht alles gesagt.“
„Du kannst es nennen wie du willst, Geheimnisse zu haben heißt, nicht zu vertrauen.“
„Aber das war doch kein Geheimnis.“
„Und? Warum hast du dann eins draus gemacht?“
Frank reagierte nicht. Er sah ihr zu, wie sie ihre Sachen vom Dach nahm und ums Auto herumkam. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen, wenn denn da nicht die eigene Unsicherheit gewesen wäre. Behutsam strich sie ihm über die Wange, küsste ihn und ging. Ein paar Schritte weiter drehte sie sich nochmal um:
„Pass auf dich auf. Ich wünsche dir viel Glück. Wenn du zurück bist, sehen wir weiter. Vielleicht ist so eine Phase ja doch ab und zu mal nötig.“