Читать книгу Die verzauberte Geige - Tone Kjærnli - Страница 7
Drittes Kapitel in dem Johannes sinkt
ОглавлениеJohannes rollte sich am Fuße der Treppe zusammen. Durch die Glastür weiter oben konnte er Kyrre und die anderen vorbeirennen sehen. Johannes atmete erleichtert auf und rieb sich die Stirn, wo sich schon eine Beule bildete. Es tat weh, wenn er sie anfasste. Am Ellbogen hatte er sich auch wehgetan. Der ganze Arm war gefühllos. Johannes’ Augen füllten sich plötzlich mit Wasser. Nur nicht heulen! Nicht hier, nicht in einem Geschäft, das voll war mit ... Plötzlich wurde ihm klar, dass er ganz allein im Geschäft war. Er zwinkerte ein paar Mal und sah sich dann um.
Das Geschäft war nicht groß und ziemlich dunkel. Ein dunkelbraun-gelber Samtvorhang hing hinter einem massiven Tresen am Ende des Raums. Der Tresen war staubig, als würde er nie benutzt werden. Die Wände waren rot, mit einem feinen Muster auf der Tapete. Johannes erinnerten die Muster an Schriftzeichen, vielleicht arabische oder indische? Bis auf einen schweren Schrank und zwei tiefe Sessel war der Raum leer.
Was für em Geschäft konnte das sein? So weit Johannes sehen konnte, gab es hier ja nichts zu verkaufen. Und warum war es so dunkel? War der Strom ausgefallen? Johannes guckte zur Decke, wo ein großer Kronleuchter aus Schmiedeeisen hing, so einer, in den man Kerzen steckt. Der musste sich gedreht haben oder er war irgendwie kaputtgegangen, denn die nicht angezündeten Kerzen hingen mit dem Kopf nach unten.
Johannes warf einen Blick auf die Glastür, durch die er gerade eben hereingestolpert war. REUABNEGIEG, stand auf der Tür. REUABNEGIEG?
»Ja bitte?«, erklang es plötzlich hinter ihm. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«
Johannes drehte sich um. Hinterm Tresen stand ein kleiner alter Mann, sein Gesicht war verschrumpelt wie eine Rosine und er hatte graues, wirres Haar, das er vergeblich mit einem kleinen Knoten im Nacken hatte zähmen wollen. Johannes konnte nicht sehen, wo er hergekommen war. Es musste noch ein Zimmer hinter dem Vorhang geben. »Kann ich irgendwie behilflich sein?«, fragte der Mann noch einmal. Er blinzelte Johannes freundlich und zugleich neugierig aus Augen an, die so dicht zusammenstanden, dass es schien, als würde er schielen.
»Nein, ich ... ich habe mich wohl verirrt«, sagte Johannes. »Entschuldigung.«
»Das kann jedem mal passieren«, nickte der Mann. »Man selbst hat auch schon Fehler gemacht. Große und kleine. Aber wundere dich nicht, wenn es sich hinterher zeigt, dass die Fehler doch das einzig Richtige waren. Das hat man inzwischen gelernt.«
»Ja, danke«, sagte Johannes ohne auch nur einen blassen Schimmer zu haben, was der Alte eigentlich meinte. Er ging die drei Treppenstufen zur Glastür hoch. Aber als er hinausgehen wollte, hörte er draußen die Stimmen von Kyrre und den anderen, worauf er unentschlossen stehen blieb.
»Vielleicht kann man doch irgendwie behilflich sein?« Der ulkige alte Mann folgte Johannes’ Blick auf die Straße, wo Kyrre mit dem Rücken zu ihnen stand und sich gestikulierend mit seinen Kumpanen beriet. »Die Augen sind nicht mehr so gut, aber man hört ausgezeichnet. Da draußen sucht jemand jemanden, oder?« Johannes nickte.
»Dich, vermute ich einmal?«
Johannes nickte wieder. Der alte Mann zog die Augenbrauen hoch.
»Was hast du gemacht?«
»Gar nichts. Sie wollten mich kriegen und ... da bin ich weggerannt.«
»Ach so. Das war vernünftig. Das Gleiche hätte man auch getan.«
Der alte Mann kam hinterm Tresen hervor und Johannes sah zu seinem Schrecken, dass der Mann nicht größer war als er selbst. Johannes wollte ihn nicht anstarren. Mit wachsender Wut fühlte er, wie seine Ohren heiß wurden. Er suchte nach einer Stelle, wohin er seinen Blick richten konnte. Er landete auf dem einen Sessel. »Haben die gesehen, dass du hier reingegangen bist?« Der alte Mann flüsterte jetzt.
»Nein.«
»Dann sind sie bestimmt gleich weg.«
Eine Zeit lang sagte keiner von beiden etwas, sie horchten nur auf die aufgeregten Stimmen draußen. Dann fragte der Mann leise: »Warum wollten sie dich kriegen?«
»Ach«, sagte Johannes. »Die ... die haben mich geärgert. Deshalb.«
Er hob den Schirm hoch.
»Wie schon gesagt, ich kann nicht gut sehen. Die Augen sind nicht mehr das, was sie mal waren. Was ist das?«
»Ein Damenschirm.«
»Aha. Ein Damenschirm. Zum Schutz gegen Regen, wie ich annehme. Das erscheint mir an einem Tag wie diesem nur vernünftig. Ist das nicht erlaubt? Einen Damenschirm zu benutzen, wenn es regnet?«
»Doch«, sagte Johannes. »Aber ich bin ja nun ... ähm ... ich bin ja nun nicht gerade eine Dame, nicht wahr.«
»Du meinst damit, dass es Jungs nicht erlaubt ist, Damenschirme zu benutzen? Hängt das so zusammen?«
»Nein, aber ... also, irgendwie ... manche finden das komisch. Und dann ärgern sie einen.«
Der alte Mann schnaubte. »Idiotisch, wenn man mich fragt. Komm, setzen wir uns. Diese Sessel sind für Bekenntnisse wie geschaffen.«
Der Typ ist ja reichlich schrullig, dachte Johannes. Aber er setzte sich trotzdem. Oder er sank vielmehr. Er sank in den weichsten Sessel, in dem er jemals gesessen hatte.
»Aber das ist nicht alles«, platzte es aus Johannes heraus. »Sie ärgern mich auch wegen anderer Sachen.«
»Wirklich? Erzähl!«
Johannes wand sich, es war ihm peinlich. »Ach. Da ist so einiges. Zum Beispiel, weil ich für mein Alter ein bisschen klein bin.«
Er hätte sich die Zunge abbeißen können. Das konnte er doch keinem zumuten, der selbst so was wie ein Zwerg war! Der Mann versank ja fast in seinem langen grauen Mantel. Schnell fuhr Johannes fort: »Und wegen der Sachen, die ich manchmal sage.«
»Ach ja? Was sagst du denn?«
»Nichts Besonderes. Nur wenn ich einfach so träume. Dann denke ich mir eben was aus. Und dann antworte ich aus dem blauen Dunst heraus. Kyrre sagt, ich bin dann Bzzz klick. Aber am meisten ärgern sie mich wegen der Geige.«
Als Johannes Geige sagte, geschah etwas Merkwürdiges. Der Mann erstarrte und holte tief Luft, bevor er schnell wiederholte: »Geige ...«
»Ja«, nickte Johannes. »Ich habe schon ein paar Mal überlegt, ob ich nicht aufhören soll. Das macht nämlich keinen Spaß, wenn man die ganze Zeit geärgert wird deswegen. Sie nennen mich Geigenhansel. Den Geigenhansel mit der Fiedel.«
Der alte Mann griff sich an den Hals. »Geigenhansel!«
»Ja«, bestätigte Johannes. »Aber so heiße ich natürlich nicht. Ich heiße ...«
Der Alte unterbrach ihn. »Geigenhansel! Ist das wirklich wahr?«
»Doch, ja.« Johannes nickte. »Ja, leider.«
Jetzt starrte der Mann ihn mit so großen Augen an, dass es ganz unangenehm war. Johannes guckte aus dem Fenster. Er konnte Kyrre und die anderen nicht mehr sehen oder hören. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen.
»Nun ja, ich muss jetzt wohl los«, sagte Johannes. »Vielen Dank für ...« Er zögerte einen Moment, denn er wusste nicht so recht, wofür er sich eigentlich bedanken sollte. »... für die Hilfe«, sagte er schließlich und wollte gehen.
»Warte mal!« Die Stimme des alten Mannes zitterte. »Lass dich genauer ansehen! Wenn ich nur meine Brille finden könnte! Diese verfluchten Augen ...« Er suchte im ganzen Raum, wobei er sich nervös an den Fingern zupfte und vor sich hin murmelte. Als er Johannes den Rücken zuwandte, entdeckte dieser eine merkwürdige runde Brille, die der Alte an einer Schnur um den Hals hängen hatte. »Sie haben sie auf dem Rücken hängen«, erklärte Johannes und bereute es sofort. Er hatte absolut keine Lust, noch weiter angestarrt zu werden. Aber er war zu höflich und zu unsicher, um einfach so davonzugehen. Er blieb wie ein Dummkopf mit brennenden Ohren und klopfendem Herzen stehen.
»Wie ist die denn dahin gekommen«, seufzte der Alte, während er die Brille an den rechten Platz schob. »So. Lass mich mal sehen.« Er musterte Johannes’ Gesicht und hielt bei der Beule auf der Stirn inne. Seine Augen weiteten sich und er wurde blass.
»Das Zeichen ...«, flüsterte er. »Das Zeichen des Einhorns.«
»Nein«, widersprach Johannes. »Ich bin die Treppe runtergefallen.«
»Und dein Arm? Wie geht es dem?« Der Alte fasste seine Schulter an, umklammerte sie mit seinen Fingern, als wäre seine Hand eine Klaue.
»Er ist noch ein bisschen taub«, sagte Johannes. Das Ganze gefiel ihm nicht. Er versuchte aufzustehen, aber der kleine Mann drückte ihn wieder in die Polster.
»Taub? Ja, das glaube ich gern. Das ist eine Tragödie.«
»Na, das ist wohl etwas übertrieben«, murmelte Johannes.
Der Alte ließ ihn empört los.
»Übertrieben? Sag mal, hast du nicht gemerkt, wie ernst das ist?«
Johannes sprang auf. Der Typ war ja total plemplem, da gab’s keinen Zweifel. Lieber wollte er so schnell wie möglich hier rauskommen, bevor dem Kerl noch etwas wirklich Verrücktes einfiel. Jetzt wollte er Johannes schon wieder mit seinen Fingern packen ... Johannes entwischte und nahm Kurs auf die Treppe. »Tschüs«, sagte er schnell.
Der alte Mann bekam nur Luft zu fassen. Er lief hinterher, aber Johannes war zu schnell. Eins, zwei, drei und Johannes war an der Tür.
»Geigenhansel! Warte doch! Ich habe etwas für dich! Ich habe ...«
Aber Johannes hörte nicht, was der Alte hatte. Er war bereits aus dem Geschäft hinausgelaufen. Auf der anderen Straßenseite drehte er sich um. Jetzt konnte er sehen, was auf der Tür stand. GEIGENBAUER, stand da. Hatte der Typ deshalb so sonderbar reagiert, als Johannes ihm erzählte, dass er Geige spielte? Über den Buchstaben waren drei Halbmonde gemalt. Ein gelber, ein weißer und ein blauer. Komischer Ort. Komischer Kerl. Ein alter, verrückter Zwerg! Johannes lief es eiskalt über den Rücken. Es hatte aufgehört zu regnen. Der Himmel leuchtete rosa und es wurde allmählich dunkler. Johannes guckte auf seine Uhr. Schon vier! Wie konnte es nur schon so spät sein? So lange war er doch nun auch nicht bei dem Geigenbauer gewesen? Jetzt warteten sie bestimmt schon auf ihn. Sie wollten doch zu Großmutters Geburtstag.
Johannes beeilte sich nach Hause zu kommen. Erst als er auf dem Flur stand und sich die Stiefel auszog, wurde ihm klar, dass er Mutters Schirm vergessen hatte.