Читать книгу Totenwache 2.Teil - Tonda Knorr - Страница 5

Kapitel 3

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Sarah stand vor Lisas Tür und musterte den Schlüssel in ihrer Hand. Trotzdem klingelte sie lieber. Sie hatte schon öfters in den vergangenen Wochen und Monaten das Gefühl, dass die Zeit, in der man selbst bei der besten Freundin einfach so in die Wohnung poltert, ein für alle Mal vorbei waren. Das leise Geräusch von Lisas Barfüßigkeit entlockte ihr ein Schmunzeln. Die Tür wurde aufgerissen und Lisas freudestrahlendes Gesicht ließ Sarahs Wohlfühlpegel sofort nach oben steigen.

„Schlüssel vergessen?“

„Weiß ich, ob du mit Philipp gerade wieder rumturnst?“

„Sturmfrei! Philipp muss den Alten nach Schwerin fahren.“

„Stimmt, na dann…“

Die beiden umarmten und küssten sich. Lisa löste sich aus der Umarmung und schaute Sarah sich auf die Lippe beißend eindringlich an.

„Warte. Bevor du reinkommst muss ich dir sagen, dass ich…, ich habe geahnt…, man Scheiße, ich weiß nicht wie ich es dir sagen soll. Aber ich hatte so ein Gefühl, ich habe geahnt, dass Kuntz dich nicht wieder zurück in den Polizeidienst holt. Ich wusste bloß nicht, wie ich dich darauf vorbereiten soll. Ich erfahre sowas ja als Letzte, aber ich habe es geahnt.“

Sarah schaute Lisa regungslos ohne ein Wort zu erwidern an.

„Jetzt bist du sauer? Verstehe ich, aber…“

„Hör auf“, wurde sie unterbrochen. In Sarahs Gesicht kam das Freundliche zurück.

„Solange bin ich nun auch nicht weg. Ich kenne die Hierarchien, und dass Kuntz das nicht an die große Glocke hängt, ist mir schon klar.“

„Aber als deine Freundin…“

„…wird er dich bestimmt nicht als Erste davon in Kenntnis setzen. Aber Frank, Frank wusste es, und das stinkt mir.“

Lisa schien erleichtert.

„Ok, dann komm rein und lass uns über Frank herziehen.“

Sarah war wieder hin und hergerissen zwischen ihrem eigenen Gemütszustand und dieser nimmermüden Frische und unkonventionellen Lebensfreude, die Lisa ausstrahlte.

„Mach‘s dir bequem. Ich habe ne Pizza im Ofen. Dauert noch, aber mach schon mal den Wein auf. Dann können wir besser lästern.“

Während sich Sarah die Jacke auszog, beobachtete sie Lisas Rumhantieren in der Küche. Ein kurzes Lachen untermauerte die Verwunderung über deren Tun. Mit Topflappen an den Händen und einem Geschirrtuch über der Schulter kämpfte sie mit den Dampfschwaden, die durch die offene Herdklappe entwischten.

„Na sage mal, macht es dir neuerdings Probleme die Pizza aus der Schachtel zu nehmen?“

Lisa hielt inne, richtete sich auf und starrte Sarah an, als hätte sie etwas Weltbewegendes zu verkünden.

„Das ist eine echte Pizza! So richtig mit Teig und Tomaten und Käse und so.“

Sarahs Verwunderung irritierte sie.

„Guck nicht so. Ich habe dir eine richtige Pizza gebacken. Den halben Tag steh ich hier schon in der Küche. Die Hälfte der Zeit hatte ich damit zu tun, die Bedienungsanleitung zu suchen. Ich wusste gar nicht, wie so ein Backofen funktioniert. Bis jetzt war ich froh, wenn ich den richtigen Knopf für die richtige Herdplatte gefunden habe.“

Ein wenig abwesend durchstreifte Sarah den Raum ohne auf Lisas Bemerkung einzugehen. Sie musterte das Loft. Alles war aufgeräumt. Das Bett war gemacht. Keine umherliegenden Sachen, keine vollen Aschenbecher, ja selbst die Badewanne mitten im Raum schien wie gerade aufgestellt und frisch poliert. Auch Lisas Computerecke mit all den Bildschirmen, Tastaturen und sonst was für technischen Schnickschnack schien System zu haben. Sie drehte sich Lisa zu und fühlte sich bei ihrer Beobachtungstour erwischt. Für einen kurzen Augenblick verharrten sie von Angesicht zu Angesicht. Vermutlich dachten beide gerade dasselbe, zögerten aber es auszusprechen. In Sarahs Gesicht machte sich zaghaft ein Lächeln breit und sie fragte mit leiser Stimme:

„Ist es jetzt soweit? Sind wir jetzt so wie wir nie werden wollten? Alt und spießig?“

„Keine Ahnung. Das habe ich mich aber auch schon gefragt.“

Lisa wuchtete das Blech mit der Pizza auf den Tisch. Dampfschwaden suchten sich ihren Weg zur Zimmerdecke. Ihr Blick richtete sich auf die echt lecker aussehende appetitlich duftende Pizza.

„Das Schlimmste ist ja, ich finde Gefallen daran.“

Sarah machte es sich, ohne ihre Freundin aus den Augen zu lassen, an der Küchentheke auf einem Hocker bequem.

„Woran?“

„Na daran, dass ich gerade ein anderer Mensch werde.“

„Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Ich fand dich eigentlich ganz in Ordnung so wie du warst.“

Lisa drehte sich ab und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Sie schien kurz zu überlegen, drehte sich dann aber wieder Sarah zu.

„Du bist doch schuld.“

„Ich?“

„Na sei doch mal ehrlich, was haben wir denn gemacht. Wir waren arbeiten, was ja schon mal nicht schlecht ist. Du warst eine der besten Polizistinnen die ich kenne und meinen Job mache ich, glaube ich, auch ganz gut. Aber ansonsten haben wir uns in der wenigen Zeit, die wir frei hatten, doch nur vom Leben treiben lassen. Wir haben gequatscht, getratscht, Wein getrunken, sind um die Häuser gezogen und haben uns, wenn wir Lust hatten, die Seele aus dem Leib vögeln lassen. Aber außer in unserem Job haben wir doch nie was Richtiges gemacht, nie Verantwortung übernommen.“

„Verantwortung? Bist du schwanger?“

Lisa legte ihr Stück Pizza umgehend zurück aufs Blech und fasste sich an den Bauch.

„Wie kommst du denn darauf. Sehe ich fett aus?“

„Quatsch! Aber was meinst du mit Verantwortung? Du weißt schon, dass mit Verantwortung übernehmen nicht gemeint ist, dafür zu sorgen, dass regelmäßig Bierflaschen im Kühlschrank stehen?“

„Na einfach alles. Das geht doch los damit, einfach mal die Bude aufzuräumen und das geht weiter damit, für Andere da zu sein.“

„Für Andere? Ich glaube, ich kann dir nicht folgen. Redest du von Philipp?“

„Zum Beispiel. Wenn man jemanden liebt, muss man doch auch für ihn da sein. Dafür sorgen, dass er sich in deiner Nähe wohlfühlt. Man muss für zwei denken. Ist das nicht eine Art von Verantwortung?“

„Äh…, ja…, ich glaube schon.“

Sarah hatte schwer damit zu tun, Lisas Gerede zu verarbeiten. Eigentlich wollte sie sich ja bei ihr ausheulen, aber im Moment schien es, dass Lisa jemanden brauchte, der ihr zuhört.

„Hast du gerade gesagt, wenn man verliebt ist?“

Lisa schaute Sarah an, als hätte sie etwas ausgefressen.

„Ich mache mir Sorgen, wenn Philipp zwei Tage mit Kuntz durch die Gegend düst. Ich mache mir keine Gedanken mehr, ob es irgendwo einen Mann gibt, der besser für mich wäre, ich mache mir vielmehr Gedanken darüber, wie es mit Philipp noch besser werden könnte. Früher…, früher wollte ich gevögelt werden, heute will ich geliebt werden.“

„Scheiße…“

„Sag ich doch.“

„…es hat dich voll erwischt!“

„Erwischt ist das richtige Wort. Ich erwische mich dabei, wie ich zum Rauchen immer öfter auf den Balkon gehe. In meiner Bude. Oder wie ich’s mir sogar ganz verkneife. Philipp mag das nicht.“

„Kenn ich.“

„Ich merke das, aber er sagt nichts. Früher wäre mir das scheißegal gewesen, aber jetzt, schau mich doch an, ich stehe hier in der Küche und backe Pizza. Für ihn habe ich auch schon was gebrutzelt und es hat ihm sogar geschmeckt, …hat er jedenfalls gesagt.“

„Also auf den Balkon zu gehen oder weniger zu rauchen, ist definitiv verantwortungsvoll! Aber wieso ist das meine Schuld?“

Erneut starrte Lisa Sarah an, als würde ein großer Moment bevorstehen.

„Ich weiß nicht wie ich es sagen soll…“

„Na einfach Buchstaben zu Wörter und Wörter zu Sätzen.“

„Ja, aber ich will nicht irgend so einen kitschigen Scheiß sagen.“

„Ich stehe auf Kitsch, also raus damit.“

„So ein Quatsch! Du stehst auf alles andere, aber nicht auf Kitsch.“

„Egal, raus damit.“

„Deinetwegen bin ich dabei, ein vernünftiger Mensch zu werden.“

„Oh warte. Kannst du mir das schriftlich geben. Oder noch besser, kannst du meine Eltern anrufen, die glauben mir das sonst nicht.“

Lisa reagierte mit ernster Miene auf Sarahs lapidar ausgesprochener Bemerkung.

„Ernsthaft! Das, was dir passiert ist…, was in Globelitz passiert ist…“

„Glostelitz.“

„…sag ich doch. Wie du dich um diese Sina, um den neuen Friedhof, die Kirche, diesen Benno gekümmert hast. Deine Liebe zu Frank und seiner Tochter, all das hat mich zum Nachdenken animiert. Scheiße, wie kannst du nur so ein toller Mensch sein?“

Sarah hockte verlegen, gerührt und ein bisschen stolz auf ihrem Hocker. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Langsam fasste sie sich wieder. Wusste Lisa mehr als sie sagen wollte und war das vielleicht nur der Versuch, sie zu überreden, mit Frank nach Bern zu fliegen? Sie zweifelte kurz an Lisa, war sich aber nicht sicher. Nein! Lisa war immer gerade heraus. Schließlich hatte sie ihr auch gleich an der Tür gesagt, was sie für ein ungutes Gefühl in Bezug auf ihre weitere berufliche Zukunft hatte. Sarah überlegt, ob sie Lisa jetzt sagen müsste, was sie für sie ist. Ihr sagen, wie sehr sie es genossen hat, mit ihr den erlebten Polizeialltag mit all seinen negativen Eindrücken in der bisschen dienstfreien Zeit hinter sich zu lassen. Wie sehr sie abspannen konnte, wenn sie quatschten, tratschten, Wein tranken oder sich, wie sie sagte, die Seelen aus dem Leib haben vögeln lassen. Ihr sagen, wie froh sie war, ihre Hilfe bei dem ewig nervenden Schreibkram zu haben. Wie sehr sie ihre Hilfe gebraucht hat, den Tücken der Computertechnologie entgegenzutreten. Wie wichtig sie war, wenn sie jemanden zum Ausheulen, ja manchmal sogar zum Auskotzen brauchte. All das könnte sie ihr jetzt sagen.

„Weißt du…“

„Nein“, wurde sie von Lisa unterbrochen. „Du musst jetzt nichts sagen. Ich weiß, was du denkst. Hebe es dir für den Augenblick auf, wo ich das vielleicht mal brauche.“

„Ist jetzt nicht so ein Augenblick?“

„Nein! Ich fühl mich im Moment ganz glücklich. Wenn es mir mal schlecht geht, dann kannst du mir sagen, was ich für eine tolle Freundin bin…, die sogar ne echte Pizza backen kann.“

Da war es wieder. Lisas unvorstellbar schönes Lächeln, mit dem sie sie ansah. Langsam schob sie Lisa ihre Hand entgegen.

„Ich wollte dir ja nur sagen, dass du ruhig noch eine Weile weiterreden kannst. Nein, mal ganz im Ernst, du irrst dich. Als ich damals erfahren habe, dass Frank über meine Vergangenheit Bescheid weiß, als ich hier bei dir war, damals vor einem Jahr, und du mich zusammengestaucht hast, da warst du für mich da. Da hast du sogar den Abend mit Philipp für mich sausen lassen…“

„Echt? So was habe ich gemacht?“

„Du hast dich für mich verantwortlich gefühlt. Also, so toll das auch alles klingt, was du da gerade gesagt hast. Du…, du verrücktes kleines Miststück…, du hast mich dazu gebracht endlich vernünftig und erwachsen zu werden.“

Die beiden Frauen ließen für den Augenblick, ihre Hände ineinander verschlungen, nicht den Blick voneinander. Sie sagten kein Wort und verharrten so für den Moment.

„Man. Das ist ja nicht mit anzuhören, was wir hier von uns geben. Genug Gefühlsduselei, können wir jetzt endlich was trinken und so tun, alles wären wir noch jung und verrückt.“

Sarah konnte Lisas Wunsch nur mit einem Kopfnicken bejahen.

„Außerdem bist du doch hier, weil dir was quer liegt? Frank vermute ich mal? Oder Kuntz? Oder beide?“

„Ja, so in etwa der Reihenfolge.“

Lisa goss Wein ein, schnappte sich ihr Glas, kam um den Tresen herum und machte es sich neben ihr bequem.

„Aber denk dran, ich mag deinen Frank und wenn du auf dem falschen Dampfer bist, dann sage ich dir das.“

Sarah musste lächeln. „So wie damals?“

„So wie damals!“

„Als Freundin?“

„Genau, als Freundin!“

Sarah suchte nach den richtigen Worten um Lisa von ihrem Gefühlskarussell zu erzählen.

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll?“

„Na dann helfe ich dir. Ich weiß, dass es Ansprüche einer Schweizer Bank auf diese Kunstgegenstände gibt und dass Frank deshalb nach Bern muss. Und nun vermute ich mal, sonst wärst du nicht hier in Berlin und schon gar nicht hier bei mir, dass du da mit hinsollst. Nicht als Polizistin, sondern vielleicht im Auftrag dieser Sonderkommission. Du hast aber gehofft, dass du wieder als Polizistin da hinsollst. Richtig?“

Wieder zweifelte Sarah kurz daran, ob Lisa nicht doch mehr weiß, als sie zugibt.

„Woher weißt du das denn schon wieder?“

„Na das haben wir doch gerade geklärt. Weil du meine Freundin bist. Weil ich weiß, was dich aus den Schienen drückt. Und weil ich eins und eins zusammenzählen kann.“

„Schön, wenn das mit Frank auch so wäre.“

„Ach, ich glaube das ist bei ihm auch so. Wenn ich das richtig deute, ist meine Vermutung richtig. Kuntz braucht dich da in Bern. Frank wusste das, wusste aber auch, dass das nicht über den offiziellen Weg als Polizistin geht und hat sich nicht getraut, dich vorzuwarnen. Und du, du bist beim Alten freudestrahlend ins offene Messer gelaufen.“

Sarah, immer noch skeptisch über Lisas schnelle Auffassungsgabe, blieb nichts weiter übrig, als ihr mit einem Kopfnicken zuzustimmen.

„Ich verstehe das.“

„Was?“

„Na, dass er dir nichts gesagt hat. Warum sollte er derjenige sein, der dir die Hiobsbotschaft überbringt. Vielleicht dachte er, wenn er in dem Augenblick bei dir ist, wo du es erfährst, reicht das. Wie ich dich kenne, reicht das aber nicht. Alle die dabei sind, sind Mitwisser, also mitschuldig.“

„Wenn er mich liebt, dann…“

„Warte, warte…“, wurde sie von Lisa unterbrochen. „Du verrennst dich da. Eben, weil er dich liebt. Er wollte dir nicht wehtun, dir nicht die Hoffnung nehmen. Wahrscheinlich hat er sich, seitdem er es erfahren hatte, nächtelang im Bett hin- und hergewälzt, weil er nicht wusste, wie er dir das verklickern soll. Man, so lange kennt ihr euch doch nun auch noch nicht. Das muss sich doch alles erst finden. Vielleicht wusste er auch, dass du, wenn du es weißt, sowieso nicht mitkommst und dir das nicht mal anhörst. Problem nur aufgeschoben.

Grundsätzlich falsch, aber aus seiner Sicht nachvollziehbar und am bequemsten sowieso. Männer wählen immer den bequemsten Weg.“

Sarah verfolgte aufmerksam, was Lisas ihr vorhielt. Ihre Mine verzog sich, weil sie mal wieder das Gefühl hatte, auf wenig Verständnis zu stoßen.

„Man, früher war das einfacher mit dir. Da waren die Anderen schuld und du musstest mir nur zustimmen. Jetzt kriege ich immer bloß Ansagen von dir.“

Lisa entgegnete Sarahs Worten mit einem verständnisvollen Lächeln.

„Und hör auf so zu lächeln. Das macht es nicht einfacher für mich.“

„Wer sagt denn, dass das Leben einfach ist. Erzähl mir doch erst mal, was ihr da sollt.“

Sarah begann Lisa zu erzählen, was Kuntz und Waschkow ihr zu sagen hatten. Während sie redete, stellte sie erneut fest, wie Lisa ihr im Gegensatz zu früher aufmerksam zuhörte, ohne sie auch nur ansatzweise zu unterbrechen. Sie schien fast interessierter zu sein als sie selbst es von sich zugegeben hätte. Aber auch sie musste sich eingestehen, dass das Interesse an dem Fall erneut in ihr geweckt war. Selbst wenn sie bei Kuntz’ Ausführungen uninteressiert und abwesend wirkte, sie hatte jedes seiner Worte genau registriert und genau zugehört. Waschkow hatte Recht: Es wäre schade, wenn diese Sachen nach so langen Jahren wieder in irgendeinem Privatsafe verschwinden würden.

Banque pour l’art…, noch nie gehört. Was es alles gibt?“

„Also, so interessiert, wie du mir zugehört hast und jetzt neugierig dreinschaust, solltest du da mitfahren.“

„Quatsch!“

„Ich frage mich bloß, was das noch alles mit Kuntz’ Sonderkommission zu tun hat? Vor allem frage ich mich, was das alles mit mir zu tun hat?“

Lisa riss erstaunt die Augen auf.

„Na das ist doch genau dein Ding. Sei ehrlich, ganz tief in dir drin rattert es doch schon. Es brennt doch in dir.“

„Na eben deshalb. Ich will ja.“

„Aber die wollen dich nur zu ihren Bedingungen.“

„Oh Mann, was denkst du, wie oft ich das heute schon gehört habe?“

Skeptisch zuckte Lisa mit den Schultern. Was sollte sie auch sagen. Auf der einen Seite ihre beste Freundin, mit einem unbändigen Elan und auf der anderen Seite, Kuntz- der Polizeidirektor, seine Vorschriften und ärztliche Gutachten, die vielleicht sachlich richtig sind, aber mit der Realität nicht viel zu tun haben.

„Auf alle Fälle braucht dich Frank da.“

„Ach Frank. Der hat die ganze Zeit nur dagesessen, mich angestarrt und kein Wort gesagt. Der hätte Kuntz doch sagen können, dass es ohne mich nicht geht.“

„Na meinst du, das hätte was geändert?“

Sarah schien ihr Gesagtes zu überdenken.

„Na logisch hätte das nichts geändert. Aber ich hätte das Gefühl gehabt, dass er zu mir hält.“

Lisa verdrehte die Augen, erwiderte aber nichts.

„Ganz im Gegenteil, er hat mich auch noch zurückgehalten als ich Büttner eine reingehauen hab.“

„Was? Büttner? Dem Büttner?“

„Ja! Genau dem. Der stand da im Foyer wie so ein Vollpfosten rum und hat einen auf Mitgefühl gemacht.“

„Und da hast du dir gedacht, haust du ihm erstmal Eine rein. So einem Zwei-Meter-Kerl, mir nichts, dir nichts, Eine gelangt? Ich traue mich gar nicht zu fragen…, aber hat Kuntz das gesehen?“

Sarah antwortete nicht. Musste sie auch nicht. Lisa sah es ihr an.

„Na das war’s ja dann. Das hat den Alten bestimmt an den Gutachten zweifeln lassen.“

„Na toll! Auch das konnte ich mir heute schon anhören. Ich habe einfach nicht erwartet, dass Frank sich da so raushält.“

„Also wie gesagt, ich verstehe ihn. Gut, vielleicht hätte er dich vorwarnen können, aber sich dann zwischen die Fronten stellen, das geht nie gut.“

„Er soll sich ja nicht zwischen die Fronten stellen. Er soll sich auf meine Seite stellen.“

Lisa ließ das Gesagte so im Raum stehen, drehte sich ab um sich genussvoll eine Zigarette anzumachen. Sie nahm zwei drei Züge, pustete den Qualm quer durchs Zimmer und verfolgte wie sich die Rauchschwaden gleichmäßig verteilten. Sarah war irritiert.

„Was? Hat‘s dir die Sprache verschlagen? Ich denke du rauchst nur noch auf dem Balkon?“

Langsam drehte sich Lisa ihr zu. Sie musterte Sarah kurz und ihr Gesichtsausdruck verhieß, dass es wohl gleich eine ernste Ansage gibt.

„Willst du auch eine?“

„Lieber nicht. Ich krieg doch jetzt bestimmt was zu hören.“

„Kriegst du. Jetzt hör mir mal zu, Puppe. Ich habe gesagt, dass ich immer öfter auf den Balkon gehe, nicht immer. Außerdem ist Philipp ja jetzt nicht da. Und Frank…, wer sagt dir denn, dass er deiner Meinung ist?“

„Äh…“

„Kein Äh! Bloß weil er dich liebt, muss er doch nicht immer deiner Meinung sein. Ich will es ja nicht beschreien, es muss ja auch nicht stimmen, aber hast du ihn schon mal gefragt, wie er das sieht?“

Sofort fiel Sarah ihr Gespräch mit Frank ein, bei dem er ihr seine Bedenken bezüglich ihrer zwar seltener gewordener, aber zugegebenermaßen doch noch regelmäßigen Schwindelanfälle mitteilte. Auch Kuntz seine Andeutung auf ihre Aktion mit Büttner untermauerte die Fragwürdigkeit ihrer Selbsteinschätzung.

„Vor allem würde mich mal interessieren, ob du dir selber die Frage gestellt hast?“

„Na klar!“

„Klar? Klar ist nur, und dafür liebe ich dich, dass du dein Herz gefragt hast. Aber was sagt dir dein Verstand? Versuche doch mal, aus dir rauszugehen. Einen Schritt zurückzumachen und dir die Sache im Ganzen zu betrachten. Aus Sicht von Kuntz zum Beispiel. Würdest du dich wieder einstellen? Alle Gutachten über den Haufen werfen? Eine Vergewaltigung einfach so vergessen, die dir ohne den Job vielleicht nie passiert wäre?“

„Vergessen? Vergessen werde ich das mein Lebtag nicht. Im Leben vergisst man nicht, man verdrängt. Aber ich habe gelernt damit umzugehen.“

„Was? Du hast gelernt damit umzugehen? Zwei Jahre nachdem das passiert ist, haust du jemanden um, der nicht mal direkt damit zu tun hatte. Jemanden, der zwar ein Lappen ist, sich aber an die Vorschriften gehalten hat. Das nennst du, damit umgehen?“

„Das ist doch ganz was anderes. Scheiß auf die Vorschriften. Ich hätte ihn da nicht alleine reingehen lassen. Auch wenn es nicht den Vorschriften entspricht, ich hätte ihn nicht im Stich gelassen.“

Lisa starrte Sarah an. Sie ließ das Gesagte kurz wirken.

„Wer hat da jetzt geredet, dein Herz oder dein Verstand?“

„Das kann man doch nicht immer trennen.“

„Siehst du, und Kuntz muss das trennen. Und Frank, Frank geht es vielleicht ähnlich. Hör mal, ich finde es echt cool, dass du, trotz dem was dir da passiert ist, mit einem Mann, mit Frank zusammen bist und ich hoffe auch, dass ihr richtig geilen Sex habt. Aber das, was dir da passiert ist, das ist da. Du kennst doch den Spruch, was man auch sagt, was man auch tut, was einem auch passiert, es wird nie wieder ungeschehen. Das kann man nicht löschen und wie du schon sagst, das wirst du dein Lebtag nicht vergessen. Und auch für dein direktes Umfeld wird es immer da sein. Man wird nicht drüber reden, aber jeder wird es irgendwie, irgendwo im Gedächtnis haben.

Finde dich damit ab und akzeptiere, dass es für Kuntz eine wichtige Rolle in der Beurteilung deiner Dienstfähigkeit spielt. Akzeptiere, dass er nicht sein Herz fragt, sondern auf seinen Verstand, oder besser gesagt, den Verstand der Gutachter hört. Du darfst auch nicht vergessen, wenn so was einmal passiert ist, denkt jeder, was ist, wenn es nochmal passiert?“

„Das heißt also, dass ein normales Leben für mich nicht mehr möglich ist?“

„Sag mir, was ein normales Leben ist? Du bist gesund, hast was in der Birne, einen geilen Arsch, zwei ordentliche Titten…, das einzige, was anders ist, dass du einen kleinen Knacks in deiner Seele hast. Das heißt doch aber nicht, dass du kein normales Leben führen kannst. Es steht dir ja nicht auf der Stirn, was dir passiert ist.“

Sarah schwieg. Ihre Gedanken versuchten das Gesagte zu verarbeiten.

„Na, doch ne Zigarette?“

Wortlos griff Sarah zu, während sie von Lisa keinen Augenblick aus den Augen gelassen wurde. Sie lehnte sich langsam zurück. Was konnte sie dem erwidern. Ihr fiel nichts Gescheites ein und so wie Lisa sie anstarrte, konnte sie wahrscheinlich noch was nachlegen.

„Und was mach ich jetzt?“

Lisa erhob sich, ging um den Tresen herum und kramte in ihrer Handtasche.

„Hier.“

„Deine Autoschlüssel? Wo soll ich denn nun schon wieder hin?“

„Wir trinken jetzt noch was, dann haust du dich in die Koje. Ich versuche noch was über diese scheiß Bank rauszubekommen, dann fährst du morgen nach Globelitz…“

„Glostelitz!“

„…sag ich doch. Auf alle Fälle packst du ein paar Sachen ein und dann fliegst du Donnerstag mit Frank nach Bern und machst das, was du am besten kannst. Für diese Sonderkommission arbeiten und dafür sorgen, dass die sich nicht den ganzen Schnickschnack einkrallen. Die Schweizer sind eh so ein komisches Volk. Die kotzen ihre Sätze immer.“

„Ich soll klein beigeben?“

„Wenn es das Richtige ist, kann man auch mal klein beigeben.“

„Und Frank? Dem soll ich das einfach so durchgehen lassen?“

Mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht warf Lisa den Autoschlüssel ein aufs andere Mal von einer Hand in die Andere.

„Naja, du kannst ihn ja mit Sexentzug bestrafen. So ein zwei Tage. Je nachdem wie lange du es aushältst.“

Sarahs Lächeln war gequält. Zu sehr hatte sie noch mit dem zu tun, was Lisa ihr unmissverständlich ins Gesicht geknallt hatte.

„Und du? Wie kommst du morgen zur Arbeit?“

Lisa unterbrach die Spielerein mit ihrem Autoschlüssel.

„Ja stimmt. Du hast Recht. Die zehn Minuten, die man zu Fuß bis ins Präsidium braucht, die fahre ich mit dem Auto und lasse dich zwei Stunden mit‘n vollgekotzten Regio fahren.“

„Der braucht keine zwei Stunden.“

„Aber vollgekotzt ist er.“

„Und wie kriegst du dein Auto wieder?“

„Stell es am Flughafen ab. Ist doch gleich am Präsidium, außerdem habe ich doch meinen eigenen Chauffeur.“

„Und die Schlüssel? Die lass ich stecken oder was?“

„Die gibst du dem Alten, oder Philipp.“

„Ich denke die sind in Schwerin.“

Lisa beugte sich über den Tresen um Sarah ganz nah zu sein.

„Eins kann ich dir versichern, Kuntz wird da sein. Und wenn er, bzw. Philipp, die ganze Nacht durchfahren müssen. Sie werden da sein.“

„Na toll. Dann muss ich vor dem auch noch klein beigeben.“

„Sarah! Das hatten wir doch gerade. Wenn es das Richtige ist..., außerdem kennt er dich doch. Er wird froh sein, dass du dir das überlegt hast. Er wird dir dankbar sein.“

„Noch habe ich mich ja gar nicht entschieden.“

Lisa nahm sich wieder zurück und legte dabei den Schlüssel in Sarahs Hände. Für einen Augenblick verharrten sie, ohne ihr Augenmerk voneinander zu lassen.

„Na klar hast du. Und das mit Frank, das wird schon wieder.“

„Was ist, wenn er mich gar nicht dabeihaben will? Vielleicht nerve ich ihn ja mit meinen ewigen Rumgezicke.“

Nachdenklich schaute Lisa drein, eh sie sich wieder Sarah zuwandte.

„Du hast Recht. Obwohl du so gut aussiehst, bist du eine ganz schöne Zicke!“

„Alle gutaussehenden Frauen sind doch Zicken.“

„Feines Mädchen! Ist ja schon mal ein Anfang, wenn du dich selbst in Frage stellst. Klar nerven wir die Männer mit unserem Rumgezicke. Schließlich sind wir Frauen. Männer wollen aber Zicken haben, sonst müssten sie sich ja nicht anstrengen. Und sei dir sicher, er will dich dabeihaben, und nicht nur, weil er dich braucht. Männer sind doch irgendwie alle gleich. Jedenfalls die Netten. Du musst als Frau nicht darauf schauen, was dir an einem gefällt, sondern darauf achten, wer wie am besten mit deinen eigenen Macken umgehen kann. Frank kennt deine Macken. Jedenfalls eine ganze Menge davon. Und er kann auch damit umgehen, und deshalb darfst du ihn nicht wieder loslassen.“

*

Das Gesicht in den Händen vergraben hockte Sarah auf einem Betonsims vor Franks Wohnhaus. Den ganzen Tag über hatte sie schon über Lisas Worte nachgedacht. Und nun war sie hier, ohne sich aber schlüssig zu sein über das, was sie gerade tut. Auch nach Gustavs lapidarer Bemerkung, er hätte es geahnt, hatte sie noch ihre Zweifel. Aber ihr wollte nichts Gescheites einfallen, um Lisas Worten etwas Sinnvolles entgegenzusetzen. Während sie hektisch durch ihr Haus eilte, um ein paar Sachen zu packen, beobachtete Gustav sie argwöhnisch. Irgendwann dann nahm er sie, ohne ein Wort zu verlieren in den Arm. Vorsichtig strich er ihr durch die Haare. Er spürte förmlich Sarahs Aufregung. Ihr Herz puckerte wie verrückt an seiner Brust.

„Janz ruhig Kleene. Watte och vorhast, mach in Ruhe.“

Sarah wollte nicht reden, genoss es aber, für den Moment in den Armen des alten Mannes zur Ruhe zu kommen. Keine Ahnung wie lange sie so verharrten. Irgendwann löste sie sich aus Gustavs Umarmung, schaute ihn an und klopfte ihm behutsam auf die Brust.

„Wie geht’s dir alter Mann?“

„Hah! Wie neujeboren!“

„Kommst du ein paar Tage ohne mich zurecht?“

„Klar! Hab ick sturmfrei? Kann ick ja mit Sina ne Party schmeißen.“

Außer einem müden Lächeln hatte Sarah nichts mehr zu erwidern. Sie schnappte sich ihre Tasche, schaute sich noch mal um und machte sich auf nach Berlin, zu Frank, begleitet von ihren Selbstzweifeln.

Nun saß sie hier und starrte vehement auf ihre gepackte Tasche zwischen ihren Füßen.

„Sarah?“

Während Franks Mutter, durch die Haustür kommend, ihrer Überraschung freien Lauf ließ, fiel Franzi ihr im Sturzflug um den Hals. Nur mit Mühe konnte Sarah ihr Gleichgewicht halten.

„Scheinbar geht die Klingel nicht.“

„Oh nein. Ich habe noch gar nicht geklingelt.“

Franks Mutter verstand.

„Na ja, noch ist er nicht da. Hat noch was zu erledigen bevor er morgen nach…, na ja, du weißt schon…“

Sarah wirkte verstört und Franks Mutter bemerkte das. Sie wandte sich an Franzi.

„Lässt du uns mal kurz alleine? Ich will nur ganz kurz mit…“

„Ja, ja, ich verstehe schon. Erwachsenengespräch. Ich bin auf dem Spielplatz. Ruft mich wenn ihr fertig seid und vielleicht kann Sarah ja mitkommen?“

Während sich Franziska langsam davonmachte, setzte sich Franks Mutter neben Sarah. Sie legte ihren Arm um ihre Schulter und zog sie an sich ran. Für den Moment verharrten die Frauen ohne ein Wort zu verlieren. Sie beobachteten Franziska beim rumtollen auf dem Spielplatz.

„Du weißt…?“

„Ein bisschen“, fiel ihr Franks Mutter ins Wort. „Aber ich werde mich in den ganzen Polizeikram nicht einmischen. Weißt du, ich war die Frau eines Möbeltischlers und du kannst dir denken, dass wir für unseren Sohn eine andere Vorbestimmung hatten. Es sah auch alles ganz gut aus. Er war handwerklich begabt, hat das ja auch gelernt. Aber irgendwann stand er in der Tür und wollte zur Polizei. Und das hier in Berlin. Da ist man froh, dass die Jungs nicht zur Bundeswehr mussten und dann so was. Eine Sportskanone war er ja schon immer. Na ja, und ein Gerechtigkeitsfanatiker sowieso. Ob auf dem Bolzplatz, in der Schule, im Verein, wo auch immer, wenn es irgendwo was zu schlichten gab, war er in vorderster Front. Wir haben gar nicht erst versucht ihn umzustimmen. Heute…, egal wie tief ich schlafe, bin ich froh, wenn ich nachts seinen Schlüssel höre. Das Geräusch, wie er langsam im Türschloss verschwindet. Den Dickkopf und vor allem das Durchsetzungsvermögen hat er von seinem Vater. Welche Eltern können es ihrem Sohn schon verdenken, wenn er zur Polizei gehen will.“

„Na ja…, also ich kenne da welche.“

„Ach, glaube das nicht. Deine Eltern waren bestimmt nicht weniger stolz auf dich als wir auf Frank. Vielleicht nicht gleich, aber spätestens bei diesem Richtfest in Glostelitz. Da waren sie nicht nur stolz auf das was du da vollbracht hast. Wenn man in so einem Augenblick erfährt, was das eigene Kind geleistet hat, dann schaut man auch zurück auf das, was davor war. Auch wenn sie dem vorher vielleicht nicht so viel Beachtung geschenkt haben. Dort an diesem Tag in Glostelitz…, dann noch deine einfühlsamen Worte und wie du mit dieser Sina umgehst, glaub mir mal, da waren sie nicht nur stolz auf ihre Tochter, sondern auch stolz auf die Hauptkommissarin.“

„Die im Ruhestand ist…, mit 35.“

Franks Mutter ließ Sarahs Worte unkommentiert. Was sollte sie auch groß erwidern.

„Ich werde noch verrückt in dieser Welt. Nie weiß man woran man ist. Immer wenn man eine Linie gefunden hat, kommt irgendetwas, was dich wieder aus der Spur haut.“

„Eins habe ich gelernt in all den Jahren. Wundere dich nicht, wenn du verrückt wirst. Die Welt…, das Leben ist so. Gerade in der heutigen Zeit, bei diesem höllischen Tempo. Wundere dich, wenn du es nicht wirst. Du hast dich vielleicht zu sehr darauf versteift wieder in den Polizeidienst aufgenommen zu werden. Und jetzt bist du enttäuscht. Man braucht dich, das gefällt dir. Aber nicht zu deinen Bedingungen, das gefällt dir nicht.“

„Mein Leben scheint ein einziger freier Fall zu sein. Nichts scheint zu klappen, so wie ich das will.“

„Oh, das klang bei deiner Rede aber noch ganz anders. Auch eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig. Wenn dein Leben ein einziger freier Fall sein soll, dann sei froh, dass du noch nicht aufgeknallt bist. Frank sagt immer, das Leben ist wie ein Kampf. Eine hochgradig dynamische Situation. Man muss immer auf irgendeine neue Situation reagieren. Ob man will oder nicht, man muss! Ist was dran, auch wenn es mächtig militärisch klingt. Du musst wieder zurückfinden zu deiner Linie. Er musste lernen damit umzugehen, wie ein Leben ohne den liebsten Menschen ist. Franziska musste lernen damit umzugehen, ohne Mutter aufzuwachsen. Aber sie haben beide ihre Linie wiedergefunden. Und du bist jetzt Teil dieser Linie. Durch dich haben sie - vor allem Frank - diese Linie wiedergefunden und vielleicht hast du durch sie auch deine wiedergefunden. Jetzt müsst ihr gemeinsam, wenn euch etwas daran liegt, auf dem Weg bleiben, wenn es denn der richtige zu sein scheint. Gehe aber davon aus, dass euch das noch ein paarmal passieren wird.“

Sarah lauschte aufmerksam den Worten. Herzlich klangen sie. Weise und lebenserfahren. Sie beobachtete Franks Mutter während sie redete und fragte sich, wie sie ohne viele Worte benutzen zu können, ihren gehörlosen Schülern in ihrer Zeit als Lehrerin, so viel Lebensweisheit vermitteln konnte.

„Und? Was soll ich jetzt tun?“

Mit einem Lächeln und einen Blick auf Sarahs Tasche erhob sie sich.

„Du hast dich doch schon lange entschieden. Flieg mit Frank nach Bern, auch wenn es gerade ein bisschen rumort bei euch. Ob nun als Hauptkommissarin oder als Sarah Fender, es brennt dir doch unter den Nägeln, die Sache zu Ende zu bringen. Das ist doch genau deine Linie!“

„Er war nicht offen zu mir. Er hat mir nicht die Wahrheit gesagt.“

Franks Mutter zögerte kurz, bevor sie auf Sarahs Bemerkung einging.

„Aber du bist doch hier. Mit Tasche. Die Wahrheit ist kein alleinstehender Wert an sich. Es ist manchmal heikel, die Wahrheit zu sagen. Anscheinend gibt es verschiedene Arten davon. Wahrheit kann sehr zerstörerisch sein. Man muss immer abwägen, wem sie nutzt. Es ist doch auch für ihn neu.“

„Neu?“

„Ihr seid jetzt fast ein Jahr zusammen. Aber ihr lernt euch auch immer noch ein bisschen kennen, und ab und zu gibt es halt Situationen wo er nicht genau weiß, wie er es richtig macht. Er hat sich tatsächlich nochmal richtig verliebt. Gott was bin ich dankbar, dass er dich getroffen hat. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass ihm das nochmal passiert. Er hat Franzis Mutter über alles geliebt, das stand ihm bis vor einem Jahr im Weg. Aber die Tragik einer Liebe, wie er sie geliebt hat, die besagt doch nicht, dass man sich nicht neu verlieben kann. Er will aber nicht nochmal einen Menschen verlieren, der ihm so wichtig ist. Also versucht er alles abzuschirmen, was dem Wohl dieses Menschen abträglich ist. Vielleicht hat er geahnt, dass man dich nicht wieder in den Polizeidienst lässt und gewusst, wie du darauf reagieren wirst. Und das wollte er solange es geht von dir fernhalten.“

„Trotzdem. Ich bin ein Mensch der offen für alles ist. Mir kann man alles sagen, ich kann damit umgehen. Ich dachte er weiß das. Was soll mich denn noch erschüttern?“

Liebevoll legte Franks Mutter ihre Hand an Sarahs Wange.

„Sarah. Na wie es aussieht erschüttert es dich doch gerade.“

„Mich erschüttert…, naja erschüttern ist das falsche Wort, …mich ärgert so was eben. Wenn wir uns lieben, will ich, dass wir eine Einheit sind. Er muss so was nicht von mir fernhalten. Ich kann mich dem schon stellen. Er soll an meiner Seite sein, wenn ich damit umgehe.“

„Das ist er doch. Du musst das nur zulassen.“

Zuversichtlich, vielleicht ein wenig zufriedener als vorher erhob auch Sarah sich. Für einen Augenblick lagen sich die Frauen in den Armen, ohne zu bemerken, dass Franzi mittlerweile neben ihnen stand.

„Können wir jetzt? Mama wartet schon.“

„Mama?“

„Ja. Wir gehen auf den Friedhof.“

„Oh. Na dann geht mal, ich warte hier.“

Franks Mutter wühlte in ihrer Tasche.

„Ich gebe dir meinen Schlüssel, dann kannst du oben warten. Langsam könnte Frank dir ruhig mal…“

„Komm doch mit“, mischte Franzi sich ein. Überrascht schauten die beiden Frauen Franzi an.

„Ich weiß nicht. Ich will euch da nicht stören.“

„Du bist doch jetzt auch so was wie meine Mama. Dann lernt sie dich mal kennen.“

Skeptisch schaute Sarah in das fröhliche Gesicht des kleinen Mädchens. Sie bewunderte sie für ihre Leichtigkeit. Als ob es das Normalste der Welt war, lud sie die Freundin ihres Papas ein, das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Und das mit elf Jahren. Es schien für sie wie selbstverständlich zu sein, dass es da eine neue Frau an der Seite ihres Papas gibt. Das ist das, was Franks Mutter wahrscheinlich meinte: Immer zurückfinden zur Linie, weil man muss. Aber dass ein Kind in dem Alter das schon so verinnerlicht? Fragenden Blickes drehte sich Sarah zu Franks Mutter. Ein kurzes Nicken bestätigte sie in ihrem Entschluss.

„Tja, du siehst, manchmal klappt das sogar bei Kindern.“

*

Ein wenig abseits hatte es sich Sarah auf einer Bank bequem gemacht. Sie beobachtete Franziska, wie sie liebevoll das Grab ihrer Mutter pflegte. Sie wollte sie dabei nicht mit ihrer Anwesenheit bedrängen. Auch Franks Mutter nahm sich ein wenig zurück und ließ Franzi in ihrem Eifer freien Lauf. Ab und zu konnte Sarah erkennen, wie sich Franzis Lippen bewegten. Wahrscheinlich war das der Moment, wo sie, wie sie ihr erzählt hat, heimlich mit ihrer Mutter sprach. Verständnisvoll lächelte Sarah.

Sie genoss die Ruhe, die auf einem Friedhof zwangsläufig herrschte. Noch mal richtig abschalten in der Unwissenheit, was die nächsten Tage wohl bringen werden, starrte sie ziellos umher. Ihr Blick schweifte über die zahllosen Gräber. Ihr fiel auf, dass sie, soweit sie sich erinnern konnte, erst einmal, bei der Beerdigung von Gustavs geliebter Hilde, auf einem Friedhof war. Glücklicherweise musste sie weder in ihrer Familie noch in ihren Jahren bei der Polizei den Tod eines Angehörigen oder Kollegen beklagen. Trotzdem konnte sie sich nicht der ganz eigenen Atmosphäre eines Friedhofes entziehen.

Ihr Blick fiel auf einen jüdischen Grabstein. Der Davidstern erinnerte sie wieder an die Sache mit den Kunstgegenständen. Das Gespräch in Sinas Schlafzimmer, kurz vor dem Richtfest in Glostelitz. Der Moment, wo sie mit Waschkow, Sina und der kleinen Franzi vor dem Grab der Familie Rosenbaum stand. Und da war er wieder, der Augenblick wo sie sich selber eingestehen musste, dass der Fall für sie noch nicht zu Ende war. Lisa hatte Recht. Es ratterte in ihr und sie ahnte bereits, dass die Angelegenheit in Bern mehr verbarg, als es im Moment den Anschein hatte. Sie brannte darauf, die Sache zu Ende zu bringen, mit Frank. Ihrem Frank, ihrem Kommissar. Trotzdem nahm sie sich vor, ihn irgendwann im richtigen Augenblick zu fragen, wie er die Sache mit ihr sieht. Warum nur musste Lisa sie erst wieder darauf stoßen? Warum ist sie von selbst nicht schon auf die Idee gekommen, Frank zu fragen, wie seine Meinung zu ihrem Wunsch ist? Ihrem Wunsch, einfach wieder als Polizistin zu arbeiten. Vielleicht hätte er ihr die Hoffnung genommen, ganz behutsam und einfühlsam, aber vielleicht hätte er ihr damit auch die Enttäuschung erspart, von Kuntz knallhart und kompromisslos mit der Realität konfrontiert zu werden. Sie war sich nicht mehr sicher, ob Frank für sie der Schuldige war. Und wieder kam sie nicht drum herum, sich selbst zu hinterfragen. Sie schloss für einen Moment die Augen. Dass sich neben sie jemand auf die Bank setzte vernahm sie, wollte aber den Augenblick völliger Ruhe noch ein bisschen genießen. Vielleicht brauchte jemand genau wie sie den Moment, um mit seinen Gedanken nur für sich zu sein. Vielleicht sogar Franks Mutter. Das angenehmste an Friedhöfen ist nun mal, dass nicht viel geredet wird.

Sarah verspürte die sanfte Berührung einer Hand. Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf. Neben ihr saß Frank und schaute sie mit einem verstehenden Blick an. Sein Gesicht hatte wieder diesen gewissen Ausdruck, der Sarah ein aufs andere Mal dahinschmelzen ließ. Nein, Frank war nicht der Schuldige. Dieser sanfte Blick aus diesem markant kantigen Männergesicht verhieß so viel Liebe, Einfühlungsvermögen und eben diese gewisse Unsicherheit, die Sarah so anziehend fand. Behutsam strich sie ihm über die Wange.

Seine Bartstoppeln kitzelten an ihren Fingerspitzen. Sie wusste nicht was sie sagen sollte. Ihm sofort verzeihen? Wofür? Hat er was falsch gemacht? Zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts gewesen? Sarah hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Sie wusste ja noch nicht einmal, wem sie an dem ganzen Dilemma die Schuld geben konnte. Sich selbst? Dafür war sie noch nicht bereit. Haagedorn…, ja, dem könnte sie die Schuld geben. Aber der ist tot. Für einen Augenblick fühlte sie sich zurückgeworfen in die Zeit, in der sie eine tiefe seelische Leere umgab, da sie Fragen hatte, was sagen wollte, aber nicht wusste was und vor allem wem. Im Gegensatz zu damals, war sie sich aber eines sicher: Sie wird einen Weg, eine Lösung finden und dieser Frank, ihr Kommissar wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

Sie beobachtete ihn dabei, wie er seinen Blick umherschweifen ließ. Wie es schien, war dieser Ort auch für ihn ein geeigneter Platz, völlig abzuschalten.

„Ich sitze oft hier“, begann er langsam zu reden. „Auch wenn ich mir etwas Angenehmeres vorstellen kann, als regelmäßig auf einem Friedhof zu sein, ist ja nun mal nicht zu ändern, aber Friedhöfe sind für mich immer auch wie ein Spiegel der Zeit. Man spürt förmlich einen Hauch von Kulturgeschichte, Historie, die Architektur der Gräber, vor allem die der alten Familiengräber. Man, ich möchte nicht wissen, was die heutzutage an Bauplänen und statischen Berechnungen einreichen müssten, um so etwas genehmigt zu bekommen. Und dann sind da natürlich die Lebenserzählungen der Verstorbenen. Man muss sich nur die Daten anschauen und schon fragst du dich, wie wohl die Geschichte hinter diesen Zahlen ist.“

Sarah lauschte aufmerksam Franks Gedankengängen. Ein leichtes Unbehagen machte sich bei ihr breit. Mit ihr hier, am Grab seiner verstorbenen Frau, hatte er bestimmt nicht gerechnet. Sie wusste gar nicht, ob ihm das überhaupt recht war. Vielleicht wollte er diesen einen Ort nur für sich und Franzi behalten? Ihn schützen? Als Oase, als Zufluchtsort, wenn es, wie gerade bei ihnen, in einer neuen Beziehung vielleicht mal nicht so läuft wie es soll. Wenn man dem alten Partner nachtrauert, ihn mit dem neuen vergleicht? Sich vielleicht fragt, ob der neue doch nicht der Richtige ist? Wieder kamen ihr Selbstzweifel.

„Ich hoffe es stört dich nicht? Franzi…“

Behutsam wurde sie von Frank unterbrochen, indem er ihr seine Finger auf den Mund legte.

„Wie könnte mich irgendetwas, was mit dir zu tun hat, stören? Du, du bist jetzt ein Teil von meinem Leben. Und von Franzis Leben. Vermutlich war es ihre Idee. Sie redet manchmal mit ihrer Mutter. Ich soll das zwar nicht wissen, aber was wäre ich denn für ein Vater, wenn ich das nicht merken würde. Ich habe es die erste Zeit ja auch getan. Sie wird ihr schon von dir erzählt haben. Ich hatte nur Angst…“ Jetzt unterbrach Sarah ihn.

„Keine Angst. Ich habe dir gesagt, dass es mir wichtig ist, dass es mit uns was wird. Das heißt aber nicht, dass ich alles richtig mache und ich habe auch nicht erwartet, dass du alles richtig machst. Ich weiß auch nicht, was ich jetzt wie sagen muss. Aber ihr Beide seid das Wichtigste in meinem Leben geworden. Also werde ich mich anstrengen. Du musst nur Geduld mit mir haben.“

Vorsichtig zog Frank Sarah zu sich heran. Behutsam strich er ihr übers Haar während er seine Tochter beobachtete. Er hätte Sarah jetzt noch so viel sagen wollen, aber er empfand es als angenehmer, einfach zu genießen, dass sie da war.

*

Leise schlich sich Sarah durch Franziskas angelehnte Zimmertür. Sie war sich nicht sicher, ob sie vielleicht doch schon schlief. Franzi wollte so lange es ging, die Zeit mit Frank und ihr genießen in dem Wissen, beide jetzt ein paar Tage nicht zu sehen. Trotzdem musste sie ihrer Müdigkeit irgendwann Tribut zollen. Frank hatte sie liebevoll ins Bett gebracht, musste ihr aber versprechen, Sarah noch mal vorbeizuschicken. Ihr war das nur recht. Zum einen war die Stimmung, trotz des Gesprächs mit Frank auf dem Friedhof, immer noch gedrückt und irgendwie unbehaglich. Zum anderen lag Sarah noch was auf der Seele, was sie mit Franzi unbedingt klären wollte.

„Franzi?“

„Komm rein. Ich bin noch wach.“

„Beim Abendbrot sah das aber anders aus. Kann ich mich zu dir legen?“

„Klar. Ich weiß doch, dass du hier gerne liegst und dir mit mir meinen Sternenhimmel anschaust.“

Mit einem Schmunzeln legte sich Sarah zu ihr ins Bett. Zusammen verharrten beide, ohne ein Wort zu sagen, den Blick nicht von den zahlreichen kleinen Leuchtdioden an der Decke über Franzis Bett lassend. Sarah fühlte, wie sie langsam die Müdigkeit übermannte. Am liebsten wäre sie gleich eingeschlafen. Den Tag einfach hinter sich lassen. Sie musste an Franzis Worte denken, dass wenn man im Bett liegt, die Welt in Ordnung ist. Das Schlechte kann man hier ganz schnell vergessen und das Gute nochmal Revue passieren lassen. Sarah tat sich aber schwer damit. Den heutigen Tag einfach so vergessen…?

„Hast du dich mit Papa gestritten?“

Sarah drehte sich ihr zu. Was sollte sie jetzt sagen?

„Wie kommst du darauf?“

„Naja, ihr seid heute so anders. Sonst, wenn wir zusammen sind, ist es immer lustiger.“

„Hm? Findest du?“

Jetzt drehte auch Franzi sich Sarah zu.

„Bestimmt verstehe ich das noch nicht, aber gemerkt habe ich das schon. Du musst ja nicht antworten. Hauptsache du bist hier, dann wird es vielleicht nicht so schlimm sein.“

Sarah huschte ein Lächeln übers Gesicht.

„Weißt du noch, als wir uns das erste Mal begrüßt haben, damals, als Papa meine Treppe ganz gemacht hat? Als ich mich vor dich hingehockt habe? Weißt du noch was ich da zu dir gesagt habe?“

„Meinst du, dass man Kindern genau so viel Respekt zeigen soll wie Erwachsenen? Das hat deine Mama dir beigebracht. Und das man sich immer in die Augen schauen soll.“

„Ja, so ungefähr.“

„So richtig weiß ich aber nicht, was Respekt ist. Nur so ein bisschen.“

„Na in unseren Fall heißt das, dass ich eben nicht sagen werde, dass du das noch nicht verstehst. Ich werde versuchen, dir die Sachen so zu erklären, dass du sie vielleicht verstehen kannst. Ich weiß zwar nicht, ob ich das hinbekomme, aber ich werde mich bemühen.“

„Oh, das hat meine Mama auch immer gemacht.“

Zärtlich strich Sarah Franzi übers Gesicht.

„Ja, ich weiß. Das finde ich auch so toll an deiner Mama. Also, gestritten…, ja, ein bisschen. Aber das kriegen wir wieder hin. Weißt du, ich habe eine Vorgeschichte. Das erzähle ich dir aber erst, wenn du größer bist. Das ist nichts Schönes. Das erzählt man auch nur Menschen, die einem wichtig sind. Wenn überhaupt. Aber du bist mir wichtig und wenn es soweit ist, werde ich dir das auch erzählen. Auf alle Fälle habe ich daran noch ganz schön zu knabbern und manchmal will ich das nicht wahrhaben.

Und dein Papa, der weiß genau wie ich manchmal nicht, wie man sich dann richtig verhalten soll, ohne dem Anderen weh zu tun oder zu verletzen. Manchmal will man, dass sich die Welt nach dem richtet, was man selbst will. Das ist aber nicht so. Die Welt, das Leben richtet sich nach keinem.“

„Das sagt Papa auch manchmal.“

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Bestimmt meint er damit, dass es nicht in Ordnung ist, einem Kind die Mutter wegzunehmen. Das ist bestimmt schwer zu verstehen für dich. Wir Erwachsenen verstehen das ja manchmal selber nicht. Aber genau das meine ich. Man muss dann immer irgendwie mit der Situation umgehen, und dein Papa und ich tun uns da gerade ein bisschen schwer. Wir haben verschiedene Ansichten, aber das ist ja das Schöne, dass die Menschen so verschieden sind.“

„Du hast Recht.“

„Womit?“

„So richtig verstehe ich das noch nicht.“

„Ja, das ist manchmal auch ganz gut, wenn man was nicht versteht.“

Für einen Moment, die Hände übereinandergelegt, zwischen dem Kissen und ihren Wangen vergraben, starrten sich die beiden an ohne ein Wort zu reden. Bei Franzi schien die Müdigkeit verflogen. Mit ihren kastanienbraunen Augen musterte sie Sarah. Der lag aber noch immer etwas auf der Seele, worüber sie mit Franzi reden wollte.

„Ich weiß, es ist schon spät, aber ich wollte dir noch was sagen bevor ich mit Papa wegfahre.“

„Na los.“

„Vorhin, vor eurer Haustür, da hast du gesagt, dass ich ja jetzt auch so was wie deine Mama bin.

„Stimmt. Ist das in Ordnung, wenn ich das sage?“

„Oh ja, für mich auf alle Fälle. Das wollte ich dir ja sagen. Ich werde bestimmt nicht den Platz deiner Mama einnehmen können. Alles was ich über sie gehört habe, klang toll. Sie muss eine tolle Mama und bestimmt auch eine tolle Frau für deinen Papa gewesen sein. Ich weiß nicht ob ich auch so ein toller Mensch bin. Ich bin ganz ehrlich, so richtig hatte ich noch nie mit Kindern zu tun. Ich habe oft Angst, Erwartungen nicht erfüllen zu können. Aber ich werde mir Mühe geben und ich will dir auf alle Fälle eine gute Freundin sein. Ich mag dich sehr und ich bin auch ganz stolz darauf, dass ich dich kenne. Es wird aber auch mal passieren, dass wir irgendwann mal nicht derselben Meinung sind. Ich hoffe aber, das kriegen wir dann hin. Genauso, wie wir Erwachsenen das hoffen hinzukriegen.“

Franzi schaute verunsichert. Vielleicht war ihr das doch alles ein bisschen zu viel um diese Uhrzeit. Sie schien genau zu durchdenken, was sie sagen wollte.

„Willst du denn nicht meine Mama sein?“

„Oh! Nein! Ich meine doch! Wie kommst du denn darauf?“

„Das klingt so komisch was du sagst. So ängstlich. Als ob du nicht genau weißt was du machen sollst?“

„Das klingt nicht nur so. Na klar will ich so was wie deine Mutter sein. Dazu gehört aber erstmal, dass dein Papa und ich eine richtig feste Beziehung haben.“

„Habt ihr doch! Wenn Papa frei hat sind wir doch bei dir oder du bist bei uns. Manchmal unternehmen wir was und manchmal faulenzen wir zusammen. Außerdem hat Papa dir doch ein Haus gebaut. Das macht man doch in einer festen Beziehung.“

„Ja schon, stimmt auch wieder, aber nach einem Jahr kann man eben noch nicht wissen, ob das für die Ewigkeit hält.“

„Das Haus? Was Papa baut, das hält für die Ewigkeit.“

„Nein. Ich meine unsere Beziehung.“

„Hast du Angst, weil ihr euch gestritten habt? War das euer erster Streit?“

Sarah dachte nach. Nein. Gestritten oder verschiedener Meinung waren sie schon, bevor sie sich überhaupt nähergekommen sind. Aber eigentlich hatten sie das letzte Jahr ohne große Blessuren überstanden. Was ist aber, wenn es mal richtig kracht zwischen ihnen?

„Ja, ein bisschen habe ich auch Angst. Ich weiß aber nicht, wie ich dir das besser erklären soll.“

„Also ich finde dich toll. Und ich habe auch manchmal Angst. Genau wie meine Mama manchmal Angst hatte. Und Papa hat mir auch schon mal verraten, dass er manchmal Angst hat. Vor allem, dass mir irgendetwas passiert und er vielleicht nicht da ist. Er hat mir aber auch gesagt, dass er froh ist, dass er dich getroffen hat und dass wir beide uns so gut verstehen. Er war sich nämlich nicht sicher, ob ich das gut finde, wenn da auf einmal eine andere Frau bei ihm ist. Meine Mama hat damals aber gesagt, er soll dafür sorgen, dass ich wieder eine Mama kriege. Eine Oma ist eine Oma, aber ein Kind braucht eine Mama. Er sollte ihr das versprechen. Also, wenn das für dich in Ordnung ist, dann bist du so was wie meine Mama. Ihr müsst euch aber wieder vertragen.“

Sarah störte nicht im Geringsten, dass ihr, während sie Franzi aufmerksam zuhörte, eine Träne über die Wange rollte. Ihr verschlug es die Sprache. Was sollte sie auch groß erwidern. Verlegen spielte sie mit Franzis Hand. Die richtete sich langsam auf.

„Wenn du mit Papa dahinfährst, bringt ihr mir was mit?“

„Aus der Schweiz? Na mal sehen? Was könnten wir dir denn da mitbringen?“

„Ich weiß nicht. Was gibt’s denn da?“

„Hm? Schokolade, Käse, teure Uhren…, mal sehen, wir finden bestimmt was. Weißt du denn wo die Schweiz liegt?“

„Ich habe mir mit Oma eine Karte angesehen. Ist nicht weit. Ist ein ganz kleines Land. Oma sagt, dass ist das einzige Land auf der Welt, dass keine richtige Hauptstadt hat.“

„Was? Aber Bern ist doch die Hauptstadt?“

„Sie sagt, Bern ist die Stadt wo die wichtigen Leute sitzen, aber eigentlich haben die keine richtige Hauptstadt. Sie sagt, das ist für mich noch zu schwer, um es zu verstehen und dass die meisten Erwachsenen das auch nicht wissen. Die Armen…, haben nicht mal ne Hauptstadt.“

„Da kannst du mal sehen, wie schlau deine Oma ist. Ich habe das auch nicht gewusst.“

„Warst du schon mal da?“

„In der Schweiz? Ja, mit Lisa zum Skifahren. Die haben da ganz viele Berge. Die haben da sogar den höchsten Berg Europas. Da war es aber sau teuer. Oh…“

Franzi kicherte los.

„Ich will auch mal Skifahren. Ist aber bestimmt schwer?“

„Na dann sollten wir das mal machen. Das lernst du ganz schnell. Umso so kleiner man ist, umso besser lernt man das. Aber heutzutage fahren Mädchen wie du lieber mit einem Snowboard. Da hast du dann keine Skier, sondern so ein Brett, wo du mit beiden Füßen draufstehst. Das ist cooler. Da werden dir dann die Jungs hinterherpfeifen.“

„Kannst du das auch?“

„Nee.“

„Und Lisa?“

„Auch nicht. Lisa sagt immer, wenn der liebe Gott gewollt hätte, dass wir auf so einem Stullenbrett stehen, dann hätte er uns nicht zwei Beine gegeben.“

„Verstehe ich nicht.“

„Ach, ist nur so ein Spruch.“

„Aber du versprichst mir, dass wir das machen…, und dass ihr euch wieder vertragt?“

„Dann versprichst du mir aber, dass du jetzt schläfst, und…, dass du zu mir kommst und mit mir redest, wenn dich was bedrückt.“

Ohne zu antworten legte Franzi ihre beiden Arme um Sarah. „Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch! Schön dass wir das geklärt haben. Schlaf jetzt.“

„Bleibst du noch ein bisschen hier?“

Sarah schüttelte Franzis Kissen auf und legte sich zu ihr.

„Na klar.“

Es dauerte nicht lange, bis Sarah unter Franziskas wohlwollender Beobachtung vor Müdigkeit die Augen zufielen. Sie kriegte nicht einmal mehr mit, wie Frank einen Finger vor den Mund haltend, seiner Tochter zublinzelte und leise die Tür zuzog.

Totenwache 2.Teil

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