Читать книгу Die verzauberte Geige - Tone Kjærnli - Страница 9
Fünftes Kapitel in dem Johannes von einem Einkaufswagen überfahren wird
ОглавлениеErst auf dem Weg zur Schule fiel es Johannes ein, dass er heute ja gar nicht zur Schule gehen konnte. Das heißt, ihm selbst fiel es gar nicht ein. Sondern Camilla. Ab und zu trafen sich Johannes und Camilla an der letzten Kreuzung vor der Schule. Fast immer ging sie mit jemand anderem. Mit Grete aus ihrer Klasse oder anderen Mädchen, die er nicht kannte. Normalerweise war sie so beschäftigt mit den anderen, dass sie ihn gar nicht bemerkte.
Aber es war auch schon vorgekommen, dass sie allein ging. Dann waren sie zusammen weitergegangen. Jedenfalls gefiel Johannes der Gedanke, dass sie das taten. Auch wenn sie nie viel miteinander geredet hatten und Johannes irgendwie immer ein bisschen hinter Camilla lief.
Heute war Camilla allein. Johannes fühlte, wie sein dummes Herz fürchterlich zu klopfen anfing. Dann hörte es fast auf zu schlagen, als sie ihn mit den blauesten Augen der Welt direkt anguckte und sagte:
»Meine Güte, was hast du da für eine Beule!«
»Ich? Ach so«, sagte Johannes und fasste sich an die Stirn.
»Musst du nicht heute zum Arzt?« Sie strich sich das glänzende braune Haar hinter ein Ohr.
Johannes zögerte.
»Oder gehst du doch nicht zum Arzt? Dann hätte ich jedenfalls heute nicht zur Eule gehen müssen. Das war wirklich gemein.«
»Aber ich muss zum Arzt!«, erklärte Johannes schnell. »Ich bin auf dem Weg dorthin. Ich muss den Bus nehmen ... den von der Haltestelle da an der Ecke!«
Jetzt, wo er erst einmal angefangen hatte, konnte er gar nicht mehr aufhören. Er fügte hinzu: »Vielleicht muss ich sogar ins Krankenhaus.«
Camilla sah ihn interessiert an.
»Ins Krankenhaus?«
Jetzt hatte er sich verrannt.
»Mmh. Aber das ist noch nicht sicher.«
»Was fehlt dir denn?«
Ja, was fehlte ihm eigentlich? Was konnte ihm nur fehlen? Das ganze Blut schoss ihm in die Ohren. Er zog seine Schultern leicht hoch, damit die Ohren nicht so gut zu sehen waren.
»Du kriegst vielleicht rote Ohren«, sagte Camilla.
»Genau das ist es ja«, nickte Johannes.
»Was ist das?«
»Das ist das Symptom.«
»Rote Ohren? Das Symptom wofür?«
»Für Purpurohrenitis.«
Woher hatte er das denn jetzt? Es war ihm einfach rausgerutscht. Seine Ohren wurden noch röter. Purpurrot!
»Purpurohrenitis?«
»Das ist eine ganz seltene Krankheit.«
»Oh!« Camilla machte einen Schritt nach hinten. »Ist die gefährlich?«
»Sie ist definitiv nicht ansteckend«, erklärte Johannes.
»Aber die Krankheit kann ... ähm ... gefährlich sein.« Er musste ja total verrückt sein. Hatte er nicht einmal mehr genug Grips im Kopf, um zu wissen, wann es an der Zeit war, aufzuhören? Aber sein Mund plapperte von ganz allein weiter, er erklärte: »Die rote Farbe ist das erste Stadium. Danach folgen verminderte Hörfähigkeit, Fieberfantasien und im schlimmsten Fall ...«
Nun, was folgte im schlimmsten Fall? Camilla starrte ihn in einer Mischung aus Abscheu und Mitleid an. Er fühlte sich wirklich nicht sehr wohl.
Die Rettung kam in Form eines Busses.
»Da kommt der Bus! Tschüs!«
Er lief los. Nur gut, dass er Geld in der Tasche hatte, dreißig Kronen, wenn er sich nicht irrte. Camilla rief ihm etwas nach. Das ging im Lärm des Busses unter. Er drehte sich um und hob die Hand, womit er ein munteres und tapferes Tschüs andeuten wollte.
Blödmann, dachte Johannes, während er durch die schmutzigen Fensterscheiben hinausstarrte. Jetzt wird Camilla das der ganzen Klasse erzählen. Und eine Entschuldigung brauche ich auch. Er stöhnte. So was Blödes! So was so verflucht, verdammt, verflixt und zugenäht Blödes! Und alles nur, weil ich gestern so vollkommen verdattert war, als die Eule dastand und so eklig aussah. Aber jetzt wird alles nur noch schlimmer! Er stöhnte wieder.
»Bist du krank, mein Junge?«, fragte ihn eine Dame besorgt, die neben ihm saß.
»Ja«, nickte Johannes. »Im Kopf.«
»Oje«, sagte die Dame. »Das ist aber nicht schön.«
»Nein«, bestätigte Johannes. »Das ist wirklich nicht schön. Das ist ziemlich schlimm. Total katastrophal.«
»Oje«, sagte die Dame wieder und sah aus, als wollte sie ihm über den Kopf streicheln. Genau in dem Moment hielt glücklicherweise der Bus an und Johannes konnte dem Kopfstreicheln entkommen.
Einige Kinder schwänzen die Schule voller Freude und Erfindungsreichtum. Die meisten jubeln, wenn sie unerwartet einen freien Tag bekommen. Johannes hatte noch nie geschwänzt, er freute sich ganz und gar nicht und es konnte ihm nicht einmal im Halbschlaf einfallen, zu jubeln. Er blieb mit hängenden Armen an der Bushaltestelle stehen. Dort stand er eine ganze Weile. Man konnte meinen, er denke nach, aber das tat er nicht. Er hatte aufgehört zu denken und fühlte sich innerlich ganz leer. Ein Auto fuhr vorbei, durch eine Riesenpfütze, die noch vom gestrigen Regenwetter übrig war, und ließ eine Dreckwelle über Johannes’ Hosenbeine schwappen. Das brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Hier kann ich jedenfalls nicht stehen bleiben, dachte er. Er ging los.
Es war jetzt neun Uhr. Noch fünfeinhalb Stunden bis halb drei. Fünfeinhalb Stunden, um nichts zu tun. Nach Hause konnte er nicht gehen, denn da saß Vater und schrieb.
Johannes lief ein bisschen auf gut Glück herum und schaute sich die Schaufenster an. Er ging in einen Buchladen und blätterte ein paar Bücher durch, die einigermaßen interessant aussahen. Er fand Vaters letztes Buch und fühlte, wie es in ihm prickelte, ein bisschen Stolz stieg in ihm auf.
Er erinnerte sich daran, wie glücklich sein Vater gewesen war, als das Buch angenommen wurde. Mutter hatte sich auch gefreut, beide waren zusammen richtig fröhlich gewesen. Vater hatte eine Flasche Schampus gekauft und den Korken knallen lassen, dass er an die Decke flog. Mutter hatte nur gelacht, als es aus der Flasche auf den weißen Teppich schäumte, statt wie sonst hysterisch aufzuschreien. Dann hatte Vater seinen Job als Lehrer gekündigt. Das war jetzt ein Jahr her.
Es war schon komisch, hier mit Vaters Buch in den Händen zu stehen, ganz heimlich der Sohn des Schriftstellers zu sein. Aber plötzlich bekam er Angst, auf frischer Tat ertappt zu werden, obwohl er doch gar nichts Falsches gemacht hatte. Schnell stellte er das Buch wieder dorthin zurück, wo er es gefunden hatte.
Er guckte sich einige Puzzlespiele an und schnüffelte an ein paar Radiergummis. Er fummelte an einem albernen Bleistiftanspitzer herum, der so aussehen sollte wie eine Pistole. Er öffnete eine Federtasche mit einem Dinosaurier drauf und zehn Filzstiften drin.
»Möchtest du etwas kaufen?«, fragte eine unfreundliche Stimme hinter ihm. Sie gehörte einer Dame, die aussah wie Boris Jelzin oder wie immer er auch hieß, der Präsident von Russland.
»Ich weiß nicht«, antwortete Johannes, »vielleicht.«
Er zupfte an einem Bleistift mit Mickymaus an dem einen Ende, während ihm die Dame in den Nacken pustete. Pust, pust, brauchst gar nicht zu glauben, dass du hier was klauen kannst, du Schulschwänzer. Johannes konnte ihre Gedanken sozusagen durch ihr Atmen hören.
»Suchst du was für die Schule?«
Johannes legte den Bleistift hin und ging hinaus.
Die Uhr zeigte neun Uhr neunzehn.
Vor einer Konditorei blieb er stehen und drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Ein ganzes Heer leckerer Kuchen war aufmarschiert und rief ihn zu sich. Napoleonskuchen und Kopenhagener, Käsekuchen und Schokoladenecken. Johannes merkte, dass er Hunger hatte, obwohl er doch erst vor einer Stunde gefrühstückt hatte. Vielleicht reichte sein Geld ja für einen Käsekuchen. Er ging hinein.
»Zwölf fünfzig«, sagte die Frau hinter dem Tresen. Dann hatte er nicht mehr genug für den Bus nach Hause. Aber er konnte ja auch zu Fuß nach Hause gehen. Zeit genug hatte er schließlich. »Zum Hieressen?«, fragte die Frau. Johannes nickte, bezahlte und setzte sich an einen Tisch in der Nähe des Fensters.
In einer Ecke saßen zwei alte Damen. Sie saßen ganz still ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ab und zu hoben sie mit zitternden Händen ihre Kaffeetassen und tranken daraus. Schlürf, erklang es. Johannes hatte das Gefühl, sie würden ihn anstarren. Er guckte aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite ging eine alte Frau in grauem Hut und Mantel. Eine andere alte Frau mit rot kariertem Einkaufswagen und schiefer Brille blieb vor dem Schaufenster der Konditorei stehen und guckte hinein, sie sah Johannes direkt in die Augen. Sie sah verkniffen aus. Wusste sie, dass er schwänzte? Er guckte auf seinen Teller und biss von seinem Kuchen ab. Schlürf, erklang es vom Ecktisch. Ganz bestimmt guckten sie ihn an, die beiden Schlürferinnen.
Alle anderen sind bei ihrem Job, dachte Johannes. Bei der Arbeit oder in der Schule. Nur ein paar alte Frauen sind unterwegs und vertreiben sich die Zeit um ... er guckte auf seine Uhr ... um neun Uhr fünfunddreißig an einem gewöhnlichen Alltag. Alte Frauen. Und ich. Schlürf. Johannes aß von seinem Kuchen. Die Frau hinterm Tresen gähnte verstohlen.
Die verkniffene Frau versuchte hereinzukommen. Das war nicht so leicht, denn die ganze Zeit war ihr die Einkaufstasche auf Rollen im Weg. Johannes stand auf und hielt ihr die Tür auf. Sie drückte ihn gegen den Türrahmen und fuhr ihm mit ihrer Einkaufstasche über den Fuß. Und sie sagte nicht einmal Danke. Johannes setzte sich wieder hin.
»Was soll’s sein?«, schrie die Frau hinterm Tresen, als ginge sie davon aus, dass alte Frauen mit Brille immer schlecht hören.
Die Frau zeigte auf den Tresen und murmelte etwas. »Eine Makrone«, schrie die Verkäuferin.
Johannes fiel der Löffel auf den Boden. Die Frauen in der Ecke hörten auf zu schlürfen, die alte Frau mit der rollenden Einkaufstasche drehte sich um und die Verkäuferin sah ihn an. Sie sahen ihn alle an. Aha. Ein Schulschwänzer. Johannes ließ Käsekuchen Käsekuchen sein und sah zu, dass er rauskam. Die Uhr zeigte neun Uhr vierzig. Das halte ich nicht aus, dachte Johannes. Er ging nach Hause. Er würde seinem Vater sagen, dass er krank geworden war oder so etwas. Vater fragte normalerweise nicht so genau nach.
Es dauerte länger, als er gedacht hatte. Er war bereits zwanzig Minuten gegangen und wurde langsam müde und immer noch war ein ziemliches Stück zu gehen. Er kam wieder an einem Café vorbei und warf einen gleichgültigen Blick durchs Fenster. Kurz sah er sein eigenes Spiegelbild und drinnen eine alte Frau und seinen Vater sitzen.
Vater? Johannes blieb stehen, machte dann jedoch einen Satz und hüpfte zur Seite, damit er von innen nicht zu sehen war. Vorsichtig reckte er den Hals und guckte nur mit einem Auge durchs Fenster hinein.
Tatsächlich, das war Vater. Er saß allein an einem Tisch und trank Kaffee. Einen Augenblick lang wollte Johannes einfach hineingehen, sich neben Vater auf den Stuhl fallen lassen, ihm auf die Schulter klopfen und »Hallo« sagen. Und dann dessen Reaktion abwarten. Vater würde sich garantiert am Kaffee verschlucken. Und dann könnte Johannes auch gleich alles erzählen.
Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Etwas an der Art, wie Vater dasaß. Er saß so komisch da, irgendwie so traurig, als wäre er nur ein leerer Sack, den jemand einfach weggeworfen und vergessen hatte. Johannes mochte ihn nicht so sehen, es machte ihm Angst.
Er konnte ja reingehen und fragen, was los war, warum Vater hier so traurig herumhing, wo er doch eigentlich zu Hause sein und fröhlich schreiben sollte. Er tat es nicht. Stattdessen blieb er halb verborgen stehen und spionierte ihm nach. Und je länger er dort stand, umso schwieriger wurde es, einfach hineinzugehen und sich zu erkennen zu geben.
Nach einer Weile, die Johannes wie eine Ewigkeit erschien, stand Vater auf. Johannes wich zurück und suchte nach einer Möglichkeit, sich zu verstecken. Etwas weiter hinten stand ein riesiger Container. Johannes stürzte auf ihn zu. Im sicheren Schatten des Containers sah er, wie sein Vater auf die Straße kam.
Vater guckte sich um, als könnte er sich nicht entschließen, wohin er eigentlich gehen wollte. Dann ging er nach rechts, in die Richtung, aus der Johannes gekommen war. Johannes schlich ihm vorsichtig hinterher. Ab und zu blieb Vater stehen und guckte sich ein Schaufenster an. Dann sprang Johannes schnell hinter einen Mülleimer oder presste sich, so gut er konnte, gegen eine Wand. Ihm wurde klar, dass sein Vater genauso herumlief wie er selbst, er bummelte einfach, um die Zeit totzuschlagen. Und Johannes hatte das Gefühl, er hätte etwas gesehen, was er eigentlich nicht sehen sollte.
Vater ging in ein Schuhgeschäft, kam jedoch wieder heraus ohne etwas gekauft zu haben. Er ging langsam weiter in Richtung Zentrum. Johannes blieb stehen und sah ihm eine Weile nach. Dann drehte er sich um und ging nach Hause.
Als er wieder am Café vorbeikam, kam ihm plötzlich eine Idee. Er ging hinein, zum Tresen.
»Der Mann, der vorhin hier gesessen hat. Da hinten.«
»Was soll mit dem sein?«
»Er sieht genau aus wie jemand, den ich kenne. Aber ich dachte, er würde zu dieser Tageszeit arbeiten.«
»Ach ja? Nein, der Mann, der da saß, ist jeden Tag hier. Er kommt meistens ziemlich früh und sitzt hier den ganzen Tag mit Zeitungen oder einem Buch. Er ist bestimmt arbeitslos.«
»Dann habe ich mich geirrt«, sagte Johannes.
Daheim schloss Johannes die Tür auf. Er ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Und noch eins. Er lief auf Zehenspitzen, obwohl er wusste, dass niemand zu Hause war. Schließlich schlich er in Vaters Arbeitszimmer. Wie konnte Vater denn überhaupt etwas schreiben, wenn er wie ein schlaffer Sack im Café saß? Und das jeden Tag?
In der Schreibmaschine steckte kein Blatt Papier. Auch auf dem Schreibtisch lag kein Papier.
Johannes öffnete die Schreibtischschublade. Er fand einen winzigen Stapel beschriebenes Papier und blätterte ihn schnell durch. Vieles war durchgestrichen. War das alles, was Vater seit einem Jahr zu Stande gebracht hatte? Mehr nicht? Johannes durchsuchte alle Schubladen. Es gab keine weiteren Seiten.
Johannes legte den kleinen Stapel wieder zurück, ging auf sein Zimmer und legte sich aufs Bett. Die Uhr zeigte elf Uhr null zwei. Er schloss die Augen und ließ die Farben tanzen. Dann schlief er ein.